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2 ROMANZE MIT EINEM UNBEKANNTEN

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Wir erwachen, falls wir überhaupt je erwachen, im Mysterium.

Annie Dillard

Was oder wer ruft uns zum ersten Mal aus der Tiefe unseres Herzens? Unsere äußeren Geschichten, die wir vor den Augen der Welt leben, angefüllt mit Geschäftigkeit und Hektik, werden uns diese Frage nicht beantworten. Wir müssen die innere Geschichte betrachten, die sich in unserem Herzen abspielt. Wenn wir die Reise zur Rückgewinnung unseres Herzens beginnen wollen, müssen wir Frederick Buechners Rat befolgen und „auf unser Leben hören“.

Falls Gott überhaupt zu uns spricht, abgesehen von solchen offiziellen Kanälen wie der Bibel und der Kirche, dann, glaube ich, spricht er zu uns hauptsächlich durch das, was uns passiert … Wenn wir nicht nur unsere Ohren, sondern auch unsere Herzen und unseren Verstand offen halten, wenn wir mit Geduld und Hoffnung hören, wenn wir uns tief und ehrlich erinnern, dann, glaube ich, werden wir jenseits allen Zweifels zu der Erkenntnis kommen, dass er, wie leise wir ihn auch immer hören mögen, tatsächlich zu uns spricht, und dass sein Wort – mögen wir auch wenig davon verstehen –, für jeden von uns sowohl erreichbar als auch unsagbar kostbar ist.

(Now and Then).

Unsere innere Geschichte ist am besten am frühen Morgen zu hören, oder manchmal mitten in der Nacht, wenn der innere Redakteur, der uns sagt, wie wir auf die Welt reagieren „sollten“, nicht im Dienst ist. Das ist die Zeit, in der unser Herz uns von der Geschichte erzählt, die zutiefst die unsere ist. Es ist eine Geschichte, deren Handlung sowohl Mysterium als auch Magie enthält, sowohl Vorahnung als auch Angst. Wenn wir aufmerksam auf die innere Geschichte hören, die unser Herz uns erzählt, wird den meisten von uns bewusst, dass die Handlung sich um zwei ganz verschiedene Botschaften oder Offenbarungen dreht, die um unsere Aufmerksamkeit gewetteifert haben, seit wir noch ganz jung waren. Die eine hat uns verzaubert, während die andere uns herausforderte, uns über Furcht und Resignation zu erheben. Die eine kam zu uns in der Form einer Romanze, die mich (Brent) selbst jetzt noch in meinen Vierzigern mit gespannter Erwartung erfüllt. Etwas Wunderbares wirbt um uns. Die andere Botschaft belagert uns mit viel dunkleren Farben und bringt eine Vorahnung mit sich, die manchmal selbst an einem strahlend hellen Morgen an den Rändern unseres Bewusstseins nagt. Etwas Schreckliches belauert uns.

Und doch ist unsere Verzauberung durch das Leben vielleicht die tiefere der beiden Botschaften – die Liebesgeschichte, die unser Herz zuerst berührte, bevor die dunkle Offenbarung ihre Wirkung tat. Und darum werden wir an dieser Stelle beginnen, „auf unser Leben zu hören“. Wenn wir es uns selbst erlauben, zu der Geschichte zurückzukehren, die die meisten von uns als Kinder kannten, ist es nicht schwer, die frühen Bilder und Geräusche und Gerüche der ersten Offenbarung des Lebens zurückzubringen – die einer großen Romanze.

Für jeden von uns gibt es einen Ort, wo die Romanze zuerst zu uns sprach. Meistens ist es ein Ort, den wir gerne wiedersehen würden, aber wir fürchten uns auch davor, weil wir meinen, unsere Erinnerungen könnten uns dann gestohlen werden. Meine eigenen frühesten Erinnerungen an die Romanze stammen von einer fünfzig Hektar großen Farm in New Jersey, im Südosten begrenzt von einem Bach und im Nordwesten von einem niedrigen, breiten Bergrücken. Wie es bei den meisten Farmerfamilien in den fünfziger Jahren der Fall war, bestand die Arbeit sowohl meiner Mutter als auch meines Vaters darin, vom frühen Morgen bis zur Abenddämmerung die Tiere und Felder zu versorgen, sodass meine Schwester und ich uns selbst überlassen waren und die Geheimnisse der Wiesen und Heumieten erkunden konnten.

