Читать книгу Ganz leise wirbst du um mein Herz - John Eldredge - Страница 13
4 EINE GESCHICHTE, GROSS GENUG,
UM DARIN ZU LEBEN
ОглавлениеDas romantische Abenteuer ist das Fundamentalste im Leben, fundamentaler als die Wirklichkeit.
G. K. Chesterton
Gibt es eine Wirklichkeit, die mit den tiefsten Wünschen unseres Herzens im Einklang steht? Wer hat das letzte Wort – die Romanze oder die Pfeile? Das müssen wir herausbekommen, und deshalb versuchen wir ständig, in jedem Moment unseres Lebens, uns einen Reim auf unsere Erfahrungen zu machen. Wir suchen nach Zusammenhängen, nach einem Fluss, nach einer Gewissheit, dass die Dinge zusammenpassen. Wir wollen, wir müssen die beiden Offenbarungen, die Brent beschrieben hat, miteinander versöhnen. Unser Problem ist, dass die meisten von uns leben wie in einem Film, von dem wir die ersten zwanzig Minuten verpasst haben. Die Handlung ist schon voll im Gange, und wir haben keine Ahnung, was da vor sich geht. Wer sind diese Leute? Wer sind die Guten, und wer sind die Bösen? Warum tun diese Leute das, was sie tun? Was ist überhaupt los? Wir spüren, dass irgendetwas wirklich Wichtiges, vielleicht sogar Großartiges vor sich geht, und doch erscheint alles so willkürlich. Schönheit bricht überraschend über uns herein, und wir wünschen uns mehr davon, doch dann kommen die Pfeile, und wir werden durchbohrt. Wie Chesterton schrieb:
Wir alle spüren das Rätsel der Erde, ohne dass jemand uns darauf hinweist. Am deutlichsten tritt es im Mysterium des Lebens zu Tage. … Jeder Stein oder jede Blume ist eine Hieroglyphe, zu der wir den Schlüssel verloren haben; mit jedem Schritt unseres Lebens treten wir mitten hinein in eine Geschichte, die wir gewiss missverstehen werden.
(Orthodoxie)
Kein Wunder, dass es so schwer ist, im Einklang mit unserem Herzen zu leben! Wir finden uns inmitten einer Geschichte, die manchmal wunderbar, manchmal schrecklich ist, oft eine verwirrende Mischung aus beidem, und wir haben nicht die leiseste Ahnung, was für einen Reim wir uns auf das alles machen sollen. Schlimmer noch, wir versuchen den Sinn des Lebens zu deuten, obwohl wir nur Fragmente, isolierte Ereignisse, Gefühle und Bilder ohne Bezug zu der Geschichte haben, von der diese Szenen nur ein Teil sind. Das kann nicht gehen, denn, wie Julia Gatta erklärt: „Erfahrung kann, wie akkurat sie auch verstanden wird, niemals ihre eigene Deutung liefern.“ So suchen wir also nach jemandem, der das Leben für uns deutet. Unsere Interpreten werden meist die ersten Bezugspersonen in unserem Leben sein, wenn wir noch jung sind, unsere Eltern oder Großeltern oder eine andere Schlüsselfigur. Sie formen unser Verständnis der Geschichte, in der wir uns befinden, und sagen uns, was wir mit der Romanze, mit den Pfeilen und mit unserem Herzen anfangen sollen.
Brent stand sehr oft ohne einen Interpreten da, während die Väter kamen und gingen. Ich (John) hatte mehr Glück; ich hatte einen Großvater, der genau in dem Augenblick in mein Leben trat, als die Pfeile die Oberhand zu gewinnen schienen, in den Jahren, als mein Vater in dem grausamen Kampf stand, den wir Alkoholismus nennen. Als ausgebildeter Techniker musste mein Vater auf eine Verkäuferlaufbahn umsatteln, als die US-Armee nach dem Zweiten Weltkrieg den Arbeitsmarkt mit Technikern überflutete. Arthur Miller fing diese zerbrechliche Existenz in Tod eines Handlungsreisenden ein: „Er ist ein Mann weit draußen auf den Wellen, und er reitet auf einem Lächeln und auf dem Glanz seiner Schuhe. Und wenn sie anfangen nicht mehr zurückzulächeln – das ist ein Erdbeben. Und dann bekommt man ein paar Flecken am Hut, und man ist fertig. Niemand kann diesem Mann einen Vorwurf machen.“ Meine Mutter ging zurück aufs College und suchte sich dann eine Arbeit, damit wir über die Runden kamen, und mir blieb es weitgehend selbst überlassen, mein Verständnis der Geschichte des Lebens und meiner Rolle darin auszubilden.
Mein Großvater, „Pop“, füllte in diesem kritischen Augenblick einen leeren Platz in meiner Seele aus. Er war mein Held, ein Cowboy und ein Gentleman in Stetson und Stiefeln. Die Sommer, die ich auf seiner Ranch verbrachte, waren der Traum eines jeden Schuljungen – Reiten, Frösche fangen, die behäbigen alten Kühe durch die Gegend scheuchen, wenn ich sicher war, dass niemand zuschaute. Ich weiß noch, wie ich immer in seinem alten Ford-Pickup mitfuhr, Pop mit seinem Cowboyhut und seinen ledernen Arbeitshandschuhen, wie er fast jedem zuwinkte, dem er unterwegs begegnete. Die Leute schienen alle mit einem gewissen Respekt zurückzuwinken. Das gab mir ein sicheres Gefühl, dass jemand die Sache im Griff hatte, jemand, der stark und liebevoll war.
