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Gibt es eine andere Norm?

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Die zweite grundsätzliche Behauptung des vorherrschenden ethischen Konsenses folgt aus der ersten. Wie wir gesehen haben, ist Jesus selbst (sowohl seine Lehre als auch sein Verhalten) letztlich nicht ethisch normativ. Es muss also so etwas wie eine Brücke oder einen Übergang in eine andere Denkweise oder Gedankenwelt geben, sobald wir anfangen, über Ethik nachzudenken. Und zwar nicht nur eine Brücke vom ersten Jahrhundert in die Gegenwart, sondern auch von der Theologie zur Ethik oder vom Existenziellen zum Institutionellen. Eine gewisse, recht bescheidene Fracht lässt sich über diese Brücke befördern: vielleicht ein Konzept der absoluten Liebe und Demut, Glaube oder Freiheit. Aber die Fundamente der Ethik müssen auf unserer Seite der Brücke rekonstruiert werden.

Drittens: Die Rekonstruktion einer Sozialethik auf dieser Seite des Übergangs wird darum ihre Richtung vom gesunden Menschenverstand und der Natur der Dinge erhalten. Wir wägen ab, was „passend“ und „adäquat“ ist; was „relevant“ und „effektiv“. Wir sind „realistisch“ und „verantwortlich“. Alle diese Leitsätze verweisen auf eine Erkenntnistheorie mit dem klassischen Etikett natürliche Theologie. Die Natur der Dinge meint man in ihrer bloßen Gegebenheit angemessen zu erfassen. Recht ist, was das wesentlich Gegebene respektiert oder seine Verwirklichung fördert. Ob man dieser Ethik in der reformatorischen Form begegnet, wo sie als Ethik der „Berufung“ oder des „Standes“ bezeichnet wird, oder in der augenblicklich populären Form der „Situationsethik“, oder in den älteren katholischen Formen, wo „Natur“ in anderer Weise auftaucht – immer ist es der Struktur nach das gleiche Argument: durch die Beobachtung der Realitäten um uns herum, nicht durch das Hören einer Verkündigung Gottes, erkennen wir, was recht ist.14

Hat man diese Annahmen über die Quellen relevanter Sozialethik und über die geistliche Natur von Jesu Botschaft einmal akzeptiert, so kann man eine negative Rückkopplung bezüglich der Interpretation des Neuen Testaments selbst beobachten. Wir kennen nun die Behauptung, Jesu habe keine relevante Sozialethik praktizieren oder lehren können. Dann müssen die jüdischen und römischen Machthaber, die dachten, dass er gerade das täte, und ihn dafür verurteilten, ihn sehr missverstanden haben. Das ist ein Beweis der Verhärtung ihrer Herzen. Auch Matthäus, der die Lehren Jesu so anordnete und interpretierte, als wolle er daraus einen einfachen ethischen Katechismus machen, hat Jesus missverstanden. Aus seinem Missverständnis entwickelte sich das bedauerliche Phänomen, das protestantische Historiker „Frühkatholizismus“ nennen.15

Glücklicherweise, so fährt die Erklärung fort, wurden die Dinge bald durch den Apostel Paulus richtiggestellt. Er korrigierte die Tendenz zum Neo-Judaismus oder zum Frühkatholizismus durch die Betonung der Priorität der Gnade und der sekundären Bedeutung der Werke, so dass ethische Belange nicht mehr zu ernst genommen werden konnten.

wer eine Frau hat, [soll] sich in Zukunft so verhalten, als habe er keine, wer weint, als weine er nicht, wer sich freut, als freue er sich nicht, wer kauft, als würde er nicht Eigentümer, wer sich die Welt zunutze macht, als nutze er sie nicht.

1Kor 7,29ff (Einheitsübersetzung)

Die zweite paulinische Korrektur klärte die soziale Radikalität von Jesus selbst (nicht nur die judaisierende Fehlinterpretation Jesu) und rückte sie zurecht.16 Positive Achtung vor den Institutionen der Gesellschaft, sogar vor der Unterordnung der Frauen und vor der Sklaverei; Anerkennung der göttlich sanktionierten Legitimation der römischen Regierung; Anleihen bei stoischen Konzeptionen der Naturethik – das sind einige Elemente der paulinischen Richtigstellung; so dass die Kirche nun in der Lage war, eine Ethik zu konstruieren, zu welcher Person und Charakter Jesu – und besonders sein Lebensweg – keinen besonderen oder entscheidenden Beitrag mehr darstellten.

Angesichts dieses hastig skizzierten Musters der vorherrschenden Strukturen ethischen Denkens wird die systematische und die historische Theologie einige sorgfältige Fragen stellen müssen. Da ist die Frage nach der Autorität dieser hermeneutischen Annahmen.17 Wenn die Bedeutung Jesu so vom Verständnis seiner Jünger und seiner Feinde in Palästina abweicht, wenn diese einfachen Verständnisse erst durch einen hermeneutischen Filter gepresst und durch eine Ethik sozialen Überlebens und der Verantwortlichkeit ersetzt werden müssen, was ist dann aus dem Konzept der Offenbarung geworden? Gibt es überhaupt so etwas wie eine christliche Ethik? Wenn es keine christliche Ethik gibt, sondern nur natürliche menschliche Ethiken, denen Christen wie andere anhängen, bezieht sich dann diese extreme Preisgabe spezifischer Substanz nur auf ethische Wahrheit? Warum nicht auch auf jede andere Wahrheit?