Zum ersten Mal hörte ich den Ruf der Romanze, als ich ein Junge von sechs oder sieben Jahren war, kurz nach der Dämmerung eines Sommerabends, als die heiße, staubige Arbeit auf der Farm zu Ende war. Etwas Warmes, Lebendiges und Verlockendes rief nach mir von den geheimnisvollen Grenzen der Farm her, die meine ganze Welt war. Ich ging darauf zu, vorbei an den Ställen, in denen unsere Milchkühe sich ausruhten, und weiter durch die Reihen dunkelgrüner Maispflanzen, die hoch über meinen Kopf emporragten. Die Maispflanzen in ihrer Höhe und ihrer dichten Zahl waren wie eine Art Zauberwald. Jedes Blatt, das vor meinen ausgestreckten Armen zur Seite wich, schien ein mögliches neues Geheimnis zu offenbaren. Die Erde war warm und braun und duftete, und sie lud ein zu einer barfüßigen Ekstase ohne Angst vor Steinen oder anderem Unrat, an dem ich mich hätte verletzen können.

Schließlich kam ich aus dem Maisfeld heraus auf einen schmalen Wiesenstreifen, wo hohe Gräser sich silbrig leuchtend im Mondlicht wiegten. Hinter diesen Tänzern stand eine schmale Linie von Ahornbäumen und Eichen, gerade aufragend wie Wächter, und verbargen die Stimmen, die von dem plätschernden Wasser des Bachs, der die Grenze unseres Farmlands bildete, so leidenschaftlich nach mir riefen. Die Bäume, die den Bach bewachten, leiteten mich weiter zu einem Sandstreifen unter einer alten Holzbrücke, über die die Straße weiterführte in das übrige Farmland New Jerseys. Dort im Mondlicht hockte ich mich am Rande des Wassers nieder und vergrub meine Zehen im kühlen Sand. Rund um meinen Fußabdruck blutete der Sand im tiefen Rot rostigen Eisenerzes.

An diesem Ort war ich umringt von den Sängern.

Die Stimmen der Grillen und Zikaden drangen zu mir, über die Geräusche des Bachs hinweg und vermischt mit dem durchdringenden Geruch von Gerbsäure. Dort am Bachufer sangen mir zehntausend Musiker die magischen Geschichten der Farmen und der Wälder vor. Es schien, als würden die Lieder von den Oberläufen hierher getragen – von jenen geheimnisvollen Ursprüngen des Wassers, das durch das Moos heraufquoll auf eine Weise, wie sie nicht zauberhafter hätte sein können, wäre es von mondbestäubten Elfen ins Leben gerufen worden. Das Bachwasser legte in der Dunkelheit unter der Brücke eine Pause ein, bevor es seine Reise fortsetzte. Die stille Oberfläche des Teiches, der dabei entstand, spielte den Gastgeber für die glänzenden grünen Herren des jungen Flusses, die rau krächzenden Ochsenfrösche. Hin und wieder fügten sie der Melodie ihre eigenen Basstöne hinzu; ein Ruf zur Ordnung, der bei der großen Masse der Musiker ungehört verhallte.

Ich erinnere mich, wie ich mich an diesem Ort aufhielt, bis die Musik des Lebens mich mit dem Wissen erfüllte, dass es eine Romanze auszuleben gab; mit der Gewissheit, dass es einen Grund gab, mit hölzernen Schwertern gegen Drachen zu kämpfen; einen Grund dafür, nicht einen, sondern zwei Revolver mit perlmuttbesetzten Griffen zu tragen in den Cowboygeschichten, die ich jeden Tag sponn und auslebte; einen Grund dafür, dass darin auch ein hübsches Mädchen vorkommen musste, das zu befreien war, auch wenn ich viel zu sehr damit beschäftigt war, gegen die Schurken zu kämpfen, als dass mich die Liebe hätte einfangen können. Dieser Zauber versicherte mir, dass es Liebe und Liebhaber und Abenteuer gab, in die ich mich stürzen, und Geheimnisse, die ich erforschen musste.

