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Das öffentliche Wirken: Lukas 4,14ff

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Lukas beginnt nicht mit einer Zusammenfassung dessen, was Jesus „zu predigen begann“. Anders Matthäus und Markus. Beide berichten, dass Jesus in seiner ersten Botschaft dieselben Worte gebraucht wie vorher Johannes der Täufer (und später die Jünger): „Das Reich Gottes ist nahe; tut Buße und glaubt an die gute Nachricht.“ Die Sprache – „Königreich“, „Evangelium“ – kommt aus dem politischen Bereich. Diese eigentümliche Wortwahl wäre äußerst unangemessen, hätte sich Jesus, gegen die Erwartungen des Johannes, nicht für diesen Bereich interessiert. Dass „Königreich“ ein politischer Begriff ist, braucht kaum hervorgehoben zu werden; dass aber „Evangelium“ nicht irgendeine alte willkommene Botschaft ist, sondern eine öffentlich bedeutsame Bekanntmachung, die es wert ist, durch Eilboten weiterbefördert und durch ein Fest empfangen zu werden, ist dem normalen Bibelleser weniger bewusst.

Auch Lukas spricht von der Verkündigung „des Evangeliums vom Königreich“ (4,43), doch er gebraucht diese Begriffe nicht gleich am Anfang von Jesu Wirken; für Theophil hätten sie nicht dieselbe Dichte des terminus technicus wie für die Leser des Markus. Lukas entfaltet stattdessen denselben Anspruch in einem ausführlicheren Bericht aus der Synagoge zu Nazareth.

Der Abschnitt aus Jesaja 61, den Jesus hier auf sich anwendet,52 ist nicht nur eindeutig messianisch: er formuliert die messianische Erwartung auch in ausdrücklich sozialen Begriffen.

Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen, den Gefangenen Befreiung zu verkündigen und den Blinden das Augenlicht, die Zerschlagenen zu befreien und zu entlassen, ein angenehmes Jahr des Herrn zu verkündigen.53

Lk 4,18–19

Es ist gut möglich, dass das „angenehme Jahr des Herrn“ im Buch des Propheten sich auf ein besonderes Ereignis am Ende seines Zeitalters oder in der unmittelbaren Zukunft der Gefangenen in Babylon (oder auf beides) bezog; aber für das rabbinische Judentum und somit für die Zuhörer Jesu bedeutete es sehr wahrscheinlich keins von beiden, sondern vielmehr das Jubeljahr, die Zeit, in der die Ungleichheiten, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten, ausgelöscht werden und das ganze Volk Gottes am gleichen Punkt wieder anfängt. Erwartet wird also nicht, dass Jesus Palästina aus dem Zeitverlauf am Ende herausnimmt, sondern vielmehr, dass der gleichmachende Einfluss des Sabbatjahres nach Palästina kommt.

In einem kleinen genialen Buch54 hat André Trocmé das Beweismaterial gesammelt, dass Jesu Konzept des herannahenden Reiches weitgehend aus dem prophetischen Verständnis des Jubeljahres entlehnt ist. Diese Hypothese wirft Licht auf viele Anspielungen und einige der schwierigen Gleichnisse. In der Ausschließlichkeit, mit der Trocmé seine Hypothese als Schlüssel benutzt, mag man ihn zu originell und phantasievoll finden. Aber es ist nicht, wie aus dem Schweigen, womit kontinentale Neutestamentler auf Trocmés Buch reagierten, geschlossen werden könnte, ein gänzlich neuer oder undenkbarer Gedanke.

Schon Standardkommentare wie La Grange und Plummer lieferten dieselbe Interpretation dieser Passage.55 Der Unterschied liegt eher im Grad der Bereitschaft, das Licht, das dieser Abschnitt auf das übrige Wirken Jesu und auf sein Selbstverständnis werfen könnte, ernstzunehmen.

Es geht uns hier nicht darum, die Ursprünge des Sabbatjahres und des Jubeljahres zu diskutieren, die vermutlich aus einer Art Bankrott- und Verpfändungsregelung im alten Israel herrühren.56

Noch brauchen wir zu diskutieren, ob und in welchem Ausmaß die Vorschriften in Levitikus 25 jemals buchstäblich eingehalten wurden57, sei es in Form eines Fünfzig-Jahre-Rhythmus für bestimmte Verpflichtungen oder als umwälzende wirtschaftliche Reorganisation, die alles Eigentum sofort umverteilte. Wir konzentrieren uns auf den prophetischen Gebrauch der Jubeljahrsvision. Mit Levitikus 25 blieb die Vision einer Zeit lebendig, in der das wirtschaftliche Leben von Grund auf neu beginnen sollte; und das Zeugnis in Jesaja 61 zeigt die Fruchtbarkeit dieses Textes als Vision der kommenden Erneuerung.

