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EINFÜHRUNG DES HERAUSGEBERS

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Bewegt man sich in der Geschichte der Osteopathie, begegnen einem so manche Rätsel: Warum schrieb Still nie über spirituelle Aspekte in seiner Arbeit? Warum erwähnte Sutherland den großen Einfluss von Walter Russell und Emanuel Swedenborg nicht? Warum war David Palmer, der Begründer der Chiropraktik, mehrere Wochen Gast im Hause Still? All diese und viele weitere noch unbeantwortete Fragen werden aber von einer überragt: Warum ist John Martin Littlejohn nur sehr wenigen Kennern der Osteopathie ein Begriff?

Anders als Still, dessen Texte ihre Wurzeln in der um die Mitte des 19. Jahrhunderts gebräuchlichen, romantischen Wissenschaftssprache haben und gespickt sind mit Anekdoten, persönlichen Ansichten, Metaphern und poetischen Umschreibungen, brilliert Littlejohn durch logische Klarheit, zielführende Inhalte, exakte Beschreibungen und intellektuelle Komplexität. Nach dem Fachlektorat steht für mich jedenfalls fest: Littlejohn hat Stills visionäre osteopathische Philosophie aus der Wildnis geholt und wissenschaftlich hoffähig gemacht.

STILL, LITTLEJOHN, SUTHERLAND

Nachdem A. T. Still (1828–1917) ihn durch seine Behandlungsmethode von einem langjährigen Leiden befreit hatte, trat Littlejohn Stills berühmter American School of Osteopathy (A.S.O.) bei, nahm dort 1898 eine Lehrtätigkeit auf, überarbeitete gründlich den Lehrplan, führte wissenschaftliche Forschungsarbeiten ein – und war zugleich Schüler an der A.S.O.. W. G. Sutherland (1873–1954), der spätere Begründer der Kraniosakralen Osteopathie, besuchte die gleiche Klasse wie er und besserte sein Studiengeld auf, indem er die Texte seines Lehrers und Mitschülers Littlejohn Korrektur las. Inwieweit die Korrekturarbeiten an Littlejohns unzähligen Texten ihn zu seinen späteren Arbeiten inspiriert haben, darüber lässt sich nur spekulieren. Nach der Lektüre des Kompendiums wird jedenfalls klar, dass Littlejohn Sutherland mindestens ebenso beeinflusst haben dürfte wie Still.

Fest steht in jedem Fall, dass Littlejohn Stills osteopathische Philosophie in ihren Grundprinzipien nicht einfach unverändert übernommen und mit wissenschaftlichem, Feinschliff versehen, sondern sie auch um so bedeutende Bereiche wie Physiologie und Psychologie erweitert hat. Gedanken der Integration und der Erweiterung des Organismus in seiner Wechselwirkung mit der Umwelt, sowie ein neues, bis heute bahnbrechendes biomechanisches Konzept und die zentrale Bedeutung geschulter Finger gehen ebenso auf ihn zurück wie die Ausarbeitung der ersten wirklich hochschulfähigen osteopathischen Curricula und die Gründung von drei der bedeutendsten Fachzeitschriften jener Zeit: The Journal of Science of Osteopathy, The Osteopathic World und The Journal of Osteopathy. Unmengen historischer Schätze warten hier noch auf die Osteopathie.

ZUR TEXTAUSWAHL

Aus den eben genannten Fachzeitschriften stammen 57 der 59 in diesem Kompendium vorliegenden Abhandlungen. Die Artikel wurden in chronologischer Reihenfolge belassen und spiegeln so die Entwicklung von Littlejohns Denken wider. Inhaltlich können drei Schwerpunkte ausgemacht werden: Theorie und Praxis der Osteopathie, Berufspolitik und Allgemeines rund um die Osteopathie. Aufgrund der großen Anzahl von Artikeln lassen sich Redundanzen nicht vermeiden, daher wird dasselbe Thema zuweilen in mehreren Artikeln nahezu gleich abgehandelt. Dennoch bietet jede Ausführung ihren eigenen Reiz. Zudem führen erst die Wiederholungen beim Studium der Texte ganz im Sinne repetitio mater est studiorum zu einem wirklich tieferen Verständnis der Inhalte.

Viele der Artikel sind von besonderem historischem Wert, da sie einen guten Überblick über die Situation der Osteopathie insbesondere zwischen 1898 und 1903 bieten. Deshalb stammen die meisten der ausgewählten Texte aus dieser Zeit. Für all jene, die mehr über Littlejohn erfahren wollen, empfiehlt sich selbstverständlich ebenfalls das Studium zahlreicher auch später veröffentlichter Texte; eine Veröffentlichung in diesem Kompendium hätte aber den Rahmen gesprengt.