Die Romanze jenes Ortes umgab mich noch, wenn ich auf den fernen Ruf meiner Mutter hin aufstand und durch das Maisfeld zurückkehrte. Sie tröstete mich mit einer Vertrautheit, die mich mit Dingen zu verbinden schien, die zugleich sehr alt waren und dennoch immer wieder neu wurden. Wenn ich dann im Bett lag, während meine Eltern weit weg waren, unten in einem anderen Teil des Hauses und in einer Herzenslandschaft, von der ich damals noch nichts wusste, schlief ich ein, umworben von einem unsichtbaren Liebhaber, den ich damals nur von jenen Sängern in der mondbeschienenen Sommernacht her kannte.

Seither bin ich, und Ihnen geht es vielleicht nicht anders, der Romanze viele Male begegnet: Im goldenen Herbst in den Rocky Mountains und in den windgebeugten Ufergräsern und den weißen Schaumkronen an der Atlantikküste; in einem stillen Moment, in dem sich das Sonnenlicht zu parallelen Strahlen ordnete, die warm auf meine Schulter fielen, während ich ein gutes Buch las; in den Augen gewisser Frauen und der Kraft gewisser Männer; in der Freude, mit der mein fünfjähriger Sohn während eines Fußballspiels Räder schlug, ohne daran zu denken, dass er doch das Spiel gewinnen musste; und in den kostbaren Akten der Freundlichkeit, des Mutes und der Opferbereitschaft von Männern und Frauen, die ich gekannt habe, und entsprechenden Berichten von vielen, die ich nicht gekannt habe.

In meinen Jahren als Erwachsener ist sie mir mal häufiger, mal seltener begegnet, und meist kommt sie überraschend. Eine sehr lebhafte Begegnung ereignete sich vor vielleicht vier Jahren an einem Sommerabend. Ein Ehepaar, mit dem wir lange befreundet gewesen waren, bevor wir nach Colorado zogen, kam von der Ostküste zu uns zu Besuch. Sie machten gerade jeder für sich und auch in ihrer Ehe eine sehr schwere Zeit durch. Diesen Abend waren wir zu viert ins Kino gegangen, um uns Harry und Sally anzuschauen, eine sehr bewegende Komödie über die Frage, ob Männer und Frauen einfach nur miteinander befreundet sein können. Der Film löste in unseren Freunden tiefe Gefühle aus, und sie gingen hinunter zu dem See in der Nähe unseres Hauses, um über ihre Verletzungen, über ihren Zorn und über ihre Zukunft zu reden. Unser Haus steht auf einer Erhebung im Süden unserer Stadt, und meine Frau und ich saßen in unserem dunklen Esszimmer am Tisch und blickten hinaus zu den Lichtern der angrenzenden Wohngegenden.

Mein Herz war schwer, wenn ich darüber nachdachte, was unsere Freunde durchmachen mussten. Es war schwer beim Gedanken an die ungewisse Zukunft ihrer Ehe und unserer Freundschaft. Ich war auch traurig über manche Abgründe in unserer eigenen Ehe, die wir nur selten überbrückt hatten. Als ich diese Gedanken gegenüber Ginny äußerte, streckte sie den Arm aus und ergriff meine Hand. Ich erinnere mich nicht mehr genau an den Wortlaut unseres Gesprächs, aber ich weiß noch, wie sie in ihrem Sommerkleid dasaß und ich selbst im Zwielicht ihre blauen Augen sehen konnte. Ich weiß noch, dass wir darüber sprachen, wie es ist, ein Mann zu sein und eine Frau zu sein, zu lieben und verliebt zu sein. Mir war, als ob ein Vorhang, der oft zwischen uns hing, sich für ein paar Augenblicke hob, sodass wir wie gute Freunde miteinander reden konnten. Freunde, die die Chance zu einer tieferen Romanze hatten.

Als ich an jenem Abend zu Bett ging, fühlte ich mich genauso, wie ich mich als Junge an jenen Sommerabenden vor langer Zeit gefühlt hatte, aufgewühlt und verzaubert von einem Geschmack der Schönheit und der Vertrautheit, der mich überrascht hatte. Die Tränen, die ich in den Momenten vor dem Einschlafen vergoss, waren traurig und fröhlich zugleich, und ich empfand das überhaupt nicht als Widerspruch. Als ich am nächsten Morgen erwachte, versuchte ich dieses Gefühl der Romanze in meinem Inneren wieder zu finden, aber ich wusste, es war fort, noch bevor ich in der Küche war, um mir einen Kaffee zu holen. Der Vorhang hatte sich wieder gesenkt, und der Tag, der vor mir lag, schien mir nichts zu bieten als die alltäglichen Aufgaben im Beruf und in der Familie. Es musste einfach nur weitergehen.

