Читать книгу Arlo Finch (3). Im Königreich der Schatten - John August - Страница 15
ОглавлениеSTAATSFEINDE
Das Apartment ihres Vaters war so klein, dass man kaum beide Arme darin ausstrecken konnte.
Jaycee hatte es nach ihrem Besuch im Sommer beschrieben, doch Arlo hatte angenommen, sie würde übertreiben. Eher aber hatte sie untertrieben – es war mehr Zelle als Wohnung, darin nicht mehr als ein Bett, ein Tisch und ein Regal unter dem Fenster, auf dem eine Mikrowelle und ein Reiskocher standen. Das Badezimmer lag am Ende des Flurs. Ihr Dad musste es sich mit allen Bewohnern des Stockwerks teilen.
Arlo, Jaycee und Wu beobachteten von der Tür aus, wie Clark Finch eilig seinen Laptop und ein paar Festplatten in einen Leinenrucksack warf. Draußen war ein Gewitter aufgezogen.
»Wir haben unsere Handys nicht angemacht«, sagte Arlo. »Wir wollten keine digitalen Fußabdrücke hinterlassen.«
»Das ist gut«, sagte Clark. »Hat euch irgendjemand nach eurem Namen oder nach euren Ausweisen gefragt?«
»Nein«, sagte Arlo. »Wir haben im Park mit ein paar Rangern geredet, unsere Namen haben wir ihnen aber nicht genannt, oder?« Nach Bestätigung suchend, sah er zu Wu.
»Wir haben nur gesagt, dass wir aus Colorado kommen«, sagte Wu.
Clark warf einen Blick auf die Familienfotos, die an der Wand klebten, riss eines davon ab und gab es Arlo. »Ist das irgendwo online?« Das Foto zeigte den Blauen Trupp nach dem Ehrengericht im Winter, als Arlo sein Eichhörnchen-Abzeichen bekommen hatte. Arlo hatte die Namen seiner Freunde dazugeschrieben, damit sein Dad wusste, wovon er sprach.
Arlo seufzte. »Ja. Ich bin sicher, es ist auf der Website.« Es würde nicht schwer sein, sie alle zu identifizieren.
»Es waren auch nicht nur die Ranger im Park«, sagte Jaycee. »Da war noch der Taxifahrer.«
Das schien Clark zu beunruhigen. »Hatte er ein Navi? Hat er diese Adresse eingegeben?«
Arlo versuchte, sich an das Armaturenbrett des Taxis zu erinnern. Er konnte das Taxameter und das Handy des Fahrers in der Halterung vor sich sehen. Aber war da eine Karte gewesen? Er wusste es nicht mehr.
»Ich glaube nicht, dass ich ihm die Adresse genannt habe, nur die Gegend«, sagte Wu.
»Spielt das überhaupt eine Rolle?«, fragte Jaycee. »Ich dachte, nur die Amerikaner wären hinter dir her.«
Clark öffnete die Mikrowelle und legte ein paar kleine elektronische Geräte und USB-Sticks hinein. »Um mich mache ich mir keine Sorgen. Ihr drei seid ohne Visa, ohne irgendwelche Papiere im Land. Die Behörden könnten euch einsperren und es gäbe keine Möglichkeit, euch rauszuholen. Sie könnten behaupten, euch gar nicht in Haft zu haben.«
»Es ist alles okay«, sagte Arlo. »Ernsthaft. Wir müssen nur zurück zu diesem Park, dann kann ich uns durch die Long Woods bringen.«
Clark Finch schloss die Klappe der Mikrowelle. »Ich verstehe immer noch nicht, was du mit ›Long Woods‹ meinst. Ist das eine Gruppe oder ein Schiff oder was? Ich muss wissen, wo wir hingehen.«
Jaycee nahm ihren Vater am Arm. »Sieh mal, Dad, ich verstehe es auch nicht. Aber ich verstehe auch deinen Computerkram nicht. Ich weiß nur, dass es real ist und funktioniert. Du musst Arlo vertrauen. Er kann das.«
Arlo spürte, dass er rot wurde. Noch nie hatte er seine Schwester so über sich reden hören.
Clark drehte am Schalter der Mikrowelle. Fast augenblicklich zischte und knallte es darin. Die empfindlichen elektronischen Geräte begannen zu schmelzen. Für die Behörden würde es unmöglich sein, die gespeicherten Daten auszulesen.