Mindestens einmal wurde diese Vision des Jubeljahres in Israel als konkrete Erfahrung lebendig. Jeremia (Kap. 34) berichtet von einer Erneuerung des Bundes im belagerten Jerusalem; König Zedekia setzte das alte Gesetz wieder in Kraft und verkündete die Freiheit aller hebräischen Sklaven. Die Sklavenhalter jedoch fackelten nicht lange, nahmen die freigelassenen Sklaven wieder gefangen und unterwarfen sie erneut.58

Eine direkte Antwort darauf sind die prophetischen Worte, mit denen Jeremia im Namen JHWHs, des Gottes Israels, an die Bedeutung der Freilassung im Sinaibund erinnert; ausdrücklich wird festgestellt, dass Jerusalem wegen der Nichteinhaltung des erneuerten Bundes in die Hände Nebukadnezars fällt. „Ihr habt nicht auf mich gehört, dass ihr, ein jeder für seinen Bruder und ein jeder für seinen Nächsten, Freilassung ausgerufen hättet. So rufe ich denn um Freilassung für euch aus (d. h. ich liefere euch aus), spricht der Herr, dass ihr dem Schwert, der Pest und dem Hunger verfallen sollt“ (Jer 34,17). Bei der prophetischen Vision geht es also um die Erneuerung des Gottesvolkes. Als solche meint sie beides: die konkrete Erneuerung, die gelegentlich in der Vergangenheit geschehen und jetzt noch möglich ist, und auch die Erneuerung nach dem Ende der Zeiten – beides vollzieht sich in Form des Jubeljahres. Dieselbe Vision findet sich in Jesaja 58,6–12. Jesus macht also keinen willkürlichen Gebrauch von Jesaja.59

Wir müssen folgern, dass Jesus dem buchstäblichen Sinn seiner Worte nach, ebenso wie Maria und Johannes, den bevorstehenden Anbruch einer neuen Herrschaft ankündigte, die man daran erkennen sollte: Die Reichen geben den Armen, die Gefangenen werden befreit, und die Menschen erhalten ein neues Bewusstsein (metanoia), wenn sie diese Botschaft glauben.

Wir wissen nicht genau, was Jesus mit der Feststellung meinte, dass „dieses Wort erfüllt ist“. Wie ist Jesu Anspruch zu verstehen, in seiner Person beginne gerade jetzt etwas zu geschehen? Geschah überhaupt etwas? Kündigte er ein Ereignis an, dessen Verwirklichung vom Glauben seiner Zuhörer abhängig war, so dass es schließlich dann doch nicht geschehen konnte wegen ihres Unglaubens? Oder kündigte er etwas an, das dann wirklich geschah, aber für eine Weile wenig sichtbar war?

Das ist eine ernstzunehmende Frage. Doch handelt es sich um eine Frage der systematischen Hermeneutik, die von Lesern in den Lukastext hineingelesen wird, die nicht dabei waren. Diese Frage hat damit zu tun, inwieweit die von Jesus versprochene Erfüllung historische Realität war. Sie hat nichts mit der klaren Tatsache zu tun, dass es im Text um ein soziales Anliegen geht. Wir mögen große Schwierigkeiten haben, herauszubekommen, wie dieses Ereignis stattfand oder hätte stattfinden können; doch was stattfinden sollte, ist klar: eine sichtbare sozio-politische, ökonomische Neuordnung der Beziehungen im Volke Gottes, und das durch sein Eingreifen in der Person Jesu als des Gesalbten und mit dem Geist des Begabten.

Mit dem Zusammenstoß in der Synagoge erregt Jesus erstmals direktes Ärgernis bei seinen Hörern. Unter Berufung auf die Propheten verkündet er, dass das neue Zeitalter auch für die Heiden offenstehe. Diese zweite Stoßrichtung scheint nicht aus der Jubeljahrsverkündigung zu stammen; sie erwächst vielmehr aus Jesu Antwort auf den Unglauben seiner Zuhörer. Zwischen beiden Themen besteht ein eher negativer Zusammenhang: das zweite Anliegen, das sich gegen den ethnischen Egoismus Israels richtete, verhinderte, dass das erste im nationalistischen Sinne missverstanden wurde. Der Hinweis des Propheten auf die Gefangenen und Unterdrückten bleibt also nicht auf Israel oder das Judentum im Ganzen als kollektiv Unterdrückte beschränkt; dafür ist die Befreiung zu umfassend. Die neue Zeit ist für alle Menschen da, und das Zögern der Einwohner von Nazareth wird die weitere Verkündigung nur beschleunigen.

Die Politik Jesu

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