Als ich mich an diese Szenen aus meiner eigenen Geschichte erinnerte, erkannte ich, dass ich einen Teil der verlorenen Reise meines Herzens wieder gefunden hatte. Als ich ein kleiner Junge war, wurde mein Herz gefesselt vom Geheimnisvollen: einem Mysterium, das mich einlud, mein Herz zu öffnen und mich auf eine Art freudige Ausgelassenheit einzulassen; ein Mysterium, das mich eine Geschichte erahnen ließ, die ganz selbstständig außerhalb der Schöpfungskraft meiner eigenen Fantasie existierte; eine Geschichte, die mich dennoch einlud, an ihr teilzuhaben, wenn ich meine Kindheitsabenteuer konstruierte; eine Geschichte, die Schurken und Helden enthielt und eine Handlung, die sich aus ihrem Konflikt entwickelte; eine Geschichte, die mir nicht nur von großen Gefahren berichtete, sondern auch in Aussicht stellte, dass alles gut werden würde; eine Geschichte, die sich anfühlte, als beginne sie mit Lachen und als wäre sie voller Zuversicht, dass sie alle, die darin vorkamen, am Ende voller Freude zu Hause vereinen würde.

Leider erkennen viele von uns dieses Werben, an was für einem Ort es uns auch immer erstmalig begegnet, niemals als etwas, das mit dem tiefsten Verlangen unseres Herzens zu tun hat, mit unserem geistlichen Leben oder mit der Bestimmung unserer Seele. Zum Teil ist das wohl deshalb so, weil es eine Geschichte ist, die nur sehr schwer in Aussagen zu fassen ist. Wir haben gelernt uns selbst zu sagen, es sei naiv, ihr noch zu vertrauen, wenn wir erwachsen geworden sind, als ob wir dann irgendwie aus ihr herausgewachsen wären und uns eine vernünftige oder „wissenschaftliche“ Denkweise angeeignet hätten. Wir haben gelernt, sie als drollig oder sentimental zu betrachten, als kindliche Torheit. Das zeitgenössische Christentum hat uns oft gelehrt, ihr zu misstrauen, aus Angst, es würde uns in irgendeine New-Age-Irrlehre führen, und so hat es, ohne es zu wissen, etwas preisgegeben, was zum innersten Kern des christlichen Glaubens gehört. Jedenfalls wird uns heute kaum noch gesagt, dass wir auf dieses Werben hören sollen, dass wir danach Ausschau halten und ihm zu seiner Quelle folgen sollen.

Doch Gott sei Dank will unser Herz nicht vollkommen von dieser Romanze lassen. Trotz aller unserer „Reife“ oder der Ermahnungen unserer Lehrer, die „Dinge dieser Welt“ zu meiden, spüren wir den Kloß in unserem Hals, wenn in einem Film zwei Liebende, von denen wir wissen, dass sie füreinander bestimmt sind, einander endlich finden – oder auch nicht. Ein anderer Film erzählt die Geschichte eines Mannes mit einem edlen Herzen. Er opfert Bequemlichkeit und Sicherheit für eine Sache, die höher ist als bloße Opportunität. Er erleidet eine Niederlage, und doch schlägt er unseren Geist mit seinem Heldentum in seinen Bann. Wir verlassen das Kino mit einem Brennen in unserem Herzen; einem Verlangen, an einer solchen Sache teilzuhaben, irgendwie daran beteiligt zu sein.

Wir alle haben diese Sehnsucht nach einer Göttlichen Romanze im Herzen.

Diese Sehnsucht geht nicht weg, auch wenn wir uns über die Jahre noch so viel Mühe geben, uns für ihren Gesang unempfindlich zu machen, ihn zu überhören oder ihn nur an eine einzige Person oder Tätigkeit zu knüpfen. Es ist eine Romanze, die von Geheimnissen umwoben und tief in uns hineingepflanzt ist. Sie lässt sich nicht in Lehrsätze fassen oder ganz und gar durchschauen, genauso wenig, wie wir einen Menschen kennen lernen können, indem wir die Anatomie seiner Leiche studieren.

