Читать книгу Die Politik Jesu - John Howard Yoder - Страница 14

Warum nicht Jesus?

Оглавление

Eine zweite Komponente meiner seit 1972 anhaltenden Auseinandersetzung mit kritischen Kommentaren muss sich den Gründen (S. 11ff) zuwenden, die verschiedene Schulen der Ethik anführen, Jesus nicht unmittelbar als ethisches Modell zu nehmen. Damals identifizierte ich sechs solcher Gründe. Es finden sich noch weitere: So gibt es, selbst wenn wir Jesus nachfolgen wollen, eine historisch-kritische Skepsis, inwiefern der Text überhaupt ausreichend klare Aussagen ethischer Wegweisung liefert. Die Aufmerksamkeit der Experten für die Kluft innerhalb des Kanons zwischen dem, „was wirklich geschah“, und „was der Text tatsächlich sagt“, hat sich in der letzten Generation in komplexer Weise weiter entwickelt. Es gibt immer noch Forscher, die sehr skeptisch sind, was die Zuverlässigkeit der alten Texte in historischen Details betrifft. Andere zeigen größeres Vertrauen, dass die Texte einen verlässlichen historischen Kern enthalten.25 In beiden Fällen hat die Entwicklung der Forschung jedoch weder zur Entdeckung eines unpolitischen Jesus geführt, noch haben gerade die scharfsinnigsten Forscher es aufgegeben, sich auf die Autorität der Figur hinter dem Text zu beziehen.26

Eine weitere historisch-kritische Debatte fragt nicht, ob in den alten Texten klare Aussagen zu finden sind, sondern ob das Gefundene innere Konsistenz hat. Jeder neutestamentliche Autor hatte seine eigenen Quellen und seine spezifische Leserschaft. Ein und derselbe Autor konnte unterschiedliche Leser in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichem Rat ansprechen. Jeder Redakteur konnte verschiedene Traditionen aus mehr als einer Quelle weitergeben. Diese Beobachtung mag fundamentalistische Grundannahmen infragestellen oder die einer altprotestantischen Schulphilosophie, in denen der Inhalt des Glaubens, dem die Menschen treu bleiben wollen, nicht wirklich biblisch ist, sondern ein nahtlos konsistentes System von Lehrsätzen darstellt, worin alle offenbarten „Lehren“ eine zusammenhängende Einheit bilden. Diese Wahrnehmung von Vielfalt und Unterschiedlichkeit untergräbt jedoch in keiner Weise ein postkritisches oder narratives Verständnis. Für ein solches Verständnis besteht das Zeugnis eines Textes zum einen aus dessen ursprünglicher Richtung und bewegt sich zum anderen auf der Linie früher Überlieferung bis zur gegenwärtigen Herausforderung, und zwar innerhalb des Lebenszusammenhangs der Gemeinschaft für die und zu der der Text spricht oder gesprochen hat. Aus dieser Perspektive ist Einheit in Vielfalt glaubwürdiger und hilfreicher, als simple Uniformität es sein könnte.

Unter jüngeren Forschern gibt es eine allgemeine theologische Voreingenommenheit gegen die historisch partikulare Qualität der narrativen und prophetischen Stränge der Schrift und ihre Verkündigung eines „handelnden Gottes“27 zugunsten der „weisheitlichen“28 Überlieferung, also zugunsten weniger zeit- und ortsgebundener ethischer Einsichten. Niemand wird abstreiten, dass das Alte wie das Neue Testament sein Zeugnis in zahlreichen literarischen Gattungen entfaltet.29 Daraus folgt jedoch weder priori noch empirisch, dass Jesus als Weiser,30 als Rabbi,31 als inkarnierte Weisheit32 politisch weniger relevant wäre als Jesus, der gewaltfreie Zelot.

Es gibt den Versuch einiger systematischer Theologen, das Zeugnis der Evangelien durch ein wesentlich späteres erkenntnistheoretisches Raster zu filtern. Sehr populär ist das „distributive“ erkenntnistheoretische Modell der Trinität, wie es von H. Richard Niebuhr vertreten wird.33 Man solle die Wichtigkeit Jesu für die Ethik nicht übertreiben, argumentiert Niebuhr, denn Gott, der Vater, steht für eine andere (wohl eher institutionell konservative) Sozialethik, die sich auf ein Verständnis der Schöpfung oder Vorsehung gründet, deren Inhalt sich nicht von Jesus, sondern anderswo herleitet. Gegründet auf die seit Pfingsten in der Kirchengeschichte fortschreitende Offenbarung, führe uns Gott, der Heilige Geist, ebenfalls zu einer anderen Ethik.34 Dieses einflussreiche Schema verdient sorgfältige kritische Aufmerksamkeit,35 doch da es sich aus einer modernen, dem Neuen Testament fremden Erkenntnistheorie herleitet, gehört das Argument nicht hierher. Niebuhrs Analyse macht keine der drei Personen der Trinität mehr oder weniger politisch als die anderen. Würde eine solche Differenzierung überhaupt inhaltliche Differenzen herausarbeiten,36 so zugunsten einer anderen politischen Ethik, nicht aber zugunsten einer apolitischen Haltung. Sie würde voraussetzen, dass Jesus politisch ist.37

Jesus kam nicht, eine Lebensweise zu lehren. Seine Rolle ist die des Erlösers. Und dass wir einen Erlöser brauchen, zeigt sich schon darin, dass wir nicht nach den von ihm vertretenen Idealen leben.38 Die klassische lutherische Tradition behauptet mit dem Konzept des usus elenchticus, die Funktion des Gesetzes sei weniger, uns zu sagen, was wir tun können, als uns auf die Knie zu bringen, weil wir es nicht tun können.

A. E. Harvey39 liefert eine erhellende Diskussion, auf welche Weise verschiedene intellektuelle Kräfte auf der Suche nach einer zu verallgemeinernden Ethik die charakteristischsten Lehren Jesu beiseite lassen. Die von ihm zitierten Überlegungen überlappen sich mehr oder weniger mit den oben aufgeführten, wenn auch in anderer sprachlicher Formulierung. Harveys Projekt unterscheidet sich von dem dieses Buches: a) Er konzentriert sich auf eine Handvoll „schwierige“ oder „charakteristische“ Texte, vor allem aus der Bergpredigt, wogegen ich mich dagegen wende, diese wenigen Kapitel herauszugreifen. b) Mehr, als ich es tue, vertraut er der Fähigkeit des Forschers, hinter den Texten unterschiedliche Traditionsstränge oder -schichten zu rekonstruieren, die jeweils mit unterschiedlichen Glaubensstilen und -schattierungen verschiedener Untergemeinschaften des ersten Jahrhunderts korrespondieren. c) Er postuliert eine klare Trennung zwischen „Aphorismen“ und dem, was als Regeln für das Gemeinschaftsleben „gemeint war“. d) Im größten Teil seiner Darstellung lässt er die Möglichkeit außer acht, der Grund für Jesu Radikalität, „eine Maxime ihrer logischen Schlussfolgerung zuzuführen“, könne im Kommen des Gottesreiches liegen.40

Die Politik Jesu

Подняться наверх