Clark Finch musterte seinen Sohn. »Also gut. Gehen wir zu diesen Woods.«
Die Hintertreppe endete an einer Stahltür, die auf eine schmale Gasse führte. Clark bedeutete den dreien, sich im Hintergrund zu halten, dann streckte er den Kopf raus und zog ihn gleich wieder ein. »Auf der Straße ist Polizei.«
»Wegen uns?«, fragte Wu.
»Könnte auch etwas anderes sein. Wir sollten …« Das Kreischen einer Sirene ließ ihn innehalten. Ein Motorrad donnerte in die Gasse. Seine rotblauen Lichter spiegelten sich in einer Regenpfütze vor der Tür. Clark Finch zog sie zu und schloss ab.
Gleich darauf rüttelte ein Polizist von außen an ihr und stellte fest, dass sie verriegelt war. Dann folgte ein Wortschwall auf Chinesisch aus einem Walkie-Talkie. Der Polizist antwortete darauf. Wu und Clark hörten aufmerksam zu.
»Zwei amerikanische Jungs und ein Mädchen«, übersetzte Wu flüsternd. »Sie wissen, dass wir hier sind.«
»Führt noch ein anderer Weg nach draußen?«, flüsterte Arlo.
»Nur der Eingang. Aber den werden sie auch bewachen.« Clark Finch führte sie zurück ins Treppenhaus.
Wu beugte sich zu Arlo. »Du könntest einen Knauten machen. Wir könnten uns an ihnen vorbeistehlen.«
»Kann ich nicht«, sagte Arlo. Als er das letzte Mal einen Knauten gemacht hatte, wäre er fast gestorben. Die silberne Schnur, die seinen Geist mit seinem Körper verband, war beim Dehnen so dünn geworden, dass sie beinahe gerissen wäre. Davon abgesehen, war sich Arlo nicht sicher, ob er so weit entfernt von den Long Woods überhaupt einen Knauten machen konnte.
Clark fummelte an seinem Handy herum. »Ich glaube, wir können an ihnen vorbeikommen«, sagte er. »Für den Fall der Fälle habe ich etwas vorbereitet. So eine Art Notausstieg. Ich muss nur noch ein paar Variablen einstellen.« Arlo beobachtete, wie sein Dad einen Bildschirm voller Codes nach dem anderen wegwischte. Die Software auf seinem Handy war benutzerdefiniert und ergab wahrscheinlich für niemanden einen Sinn außer für Clark Finch selber. »Schauen wir doch mal, ob das funktioniert.«
Plötzlich plärrten Sirenen. Es war nicht nur der Feueralarm, und es kam auch nicht nur aus diesem Gebäude. Sie hörten verschiedene Summer und Sirenen aus allen Richtungen heulen.
»Das ist das nationale Frühwarnsystem«, erklärte Clark. »Ich habe ein schweres Erdbeben vierhundert Kilometer nördlich der Stadt vorgetäuscht. Es gibt einen Einsatzplan für die gesamte Polizei.«
Während er das sagte, hörten sie plötzlich, wie das Motorrad dröhnend davonfuhr. Clark wartete ein paar Sekunden, dann öffnete er vorsichtig die Tür, um zu sehen, ob die Luft in der Gasse rein war. »Gehen wir!«
Überall im Viertel wimmelte es von Rollerfahrern, Arbeitern und Familien, die alle wegen des drohenden Erdbebens in Panik geraten waren. Als die Menschen aus den Gebäuden strömten, trieben Polizisten sie in die vorgesehenen Sicherheitszonen. Inmitten des ganzen Durcheinanders, der Sirenen und des Gewitters bemerkte niemand die vier Amerikaner, die im Gänsemarsch mit Zeitungen über den Köpfen über die Straße liefen.
Auf der anderen Straßenseite entdeckte Arlo ihren Taxifahrer, der neben seinem Wagen stand. Er wurde von einem Mann und einer Frau mit Regenschirmen befragt. Sie trugen eher Anzüge als Uniformen.
Aus Angst, dass der Fahrer ihn erkennen könnte, wandte Arlo sich schnell ab. Geh weiter, sagte er sich. Er war der letzte in der Reihe. In ein paar Sekunden wären sie außer Sicht.