Die Philosophen nennen diese Romanze, dieses Verlangen des Herzens in uns, „Sehnsucht nach Transzendenz“; das Verlangen, Teil von etwas zu sein, das größer ist als wir selbst, Teil von etwas Außergewöhnlichem zu sein, das gut ist. Transzendenz ist das, was wir ansatzweise, aber eindrucksvoll erleben, wenn die Fußballmannschaft unserer Stadt gegen alle Wahrscheinlichkeit das große Spiel gewinnt. Im tiefsten Herzen haben wir eine Sehnsucht, mit anderen Gleichgesinnten in einer heldenhaften Sache verbunden zu sein.

Ja, wenn wir an die Reise unseres Herzens zurückdenken, ist uns die Romanze am häufigsten in Form von zwei tiefen Wünschen begegnet: der Sehnsucht nach dem Abenteuer, das etwas von uns erfordert, und dem Verlangen nach Intimität – danach, jemanden zu haben, der uns so kennt, wie wir sind, während er uns gleichzeitig einlädt, ihn zu erkennen auf jene unverhüllte und erforschende Art, wie Liebende einander auf dem Ehebett kennen lernen. Vielleicht liegt bei Männern der Schwerpunkt mehr auf dem Abenteuer und bei Frauen mehr auf der Intimität. Doch beide Wünsche sind stark in uns, ob wir nun Männer oder Frauen sind. In uns allen kommen diese beiden Wünsche zusammen als eine Sehnsucht danach, in einer Beziehung von heroischen Ausmaßen zu leben.

Als ich ein Junge war, sprang ich gerne von unserer Heumiete auf die Rücken der Ochsen, die direkt darunter an der Heuraufe fraßen. Der Ritt ohne Sattel, der sich daran anschloss, war jedes Mal ein Abenteuer erster Ordnung. Ich schaute mir auch gern den Mickey-Mouse-Club im Fernsehen an, nur um einen Moment der Intimität mit Annette (Funicello) zu erleben. Zum Teil bin ich bis heute überzeugt davon, dass unsere Blicke sich ein- oder zweimal begegneten und sie mich anlächelte. Diese beiden kindlichen Leidenschaften für das Abenteuer und die Intimität verbanden sich oft in meinen Tagträumen in einer Geschichte, in der ich Annette vor den Schurken errettete und mit ihr in die Berge floh, wo wir gemeinsam glücklich lebten bis an unser Ende. Ich war ihr Held. Sie war meine Schönheit. Und wir waren stets bereit, von neuem gegen die Schurken zu kämpfen, wann immer die Welt uns brauchte, Seite an Seite.

In welcher Form auch immer wir unsere Abenteuer in unseren Tagträumen oder im „wirklichen Leben“ erlebt haben mögen, diese Göttliche Romanze haben wir alle im Herzen, und wir werden sie nicht daraus vertreiben. Sie ist der Kern unserer geistlichen Reise. Jede Religion, die sie ignoriert, kann nur als von Schuldgefühlen gespeiste Gesetzlichkeit überleben, als ein Gebäude von Lehraussagen, die man auswendig lernen, und von Regeln, denen man gehorchen muss.

Jemand oder etwas hat uns von Anfang an umworben mit Sängern am Bachufer und pastellfarbenen Sonnenuntergängen, mit der erhabenen Majestät der schneebedeckten Berggipfel und den lodernden Flammen der Herbstfarben, die uns von etwas – oder von jemandem – erzählen, das oder der Abschied nimmt, aber seine Rückkehr in Aussicht gestellt hat. Solche Dinge können uns in einem ungeschützten Moment vor Sehnsucht nach diesem Etwas oder diesem Jemand, das oder den wir verloren haben, auf die Knie sinken lassen; nach diesem Jemand oder diesem Etwas, den oder das wir nur mit dem Herzen erkennen können. C. S. Lewis kannte diese Sehnsucht sehr gut:

War nicht sogar in deinen Liebhabereien immer eine geheime Anziehungskraft, welche die anderen seltsamerweise nicht wahrnahmen, etwas, das zwar nicht einfach gleichgesetzt werden konnte mit dem Duft von geschnittenem Holz in der Werkstatt oder mit dem gleichmäßigen Klatschen des Wassers gegen die Bootswand – das aber doch – ganz dicht unter der Oberfläche – in diesen Dingen lag, stets im Begriff, hervorzukommen?