Eine zweite Frage müssen wir stellen: Was wird aus der Behauptung der Menschwerdung, wenn Jesus nicht als Mensch normative Bedeutung hat? Wenn er Mensch ist, aber nicht Vorbild, ist das nicht die alte ebonitische Häresie? Wenn er irgendwie Autorität ist, aber nicht in seiner Menschlichkeit, ist das nicht ein neuer Gnostizismus?

Auch die innere Schlüssigkeit ist problematisch. Warum sollten Christen innerhalb der Machtstrukturen soziale Verantwortung ausüben, wenn ihr Handeln dort von denselben Maßstäben geleitet ist wie das der Nichtchristen?

Wollten wir diese Fragen vom systematischen oder historischen Ende aufrollen, so hätte das mit biblischer Forschung nichts zu tun. Wir könnten aber, da wir nun einmal durch diese Fragen sensibilisiert sind, wiederum am Anfang beginnen, und zwar so, dass wir versuchen, einen Teil des Neuen Testaments ohne die üblichen negativen Vorurteile über seine Verbindlichkeit zu lesen. Oder schärfer gesagt: Ich schlage vor, die Evangeliumserzählung mit der dauernd gegenwärtigen Frage zu lesen: „Gibt es hier eine Sozialethik?“ Mit anderen Worten, wir testen die den vorherrschenden Annahmen entgegenlaufende Hypothese, dass nämlich Dienst und Anspruch Jesu am besten so verstanden werden, dass Jesus den Menschen nicht die Vermeidung politischer Stellungnahmen empfiehlt, sondern gerade eine bestimmte soziale – politische – ethische Stellungnahme nahelegt.

Diese Studie geht also zwei recht verschiedene Aufgaben an. Die beiden unterscheiden sich in Inhalt und Vorgehensweise. Sie verlangen also auch nach verschiedenen Methoden und Veranschaulichungen.

1. Ich will versuchen, ein Verständnis Jesu und seines Dienstes zu skizzieren, aus dem die direkte Bedeutung Jesu für die Sozialethik ersichtlich wird. Das fällt in das Gebiet neutestamentlicher Forschung innerhalb der exegetischen Wissenschaft.

2. Ich werde außerdem zeigen, dass Jesus, so verstanden, nicht nur relevant, sondern auch normativ ist für eine zeitgenössische christliche Sozialethik.

Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass das Unternehmen nur dann von Bedeutung ist, wenn beide Antworten bejaht werden können. Wenn aus allgemeinen Gründen der systematischen oder philosophischen Theologie, wie sie lange Zeit die theologische Ethik weitgehend beherrschten, Jesus, wer immer er war, kein Modell für die Ethik ist, dann wird es im Detail bedeutungslos, wer er war und was er tat.

Wenn Jesus jedoch, anders als alle anderen Menschen, kein politisches Wesen war, oder wenn er weder Originalität noch Interesse gezeigt hätte, auf die Fragen einzugehen, die seine soziopolitische Umgebung ihm stellte, so wäre es witzlos, nach der Bedeutung seiner Haltung für uns heute zu fragen.

Um die Frage zu vereinfachen und bearbeiten zu können, schlage ich vor, dass wir uns hauptsächlich auf ein Dokument konzentrieren: auf den kanonischen Text des Evangeliums nach Lukas. Lukas’ erzählerische Linie bietet uns eine einfache Skizze, und seine redaktionelle Haltung wurde oft als Versuch angesehen, eine Bedrohung der mediterranen Gesellschaft oder der römischen Herrschaft durch die christliche Bewegung zu bestreiten. Dass wir unsere verstreuten Sondierungen auf Lukas konzentrieren, soll die Lektüre nicht lenken. Jeder andere Evangelientext hätte ebensogut benutzt werden können, und gelegentlich werden wir die Parallelen und Unterschiede in den anderen Evangelien heranziehen.

Auch soll unser einfacher Anfang mit dem kanonischen Text keinen fehlenden Respekt für die Wichtigkeit der kritischen und historischen Probleme, die hinter dem Text liegen, bedeuten. Aber die Distanz zwischen dem kanonischen Text und dem „historischen Jesus“, wie er „wirklich war“, ist nicht Gegenstand der gegenwärtigen Studie. Die Brücke vom Kanon nach heute ist schon lang genug.18

Unser Unternehmen hat nicht einmal so sehr mit dem neutestamentlichen Text als solchem zu tun, als mit den modernen Ethikern, die behauptet haben, die einzige Möglichkeit, von der Geschichte der Evangelien zur Ethik zu kommen, von Bethlehem nach Rom oder nach Washington oder Saigon, liege darin, diese Geschichte hinter sich zu lassen. Ich werde mehr die Ereignisse als die Lehre betrachten, mehr die Abfolge als die Substanz. Die nächsten Seiten werden eher Sondierungen als ein eingehendes Gutachten bringen.

Es ist auch nicht das Ziel dieser Arbeit, exegetisch originell zu sein. An keinem Punkt beabsichtige ich, nie gehörte Texterklärungen zu riskieren. Alles was ich hinzufüge, ist der Brennpunkteffekt einer durchgängigen, hartnäckigen Frage. Weil ich in diesem Punkt keinen Anspruch auf Originalität erhebe, kann ich auf einiges an pedantischem Zubehör verzichten, das hilfreich oder notwendig wäre, würde ich ganz neue Behauptungen verfechten.

Die Politik Jesu

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