Dann ein Schrei. Arlo sah sich um.
Der Fahrer deutete direkt auf ihn. Die Frau mit dem Schirm lief hinter ihnen her, während der Mann in ein Funkgerät sprach. Zweifelsohne berichtete er, dass die Amerikaner entdeckt worden seien.
»Lauft!«, schrie Arlo.
Er war froh, dass ihm das Adrenalin auch nach zwanzig Stunden voller Strapazen noch zu Hilfe kam. Er fühlte sich flink und schnell, als er hinter seinem Dad, Jaycee und Wu im Zickzack durch die Menge rannte. Wo die Bürgersteige zu voll waren, liefen sie auf der Straße. Elektrische Straßenbahnen, die der Erdbebenalarm automatisch gestoppt hatte, blockierten die Kreuzungen, sodass die Gruppe sich durch Reihen hupender Autos winden musste.
Sie erreichten eine wesentlich wohlhabender wirkende Straße voller moderner Glasgebäude mit Aussicht auf den Fluss. Clark führte sie über eine Rampe in eine Tiefgarage. Die Kabine des Parkwächters war verwaist, auf einem Bildschirm aber waren große chinesische Schriftzeichen zu sehen, von denen Arlo annahm, dass sie »Notfall« oder »Alarm« bedeuteten.
Sie duckten sich hinter einen SUV und warteten ab, ob ihnen jemand über die Rampe gefolgt war.
»Wie weit ist es bis zu den ›Long Woods‹?«, fragte Clark.
Sie hatten jetzt keine Zeit zu erklären, warum das eine dumme Frage war. »Wir müssen zu einem Park im Norden der Stadt«, sagte Arlo. »Das sind etwa dreißig Kilometer.«
»Aber werden sie uns da nicht erwarten?«, fragte Jaycee. »Dieser Taxifahrer weiß doch, wo er uns aufgelesen hat.«
Jaycee hatte recht. Wenn sie dort ankämen, würden die Straßen schon abgesperrt sein.
»Moment«, sagte Wu. »Müssen wir überhaupt dahin? Dieser Park war nur der Ort, den Zhangs Atlas uns gezeigt hat. Es muss andere Wege in die Long Woods geben. Wir müssen nur irgendwo einen Wald finden.«
Arlo wandte sich an seinen Dad und seine Schwester. »Wo ist dieser Ort, an dem ihr im Sommer wart? Du hast gesagt, er sei naturbelassen und sehr abgelegen gewesen. Ein Park oder Wald oder so was.«
»Dafushan«, sagte Clark. »Das liegt im Süden. Mit dem Zug ist es eine Stunde von hier.«
»Aber wir können keinen Zug nehmen«, sagte Jaycee. »Sie würden uns finden.«
»Bei einem Erdbeben stehen sowieso alle Züge still«, sagte Clark. Er war wieder an seinem Handy, wischte sich durch weitere Seiten voller Kauderwelsch. »Aber wenn wir dahin müssen, kann ich uns fahren.«
»Warte mal«, sagte Arlo verwirrt. »Du hast ein Auto?«
»Ähm, noch nicht. Sehen wir mal, ob wir eins auftreiben.« Clark drückte eine Taste auf seinem Handy. Nichts geschah. Dann gingen, einer nach dem anderen, die Scheinwerfer der Autos um sie herum an, bis fast ein Viertel von ihnen leuchtete.
»Moderne Autos sind eigentlich Computer«, sagte er grinsend. Dann fügte er hinzu: »Aber an sich sollte man keine Autos klauen. Das hier ist ein Sonderfall.«
Sie nahmen eine weiße Limousine mit schwarz getönten Scheiben. Um ganz sicherzugehen, kauerten sich Arlo und Wu auf den Rücksitz, bis sie die Stadtmitte hinter sich gelassen hatten. Dann setzten sie sich auf und sahen zu, wie die Wolkenkratzer sich entfernten.
Sonnenstrahlen brachen durch die Sturmwolken. Guangzhou sah unglaublich modern aus, wie aus einem Science-Fiction-Film.
»Wenn wir es hier rausschaffen, sollten wir irgendwann wiederkommen«, sagte Wu. Arlo stimmte ihm zu.