Werden nicht alle Freundschaften in dem Augenblick geboren, in welchem man endlich einem anderen menschlichen Wesen begegnet, das eine selbst im besten Fall nur schwache und undeutliche Ahnung von jenem Etwas hat, wonach zu verlangen man selber eigentlich geboren ist und wonach man, tief unter der Flut anderer Begierden und in einem jeden Augenblick des Schweigens zwischen den lärmenderen Leidenschaften, Tag und Nacht, Jahr für Jahr, von der Kindheit bis zum Alter Ausschau hält, worauf man wartet und wonach man lauscht? Niemals haben wir es „gehabt“. Alle Dinge, die je unsere Seele im tiefsten ergriffen haben, waren nur Anzeichen davon – Blicke von schmerzlicher Flüchtigkeit, nie ganz erfüllte Versprechen, ein Echo, das sogleich dahinstarb, wenn es unser Ohr erreichte. Würde es sich aber wirklich offenbaren, würde je ein Echo kommen, das nicht dahinsterben, sondern anschwellen würde zum vollen Ton – dann würden wir es erkennen. Weit entfernt von aller Möglichkeit eines Zweifels würden wir sagen: „Hier ist endlich das, wofür ich geschaffen bin.“

Wir können uns gegenseitig nichts darüber erzählen. Es ist die geheime Signatur jeder Seele; das unmittelbare und unstillbare Verlangen; das, wonach wir uns sehnten, noch ehe wir unserer Frau begegnet waren, noch ehe wir einen Freund gewonnen und ehe wir unseren Beruf wählten; das, wonach wir noch auf unserem Sterbelager verlangen werden, wenn die Seele nichts mehr weiß von Frau, Freund und Arbeit. Dies ist da, solange wir sind. Verlieren wir dies, dann verlieren wir alles.

Kunst, Literatur und Musik haben allesamt die Romanze – oder ihren Verlust – dargestellt und erforscht in Myriaden von Szenen, Bildern, Klängen und Figuren, die dennoch aus ein und derselben Geschichte zu uns sprechen. Die Universalität der Geschichte ist der Grund, warum die Dramen Shakespeares, obwohl sie aus dem ländlichen England über eine Kluft von vierhundert Jahren hinweg zu uns sprechen, dies so beredsam und verlässlich tun, dass sie immer noch auf Bühnen von Tokio bis New York aufgeführt werden.

Es ist, als hätte uns jemand in den Geschichten in unserem Herzen eine Heimsuchung hinterlassen, die uns nicht loslässt; die sich auch nicht einfangen und ordnen lässt. Die Romanze kommt und geht, wie sie will. Und so werden wir von ihr heimgesucht.

Was hat diese Romanze mit Gott zu tun? Könnte es sein, dass die mehr buchstäbliche, in Lehrsätze gefasste Botschaft des Christentums, die wir gemeinsam im Glaubensbekenntnis rezitieren, dieselbe geheime Botschaft ist, die jene Sänger an jenen lang zurückliegenden Sommerabenden meiner Kindheit einander und mir mitteilten? Hat Gott uns allen die Heimsuchung dieser Göttlichen Romanze hinterlassen, um uns nach Hause zu ziehen?

Selbst wenn diese schmerzliche Sehnsucht die einzige tiefe Erfahrung unserer Seele wäre, würden wir nicht den Mut verlieren. Unser Durst mag noch nicht gestillt sein, aber wir würden unser ganzes Leben lang danach streben. Es gibt genügend Hinweise und Spuren und „verlockende Ahnungen“, um uns immer weiter suchen zu lassen, das Herz stets offen und bereit für diese Suche. Aber da ist noch eine andere Botschaft, die in unterschiedlichen Schattierungen und Ausmaßen zu uns allen kommt, schon in unseren frühen Jahren. Oft kommt sie scheinbar aus dem Nichts und ohne jeden erkenntlichen Grund. Sie ist dunkel, machtvoll und bedrohlich. Ich nenne sie die Botschaft der Pfeile.

Ganz leise wirbst du um mein Herz

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