Am Ende des Kompendiums finden Sie noch Protokollauszüge aus einer Anhörung Littlejohns im Rahmen des Anerkennungsverfahrens der Osteopathie in England aus dem Jahr 1935 sowie den Beginn von Littlejohns anschließend verfasster Verteidigungsschrift. Wie bei den Fachartikeln musste auch hier aus Platzgründen eine Selektion erfolgen, sodass die beiden Texte nur einen kleinen Teil des gesamten Vorgangs beleuchten können.

ALLGEMEIN

Nach dem Studium der vorliegenden Texte werden Sie verstehen, weshalb weder Still noch Littlejohn noch Sutherland viszeralen Techniken eine so große Bedeutung beimaßen, wie dies heute der Fall ist. Alle drei konzentrierten sich bei ihrer Arbeit auf die Befreiung der Flüssigkeiten – insbesondere des Nervenwassers – und der Nervenleitungen, um eine Balance zwischen Zentralem und Vegetativem Nervensystem zu erreichen. Diese Balance galt allen dreien als Schlüssel zum Wirken der inhärenten Heilungsmechanismen im Menschen (Still: Apotheke Gottes, Littlejohn: Lebenskraft, Sutherland: Atem des Lebens). Alle Behinderungen, auch jene, die wir heute als ‚energetisch‘ bezeichnen, sind demzufolge auf ursprünglich mechanische Läsionen zurückzuführen, woraus folgt, dass allen Behandlungen zunächst einmal eine ebenfalls rein mechanische, d. h. physische Befundung vorausgehen muss. Hierbei kommt der Beurteilung der vegetativen und zerebrospinalen Zentren allerhöchste Priorität zu, wird hierdurch doch auch der für die Lebensprozesse absolut essenzielle Blutfluss gesteuert. Anders als viele glauben, räumen die drei Gründerväter damit den beiden Nervensystemen eine mindestens ebenso große Bedeutung ein wie dem Blutfluss.

Die große klinische Herausforderung bei Littlejohn liegt demnach in einem Umschwenken vom direkten Denken hin zu einem übertragenen, indirekten Arbeiten, zumeist übrigens, über lange Hebel. Insbesondere seine allgemeine Behandlung, d. h. die Bearbeitung der gesamten Wirbelsäule durch Befreien der Weichteile und allem voran durch sanftes und rhythmisches Artikulieren der Facettengelenke wartet noch bis heute auf ihre Etablierung innerhalb der Osteopathie. Das Konzept des body adjustment von John Wernham, welches er aus Littlejohns lecture notes kompiliert hat, bildet hier eine rühmliche Ausnahme.

Von zentraler klinischer Bedeutung ist aus meiner Sicht Littlejohns Gedanke, dass es im Grunde keine Pathologie, sondern nur eine ‚verkehrte‘ Physiologie gibt. In der Praxis hat das enorme Auswirkungen, denn so betrachtet, ist alles in Ordnung und möglich, solange der Mensch / Patient lebt. Erkrankungen sind demnach normale und physiologische – wenn auch extreme – Prozesse im Organismus. Es gilt also nicht, etwas ‚Böses wegzumachen‘, wie wir es aus der pathologieorientierten Organmedizin kennen, sondern lediglich dabei zu helfen, die individuelle Physiologie wieder dem individuellen Organismus anzupassen (nicht korrigieren!). Wer diese von Grund auf positive Sichtweise verinnerlicht, wird auch die entsprechenden förderlichen Auswirkungen auf die eigene Persönlichkeit erfahren. In meinen Augen stellt dies Littlejohns größtes Geschenk an die Osteopathen dar.

ZUR SPRACHE

Versetzen Sie sich bei der Lektüre in die Zeit zurück, in der diese Schriften verfasst wurden, und beurteilen Sie nicht jedes Wort und jede Aussage nach heutigen Kriterien. Dann werden sich überall Schatztruhen für Sie öffnen und Sie reich belohnen. Dass insbesondere die Begriffe spirit, consciousness, soul, etc. auch in Bezug auf die Terminologie von Still und Sutherland in ihrem korrekten Kontext ins Deutsche übertragen wurden, ist dem Übersetzer Dr. Martin Pöttner zu verdanken. Im englischen Original prägte Littlejohn eigene Begriffe wie therapeusis oder articulability. Hier wurde beim Übersetzen versucht, ein sprachliches Adäquat zu finden, dass dem Kontext entspricht, ohne dabei verkünstelt zu wirken.

Dass manche Begriffe auf den ersten Blick falsch erscheinen (sakroiliakal), ist auf die historische Terminologie zurückzuführen, die aus Gründen der Authentizität möglichst unverändert belassen wurde.

Wie immer bei englischen Autoren sind auch bei Littlejohn im Originaltext medizinische Fachausdrücke teils lateinisch, teils englisch wiedergegeben. Mit Rücksicht auf Littlejohns Stil habe ich – wie auch schon bei Still und Sutherland – auf eine Vereinheitlichung verzichtet. Die Altphilologen unter den medizinisch ausgebildeten Lesern mögen mir dies verzeihen.

