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Warum eine Geschichte?

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Die tiefsten Überzeugungen unseres Herzens werden durch Geschichten geformt und sie verweilen dort in Form von Bildern und Emotionen aus Geschichten. Als kleiner Junge, etwa um die Zeit, als in meinem Herzen der Verdacht aufkeimte, dass die Welt ein Furcht erregender Ort sei und dass ich ganz allein meinen Weg durch sie finden müsste, las ich die Geschichte eines schottischen Diskuswerfers aus dem neunzehnten Jahrhundert. Er lebte in der Zeit, als es noch keine professionellen Trainer gab, und entwickelte seine Fähigkeiten allein in der Umgebung seines Heimatdorfes im schottischen Hochland. Sogar seinen Diskus stellte er sich selber her, aus Eisen nach einer Beschreibung, die er in einem Buch gelesen hatte. Was er nicht wusste, war, dass der Diskus, der in Wettkämpfen verwendet wurde, aus Holz bestand und nur einen äußeren Rand aus Eisen hatte. Seiner war aus massivem Metall und wog drei oder vier Mal so viel wie jene, die von seinen Wettkampfgegnern verwendet wurden. Dieser entschlossene Schotte markierte in seinem Acker die Entfernung des gegenwärtigen Rekordwurfes und trainierte Tag und Nacht, um diesen Rekord einzustellen. Fast ein Jahr lang mühte er sich unter der selbst auferlegten Bürde des zusätzlichen Gewichtes ab. Aber er wurde gut, sehr, sehr gut. Er kam so weit, dass er seinen eisernen Diskus bis zur Rekordmarke schleudern konnte, vielleicht sogar noch weiter. Er war bereit.

Mein Schotte (ich hatte angefangen mich sehr mit ihm zu identifizieren) machte sich auf den Weg nach Süden zu seinem ersten Wettkampf in England. Als er in der Arena eintraf, reichte man ihm den offiziellen hölzernen Diskus – den er prompt von sich schleuderte wie eine Untertasse. Er stellte einen neuen Rekord auf, mit einer Weite, die so weit jenseits der seiner Wettkampfgegner lag, dass niemand an ihn herankommen konnte. So blieb er viele Jahre lang der ungeschlagene Champion.

Irgendetwas in meinem Herzen sprach sehr stark auf diese Geschichte an. So macht man das also: Man trainiert mit schwersten Gewichten, und dann ist man dem Rest der Welt so weit überlegen, dass keiner mehr an einen herankommt. Das wurde zu einem Leitbild für mein Leben, geformt in und aus einer Geschichte.

Das Leben ist keine Liste von Lehraussagen, es ist eine Reihe dramatischer Szenen. Eugene Peterson sagte: „Wir leben in einer Erzählung, wir leben in einer Geschichte. Das Dasein hat die Form einer Geschichte. Wir haben einen Anfang und ein Ende, wir haben eine Handlung, wir haben Charaktere.“

Geschichten sind die Sprache des Herzens. Unsere Seelen sprechen nicht in den nackten Tatsachen der Mathematik oder in den abstrakten Aussagen der systematischen Theologie; sie sprechen in den Bildern und Emotionen von Geschichten. Vergleichen Sie Ihre Begeisterung für das Lesen eines Lehrbuchs mit der über das Angebot, in einen Film zu gehen, einen Roman zu lesen oder sich Geschichten aus dem Leben eines anderen anzuhören. Elie Wiesel meint, dass „Gott den Menschen erschuf, weil er Geschichten liebt“. Wenn wir also die Antwort auf das Rätsel der Erde – und unserer eigenen Existenz – finden wollen, dann werden wir es in Geschichten finden.

Es war einmal eine Zeit, in der die westliche Welt eine Geschichte hatte. Stellen Sie sich vor, Sie hätten im Hochmittelalter gelebt. Ihre Welt wäre durchdrungen von christlichen Bildern. Sie würden den Ablauf der Tage nach dem Klang der Kirchenglocken messen, und die Wochen und Monate nach dem liturgischen Kalender. Sie würden im Anno Domini leben, im Jahr unseres Herrn. Es wäre nicht die Fußballsaison, es wäre Advent. Ihre Vorbilder wären die Heiligen, deren Gedenktage Sie beständig an ein Drama erinnerten, das größer ist als Sie selbst. Die Architektur der Kathedrale, die Musik, die Literatur und die Bildhauerkunst vermittelten Ihnen eine Vision der Transzendenz und erinnerten Sie an die zentralen Elemente jener Großen Geschichte. Das christliche Verständnis der Geschichte des Lebens schlüge sich sogar in der Alltagssprache nieder, in Ausdrücken wie „Gott sei mit dir“, „bei meiner Seele“ und „beim Blute Christi“. Geburt und Tod, Liebe und Verlust – all Ihre persönlichen Erfahrungen wären geformt und gedeutet durch diese Große Geschichte.

