Читать книгу Die Politik Jesu - John Howard Yoder - Страница 10

KAPITEL 1 Die Möglichkeit einer messianischen Ethik Das Problem

Оглавление

Unsere Zeit erhebt einerseits den Anspruch, das Christentum hinter sich gelassen zu haben. Man spricht von der nachchristlichen Gesellschaft. Andererseits scheint Jesus, je mehr die traditionelle, kirchlich sanktionierte Auslegung seiner Worte und Werke verblasst, auf viele und besonders auf junge, kritische Menschen eine verstärkte Faszination auszuüben. Vielleicht ist es nur ein Zufall, dass seit Ende der 1960er Jahre viele junge Männer dem Jesus der Sonntagsschulplakate sehr ähnlich sehen. Auch die Rebellen der Studentenrevolte trugen Bart und langes Haar. Ihre Behauptung, Jesus sei ebenfalls ein Sozialkritiker, ein Agitator,2 ein sozialer Drop-Out und der Sprecher einer Gegenkultur gewesen, ist sicher nicht zufällig.

Unter den Theologiestudenten der westlichen Welt fiel die „Theologie der Befreiung“ auf fruchtbaren Boden, weil sie eben diese Behauptung aufstellt. Kann die christliche Ethik diese These genauso schlagfertig (bzw. leichtfertig) zurückweisen, wie sie oft aufgestellt wird? Könnte der Vorwurf mangelnder Ehrfurcht oder der Vereinnahmung für eigene Ziele nicht leicht auf sie zurückfallen? Oder steckt hinter dieser vielleicht übertriebenen Aussage eine biblische Wahrheit, die nun erst, da Revolution zum Schlagwort unserer Zeit geworden ist, in die allgemeine Wahrnehmung einbricht? Hat die ehrfurchtsvolle und „verantwortliche“ christliche Ethik in dieser Beziehung versagt?

Das behauptet diese Arbeit. Sie behauptet nicht nur, dass Jesus dem biblischen Zeugnis nach ein Modell radikalen politischen Handelns darstellt, sondern dass dieser Sachverhalt jetzt in der neutestamentlichen Forschung allgemein sichtbar wird, auch wenn die Neutestamentler ihn bisher nicht so entschieden vertreten haben, dass die Ethiker am anderen Wegrand ihn zur Kenntnis nehmen mussten.3

Eben dies zu tun, ist alles, was die vorliegende Arbeit leisten will; die Geschichte von Jesus so sprechen zu lassen, dass jeder, der sich mit Sozialethik befasst, zuhören kann, statt wie bisher mit einer Reihe von Standardausflüchten anzunehmen, Jesus sei nicht oder zumindest nicht in erster Linie relevant für gesellschaftliche Angelegenheiten.

Ein solcher Versuch der interdisziplinären „Übersetzung“ hat seine spezifischen, ernstzunehmenden Risiken. Er muss beiden Parteien, die er gegenseitig in Hörweite bringen will, übervereinfachend erscheinen, da er damit beginnt, die Grenzen und Axiome der jeweiligen Disziplin nicht zu respektieren. Zudem ist der „Übersetzer“ oder Brückenbauer immer irgendwie ein Fremder, in gewisser Weise ein Laie, der außerhalb seines Fachgebietes wildert. Wir können zur Entschuldigung nur geltend machen: Hätten die Experten die dringend benötigte Brücke gebaut, so hätte der Laie dazu nicht antreten müssen.

Unsere Arbeit versucht also die Beziehung zu beschreiben, die das Studium des Neuen Testaments4 mit der zeitgenössischen Sozialethik verbinden könnte, besonders da die zweite Disziplin sich zur Zeit vordringlich mit den Problemen der Gewaltausübung und Revolution beschäftigt.5 Die Theologen haben lange die Frage nach der Beziehung zwischen Jerusalem und Athen erörtert; hier wird behauptet, dass Bethlehem etwas über Rom – oder Massada – zu sagen hat.

Mit welchem Recht aber darf es einer wagen, ein Seil über den tiefen Graben werfen zu wollen, der gemeinhin die Disziplinen neutestamentlicher Exegese und zeitgenössischer Sozialethik trennt? Normalerweise müsste jedes Bindeglied zwischen diesen beiden Bereichen des Diskurses extrem lang und indirekt sein. Als erstes ist da die enorme Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu überwinden, und zwar mit Hilfe der Hermeneutik von der Exegese zur zeitgenössischen Theologie; sodann muss ein weiterer großer Schritt von der Theologie zur Ethik getan werden, über die Soziologie und Ernst Troeltsch. Aus der Perspektive des Kirchengeschichtlers, der normalerweise auf einer Insel zwischen beiden Abgründen sitzt und daher ein Amateur auf beiden Ufern ist, kann ich es nur aus zwei Gründen rechtfertigen, mich auf so amateurhafte Weise in das Problem zu stürzen. Zum einen scheint es, dass die Experten, die auf die lange Reise gehen, nie am Ziel ankommen. Die Exegeten entwickeln in ihren hermeneutischen Meditationen ausgedehnte Systeme der Kryptosystematik und das Feld der Ethik bleibt, wie es war; oder falls dort etwas Neues geschieht, wird es meist aus anderen Quellen gespeist.6

Der zweite Grund für meine Verwegenheit – er könnte selbst Gegenstand einer Debatte in der Exegetengilde sein – ist das radikale protestantische Axiom, das in jüngster Zeit unter dem Namen „biblischer Realismus“ wieder mit Leben gefüllt wurde. Danach ist es sicherer für das Leben der Kirche, das ganze Volk Gottes liest die ganze Breite des biblischen Kanons, als dass es seine Erleuchtung den diversen Filterungsprozessen anvertraut, durch die die Gelehrten der jeweiligen Zeit alle Wahrheit hindurchschicken möchten.7

Ich gehe daher im vorliegenden Buch das Risiko der Synthese weder blind noch unverantwortlich ein, indem ich vorschlage, den Jesus der kanonischen Evangelien mit der Gegenwart zu konfrontieren. Dieses gefährliche Wagnis bedeutet keine Respektlosigkeit gegenüber den vielfältigen, durchaus angemessenen historischen Fragen zur Verbindung zwischen dem Jesus der kanonischen Evangelien und den anderen Jesus-Figuren, die die Wissenschaft entwerfen kann.

Die Politik Jesu

Подняться наверх