ABSCHLIESSEND

Wie vor ihm Still und nach ihm Sutherland beschäftigte sich Littlejohn intensiv mit jener Frage, die – nicht nur innerhalb der Osteopathie – über allen anderen Fragen steht: Was ist Leben? Und ebenso wie die letzten Seiten aus Forschung und Praxis1 erahnen lassen, von welcher Größe Stills Geist und von welcher Weite sein Fühlen war, bezeichnet die folgende Textpassage m. E. nach all das, wofür Littlejohn gestanden hat:

„Es liegt eine ganz eigene Heiligkeit in der Wissenschaft und Kunst der Heilung. Sie müssen sich den erschütterndsten Szenen stellen, die Sterbliche jemals zu sehen bekommen, und das große Vertrauen empfangen, das Menschen geben können. Können Sie sagen, woher das Leben kommt, wohin es geht und welchem Zweck es dient? Wenn Sie Ihre Hände auf einen Kranken legen, dann tun Sie das so ehrfürchtig, als würden Sie den Urmechanismus von Erde und Himmel berühren, den Körper des Menschen, die vollkommenste Verkörperung göttlicher Weisheit. Denken Sie stets daran, dass Ihr Beruf auch vom wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen untadelig ist. Die reine Liebe zur Wissenschaft um der Wissenschaft willen ist ein edles Ideal. Tausende von Jahren sind vorbeigezogen, hinein in das Geheimnis des für alle Zeit Vergangenen, damit Sie diese Wissenschaft kennenlernen können. Die Wissenschaft aus Tausenden von Jahren hat im Vorüberziehen ihr üppig beschriebenes Blatt entrollt, damit die Beute der Zeit Sie bereichern möge. Was werden Sie tun mit diesen Schätzen, die in Ihren Händen liegen? Ein verwöhntes Kind der Wissenschaft werden? Oder der heroische Meister der jüngsten Wahrheit? Lassen Sie nicht zu, dass der fluchwürdige Hunger nach Gold2 das Wesentliche in Ihrem Leben auffrisst! Sie sollten den Ehrgeiz haben, den Wettlauf um Ruhm zu gewinnen, der nicht vergiftet ist von der Gier nach Ruhm.” 3

Ich hoffe, das vorliegende Kompendium trägt dazu bei, dass John Martin Littlejohn schließlich jenen Rang zuerkannt bekommt, den er mehr als verdient: als einer drei Gründerväter der modernen Osteopathie und als bedeutendster Osteopath des 20. Jahrhunderts!

DANKSAGUNG

Wie immer gebührt mein besonderer fachlicher Dank der kanadischen Osteopathin Jane Stark, der international renommiertesten Osteopathiehisorikerin unserer Zeit. Ihre Arbeit der letzten Dekade wird m. E. eine weitaus größere und langfristigere Bedeutung für die gesamte Osteopathie haben als jede klinische Forschungsarbeit, und ich erachte es als Privileg in dieser Phase der Geschichte der Osteopathie mit Jane so eng kooperieren zu dürfen.

Martin Collins, dem ehemaligen Präsidenten der British School of Osteopathy, sowie Debra Summers, der Archivarin des Still National Osteopathic Museum in Kirksville, MO., gebührt mein ganz besonderer Dank bei der Beschaffung der in diesem Kompendium übersetzten Originalartikel.

Dr. Martin Pöttner hat, wie schon so oft zuvor, auch bei Littlejohn in kürzester Zeit enorme Übersetzungsarbeit geleistet. Ihm gilt mein Dank ebenso wie meiner Lektorin, Frau Elisabeth Melachroinakes, die Dr. Pöttners Rohfassung mit dem nötigen Feinschliff versehen hat. Ohne dieses Team wäre das Erstellen des vorliegenden Werkes in dieser Qualität undenkbar gewesen.

Für die hervorragende Verarbeitung war wie gewohnt das Berufsbildungswerk für Sprach- und Hörgeschädigte in München unter der fachkundigen Leitung von Herrn Gerhard Strobl verantwortlich, dem ebenso mein uneingeschränkter Dank gilt.

Schließlich gilt mein ganz besonderer Dank Johanna, Suahli, Lucy, Luka und Xenia, die mir in den schwierigen Zeiten seit Beginn des Littlejohn-Projektes immer dann Kraft gegeben haben, falls dies nötig war, und natürlich auch Monika für ihre bedingungslos liebende und zutiefst inspirierende Begleitung in dieser Phase meiner Lebensreise.

Viel Vergnügen bei der Lektüre und

viel Freude und Erfolg mit Ihrer Osteopathie!

Christian Hartmann

Pähl, August 2009

Das große Littlejohn-Kompendium

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