Aber Sie leben nicht im Mittelalter, Sie leben in der Postmoderne. Seit Hunderten von Jahren ist unserer Kultur ihre Geschichte allmählich verloren gegangen. Die Aufklärung machte Schluss mit dem Gedanken, dass es einen Autor gäbe, versuchte aber die Vorstellung festzuhalten, wir könnten trotzdem eine Große Geschichte haben, das Leben könnte trotzdem einen Sinn ergeben und alles würde in eine gute Richtung steuern. Die westliche Kultur lehnte das Mysterium und die Transzendenz des Mittelalters ab und setzte ihr Vertrauen auf Pragmatismus und Fortschritt, die Säulen der modernen Zeit, des Zeitalters der Vernunft. Doch nachdem wir uns einmal des Autors entledigt hatten, dauerte es nicht mehr lange, bis wir die Große Geschichte verloren hatten. In der postmodernen Zeit bleiben uns nur noch unsere kleinen Geschichten. Es ist nicht Pfingsten, es ist Zeit für unser Frühjahrs-Fitnessprogramm. Unsere Vorbilder sind Filmstars, und das höchste Erlebnis der Transzendenz ist die Eröffnung der Skisaison. Unsere besten Ausdrücke liegen auf der Ebene von „Schönen Tag noch“. Das Einzige, was uns noch an eine Geschichte hinter unserer eigenen erinnert, sind die Fernsehnachrichten, eine willkürliche Ansammlung von Szenen und Bildern ohne ein größeres Bild, in das sie sich einfügen. Der zentrale Glaube unserer Zeit ist, dass es keine Geschichte gibt, dass nichts zusammenhängt, dass wir nichts haben außer Bruchstücken, außer dem Durcheinander der Tage unseres Lebens. Tragödien rühren uns immer noch zu Tränen, und Heldentum erhebt immer noch unser Herz, aber eigentlich gibt es für all das keinen Kontext mehr. Das Leben ist nur eine Sequenz von Bildern und Emotionen ohne Reim und Sinn.

Was bleibt uns also übrig? Erfinden wir unsere eigene Geschichte, um unseren Erlebnissen einen gewissen Sinn zu unterlegen. Unser Herz ist dafür geschaffen, in einer Großen Geschichte zu leben; nachdem wir das verloren haben, versuchen wir das Beste aus der Situation zu machen, indem wir unsere eigenen kleineren Dramen entwickeln.

Schauen Sie sich die Dinge an, mit denen sich die Leute beschäftigen: Sport, Politik, Seifenopern, Rockbands. Verzweifelt auf der Suche nach etwas Größerem, das unserem Leben Transzendenz verleiht, versuchen wir selbst in den kleinsten Geschichten aufzugehen. Manche von uns wählen die Geschichte: „Warum geht bei mir alles schief?“. Die Handlung des Lebens ist tragisch, und wir spielen die Rolle des Opfers grausamer Umstände. Unsere Pfeile sind unsere Identität. Das ist eine ungemein beliebte Geschichte, denn sie befreit uns davon, wirklich Verantwortung für unser Leben zu übernehmen. Opfer verlangen Verständnis, aber wagen Sie es ja nicht, etwas von ihnen zu fordern.

Und dann ist da der Überlebenskünstler, der in einem Leben mitspielt, in dem die Handlung eine Belagerung ist. Die Welt ist ein gefährlicher und unberechenbarer Ort, also werde ich mich hinkauern und überleben, wenig Risiken eingehen und mein Möglichstes tun, um mich zu schützen, selbst wenn das bedeutet, dass ich mich von anderen und von meinen eigenen Träumen abschneide. Diese Geschichten konzentrieren sich auf die Pfeile, auf Kosten der Romanze.

Auf der anderen Seite versuchen manche von uns eine Geschichte auszuleben, die auf irgendeine Weise die Romanze am Leben erhält. Obwohl es eine Menge Energie kostet, sich das Chaos des Lebens aus den Augen zu schaffen, um den Glauben aufrechtzuerhalten, das Geheimnis und der Zauber hätten das letzte Wort, tun wir unser Bestes. Der beliebteste Weg dazu ist die romantische Liebe, die Vorstellung, dass irgendwo da draußen ein ganz besonderer Mensch nur auf uns wartet, der uns die Sinne rauben, uns den Atem nehmen wird und mit dem das Leben ein einziges idyllisches Abenteuer und der Sex eine endlose Ekstase sein wird. Das ist das Lieblingsthema der Popmusik und die falsche Transzendenz unserer Zeit. Besonders Frauen finden Gefallen an dieser Geschichte; man sieht es an dem Erfolg der Romanautorin Danielle Steele und ihrer Nachahmerinnen. Die Scheidungsrate müsste eigentlich Beweis genug für das Scheitern dieser Geschichte sein. Der Grund ist nicht so sehr, dass die Liebenden nicht miteinander leben könnten, als vielmehr, dass sie nicht ohne die eindringliche Stimme der Sehnsucht leben können, die sie mit der romantischen Liebe verwechselt haben. So ziehen sie weiter zum nächsten Partner, immer bemüht, dieses schwer fassbare Gefühl zurückzugewinnen.