Pop liebte mich als einen Jungen und spornte mich an, ein Mann zu sein. Er brachte mir bei, wie man ein Pferd sattelt und reitet – nicht nur zum Spaß, sondern um meinen Platz in der Arbeit auf der Ranch einzunehmen. Zusammen erkundeten wir die freien, Beifuß-bewachsenen Flächen im Osten Oregons, reparierten Zäune, kümmerten uns um krankes Vieh, angelten wie Huckleberry Finn mit Weidenruten und einem Stück Schnur. Frühmorgens holten wir uns Kaffee, Milch und Donuts unten im Diner, wo jeder uns mit Namen kannte. An den Sonntagnachmittagen machten wir Besuche bei Verwandten in den Ortschaften und Farmen ringsum. Da saßen wir dann zusammen und redeten und erzählten Familiengeschichten, die mir das Gefühl gaben, Teil von etwas zu sein, was größer war als ich. Obwohl meine eigene Welt durch das Erdbeben der Probleme meines Vaters erschüttert war, wusste ich, dass es eine andere Welt gab, in der alles in Ordnung war, und dass ich einen Platz darin haben konnte.
Während meiner Teenagerjahre wurden meine Besuche auf der Ranch seltener. Mein Vater, der mit seinen eigenen Schlachten genug zu tun hatte, war nicht in der Lage, mir beizubringen, wie ich die meinen schlagen musste. Ich lechzte nach dem Gefühl, dass jemand für mich da sei, und probierte jede Form des Protests aus, die für einen unbeaufsichtigten Jugendlichen in der amerikanischen Kultur verfügbar war. Mit fünfzehn wurde ich wegen Einbruchs festgenommen. Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, was meine Eltern sagten oder taten; vielleicht hatte ich ihnen sowieso schon das Herz gebrochen, wie es nur ein verlorener Sohn fertig bringt. Doch schon Stunden später konnte ich wieder frei herumlaufen. Oberflächlich betrachtet war ich erleichtert, der Strafe entgangen zu sein; doch tief drinnen, an dem Ort in unserem Herzen, wo sich die Geschichte ausbildet, war die Enttäuschung mehr, als ich ertragen konnte. Warum taten sie denn nichts? Ich wusste doch, dass ich etwas Falsches getan hatte; warum zeigte mir denn niemand den richtigen Weg? Das war ein schmerzhafter Pfeil. Die Botschaft jagte mir den tiefen Schrecken ein, dass es niemanden gab, der stark genug war, um sich um meine Seele zu kümmern, um mich aufzuheben und mir auf den richtigen Weg zu helfen, wenn ich gefallen war. Ich war allein.
Ich war siebzehn, als ich meinen Großvater zum letzten Mal sah. Der Gehirntumor, der ihn schließlich tötete, hatte ihm bereits einen furchtbaren Tribut abgefordert. Der Mann, der immer wie ein Baum im Leben gestanden hatte, war nun gebeugt und verwelkt. Seine Ranch, ein Bild seines Lebens, verfiel. Ich fand einfach keinen Kontext dafür, nichts Größeres, das diesem Geschehen einen erlösenden Sinn hätte geben können. So distanzierte ich mich von ihm und von diesem letzten Beweis, dass ich allein war in der Welt. Als er starb, brachte ich es nicht über mich, an der Beerdigung teilzunehmen.
Erst Jahre später, im Sommer 1993, stand ich zum ersten Mal am Grab meines Großvaters. Nach sechzehn Jahren hatte ich diese Pilgerfahrt angetreten, um mich der Wirklichkeit zu stellen, vor der ich so lange davongelaufen war. Dort lag sie in stillem, unbestreitbarem Triumph: die Botschaft der Pfeile.
Die meisten von uns spüren, dass wir allein sind in der Welt – ob wir das nun mit der Endgültigkeit empfinden, wie Brent und ich es taten, oder als eine unterschwellige Furcht in den hinteren Winkeln unseres Denkens. Niemand war je für uns da mit der Stärke, der Zärtlichkeit und der Beständigkeit, nach der wir uns sehnen. Selbst in den besten Situationen lassen uns die Leute letzten Endes im Stich. Unser persönliches Drama lässt uns wenig Hoffnung auf einen Autor, der die Geschichte zu einem guten Ende führen wird. Chesterton sagte, dass wir die Geschichte, in der wir uns befinden, gewiss missverstehen werden, und er hatte Recht. Dazu kommt, dass diejenigen, die uns am nächsten stehen, uns oftmals auch noch in dieser Fehldeutung bestärken.
Trotzdem müssen wir uns irgendeinen Reim auf die Dinge machen. Das Leben geht weiter, und auch wir müssen vorwärts gehen. Um teilzunehmen oder auch einfach nur zu überleben, werden wir irgendeine Geschichte finden, in der wir leben.