Die beliebteste falsche Transzendenz unter Männern ist die Sportgeschichte. Männer versuchen ihre Sehnsucht nach dem Abenteuer entweder durch ihre eigenen Freizeitaktivitäten auszuleben, oder sie gehen stellvertretend in ihren Lieblingsspielern und Mannschaften oder in den sportlichen Aktivitäten ihrer Kinder auf. Auch die Geschäftswelt passt gut in die Geschichte vom Leben als einem großen Spiel. Sicher, die Dinge sind unberechenbar, aber manche Leute scheinen zu gewinnen, und ich bin fest entschlossen, einer von ihnen zu sein. Ich werde an der Spitze bleiben, mit leichtem Gepäck reisen und schnell handeln. Wir identifizieren uns mit einer Sportmannschaft oder einer Firma, weil sie es uns erlauben, teilzuhaben an etwas, was größer ist als unsere kleinen Welten. Unsere Helden sind natürlich die wenigen Gewinner, während die Verlierer rasch aus dem Blickfeld der Kamera geschoben werden.

Christen können sich eine dieser Geschichten aussuchen oder auch eine „geistlichere“ Version wählen. Der Fromme Mann oder die Fromme Frau ist eine beliebte Geschichte, in der wir versuchen, die Wildheit und Unberechenbarkeit des Lebens zu reduzieren, indem wir ein System von Verheißungen und Belohnungen aufbauen, einen Vertrag, der Gott dazu verpflichtet, uns Verschonung von den Pfeilen zu gewähren. Es spielt eigentlich keine Rolle, was die jeweilige Gegenleistung der Gruppe ist, zu der man gehört – dogmatische Linientreue, moralisches Leben oder irgendeine Art von geistlicher Erfahrung – der Wunsch dahinter ist immer derselbe: Gott zu zähmen, um das Leben zu zähmen. Achten Sie nicht auf diese tiefen Sehnsüchte in Ihrer Seele; achten Sie nicht auf dieses nagende Bewusstsein, dass Gott dabei nicht mitspielt. Wenn das System nicht funktioniert, liegt es daran, dass wir irgendetwas nicht richtig machen. Es gibt immer irgendetwas, woran wir arbeiten können, mit der Verheißung eines überfließenden Lebens gleich um die nächste Ecke. Etliche Gemeinden und geistliche Leiter stehen bereit, um Ihnen zu zeigen, wie man einen günstigen Handel abschließt.

All diese Geschichten gemeinsam bilden das, was James McClendon das „Turnier der Erzählungen“ in unserer Kultur nennt, ein Zusammenprallen vieler kleiner Dramen, die um unser Herz wetteifern. Durch Baseball und Politik und Musik und Sex und sogar durch die Gemeinde suchen wir verzweifelt nach einer Großen Geschichte, in der wir leben und unsere Rolle finden können. All diese kleinen Geschichten bieten uns ein flüchtiges Gefühl des Sinns, des Abenteuers oder der Verbundenheit. Aber keine davon bietet uns das Echte; dazu sind sie nicht groß genug. Unser verloren gegangenes Vertrauen zu einer Großen Geschichte ist der Grund, warum wir immer nach Sofortbefriedigung verlangen. Wir brauchen das Gefühl, jetzt lebendig zu sein, denn das Jetzt ist alles, was wir haben. Ohne eine Vergangenheit, die für uns geplant wurde, und eine Zukunft, die auf uns wartet, sitzen wir in der Gegenwart gefangen. Doch in der Gegenwart ist nicht genügend Platz für unsere Seelen.

Unsere Versuche, eine Geschichte zu konstruieren, in der wir leben können, scheitern letztlich daran, dass, wie Robert Jenson gesagt hat, „das menschliche Bewusstsein ein für sich selbst zu undurchdringliches Mysterium ist, als dass wir das Drehbuch für unser eigenes Leben schreiben könnten“. Wir werden unweigerlich bedeutende Teile unserer Seele aus der Geschichte auslassen. Wenn unsere Version es nicht schafft, beide Botschaften des Lebens angemessen zu berücksichtigen und ihnen das richtige Gewicht zuzumessen, wird sie uns zerstören. Die Tragik des Lebens zu ignorieren kostet solche Anstrengung, dass es die Seele zerreißt. Zu glauben, dass es am Ende nur Tragik gibt, tötet unsere zartesten, „lebendigsten“ Teile ab. Gefangen in einer ewigen Gegenwart leiden wir an einer Krankheit des Herzens wie der von Shakespeares Macbeth, dem schottischen Fürsten, der seine Seele verkauft, um in seiner eigenen kleinen Geschichte die Rolle des Königs zu spielen. Am Ende seines Lebens klagt er:

Mir wird ganz übel …

Morgen und Morgen und dann wieder Morgen,

Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag,

Zur letzten Silb auf unserm Lebensblatt;…

Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild;

Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht

Sein Stündchen auf der Bühn und dann nicht mehr

Vernommen wird; ein Märchen ists, erzählt

Von einem Dummkopf, voller Klang und Wut,

Das nichts bedeutet.

(5. Akt, 3. und 5. Szene)

Ganz leise wirbst du um mein Herz

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