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VORWORT DES ÜBERSETZERS

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Die Eigenart der vorliegenden Übersetzung hängt von bestimmten Entscheidungen ab, die ich als Übersetzer aus einem bestimmten Verständnis der Texte John Martin Littlejohns treffen musste. Diese Entscheidungen werden in der Folge an drei Punkten erläutert. Zunächst beschreibe ich Littlejohns wissenschaftssystematische Auffassung der Osteopathie (1). Dabei skizziere ich auch bestimmte biografische Aspekte und grundlegende Auffassungen Littlejohns. Sodann beschreibe ich die Position Littlejohns zu den Anerkennungsprozessen der Osteopathie seitens der einzelnen Staaten in den USA und durch das Vereinigte Königreich (2). Das vorliegende Kompendium enthält hierzu sehr viele historische Quellen erster Güte, sodass sich dieser Punkt der Entwicklung der Osteopathie in den Vereinigten Staaten und Großbritannien bis in die 1930er Jahre aus dem Kompendium historisch rekonstruieren lässt. Schließlich thematisiere ich das Verhältnis von A. T. Still und Littlejohn in wissenschaftsphilosophischer Hinsicht (3). Auch hierzu gibt es nach meiner Lektüre einschlägiger Literatur eher Überraschendes und bislang osteopathisch offenbar noch nicht hinreichend Beachtetes im vorliegenden Kompendium zu lesen.

DIE OSTEOPATHIE ALS UNABHÄNGIGES SYSTEM DER HEILUNG

Die klassische Osteopathie ist in einem kulturellen Klima entstanden, das durch den technisch-wissenschaftlichen Fortschritt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der sich ökonomisch zu bewähren schien, durch die Evolutionslehre vor allem in der Gestalt Herbert Spencers und durch die amerikanische Romantik, den sogenannten Amerikanischen Transzendentalismus, geprägt war. Wer daran noch Zweifel hatte, wird durch das vorliegende Littlejohn-Kompendium eines Besseren belehrt. Littlejohn hat diesen historischen Zusammenhang schon 1899 in der Psycho-Physiology4 dargelegt. Im hier vorliegenden Kompendium finden sich reiche Belege für diesen Sachverhalt.

Littlejohn hatte schon eine beachtliche wissenschaftliche Biografie vor allem in Glasgow und New York durchlaufen, als er wegen einer sehr schweren Krankheit auf Andrew Taylor Still traf.5 Ärzte in Großbritannien hatten ihm geraten, einen Klimawechsel vorzunehmen, der ihn zunächst in ein Sanatorium auf Long Island, dann aber weiter in ein Sanatorium im mittleren Westen Amerikas geführt hatte. Seine wissenschaftliche Laufbahn musste er dabei zeitweise unterbrechen, sodass er seine Promotionsabschlussprüfung in Politischer Philosophie an der Columbia University, New York, nicht ablegen konnte, obgleich er eine nicht unbeachtliche Dissertation zur politischen Theorie in der Scholastik bis Hugo Grotius vorgelegt hatte. In Glasgow hatte er Naturphilosophie mit dem Schwerpunkt Physik u. a. bei Lord Kelvin studiert. In diesem Kontext hatte er auch Herbert Spencer kennengelernt.6 Er erwarb neben dem Magister Artium die Grade eines Bachelor der Theologie und eines Bachelor in Jura. Daneben hatte er sich Grundkenntnisse in Physiologie und Medizin angeeignet. Der Schwerpunkt seiner Studien lag im philosophisch-politischen und juristischen Bereich, weshalb er ein entsprechendes Forschungsstipendiat als Fakultätsmitglied an der Columbia University in New York erhielt, wobei Littlejohn betont, diese habe damals noch Columbia College geheißen.7 Dieses schloss er aus Krankheitsgründen nicht ganz ab und wechselte in den Westen. Durch Empfehlung von Mitgliedern der Columbia University wurde er Präsident des Amity College. Von hier aus hat er sich offenbar irgendwann nach Kirksville zu A. T. Still begeben – und dessen ‚geschickte Finger‘ halfen, Littlejohns Krankheit stark zu verbessern.8

Danach wurde er schnell Mitglied der Kirksviller Fakultät, wo er seit 1898 Physiologie lehrte, wobei er zugleich in Chicago Medizin studierte. Bald wurde er Dekan der Kirksviller Fakultät, wechselte aber 1900 ganz nach Chicago, wo er eine eigene osteopathische Schule eröffnete. Zugleich aber setzte er sein Medizinstudium dort fort, und schloss es auch ab. Zudem wurde er für einige Jahre Physiologieprofessor in Chicago am Hering College, einer ‚regulären‘ medizinischen Schule.

Diese dürren Punkte sollten genügen, um zu verdeutlichen, dass Littlejohn über die Osteopathie hinaus weit gespannte wissenschaftliche und philosophische Interessen verfolgte. Die erhebliche Verbesserung seines sehr schwierigen Krankheitszustandes nach einer Schädelverletzung durch die Behandlung seitens Stills belehrte ihn darüber, dass die Osteopathie einen realen Gehalt besitzen müsse. Er studierte Osteopathie in Kirksville und wurde überzeugter Osteopath. Wie seine gleichzeitigen Studien der herkömmlichen Medizin zeigen, wollte Littlejohn es aber sehr genau wissen. Dass er die herkömmliche Medizin nicht einfach verachtete, zeigt sich auch daran, dass er selbst in mehreren Staaten Lizenzen erwarb, um Medizin zu praktizieren.

Wie die großen Texte der ersten Phase zeigen9, sieht Littlejohn die Osteopathie als diejenige neue Entwicklung in der Wissenschaft der Heilung und der entsprechenden Kunstlehre, welche die positiven Entwicklungen in der Medizin seit Hippokrates vollendet. Daher bestreitet er der regular medicine zu Recht einen Alleinvertretungsanspruch auf den Begriff Medizin zu erheben. Die neue Osteopathie vollende mithin die wesentlichen Aspekte der Medizin. Zu diesen wesentlichen Aspekten gehören nicht die Medikamente, wie Littlejohn bemüht ist, auch historisch nachzuweisen. Die Stärken der Osteopathie bestünden in ihrer physischen Diagnose und der physischen Anwendung. Littlejohn führt dies vor allem auf den großen Gebieten der Osteopathie, der Vasomotorik und des Nervensystems aus.10 Immer stärker versucht er11, die Osteopathie als naturheilkundliche Medizin darzustellen, die an die entsprechenden Versuche seit Hippokrates anknüpfen könne und eine mechanische Theorie entwickelt habe, welche praktisch Fehlanpassungen von Knochen und Weichteilgeweben beseitigen könne, sodass dann der Lebenskraft, den Selbstheilungskräften usf. die Möglichkeit verschafft werde, die Krankheit zu überwinden.

Schon früh versteht Littlejohn den Menschen als Organismus in einer Umwelt, der sich anpassen muss. Dabei unterstellt Littlejohn, dass dieses Verhältnis von Organismus und Umwelt im Organismus durch ein Selbstverhältnis und ein Verhältnis der Teile des Organismus zueinander und zum gesamten Organismus geprägt ist. Dieses Verhältnis von Verhältnissen kann leicht durch die Störung irgendeines Teilverhältnisses als Ganzes gestört werden – und hieraus kann Krankheit entstehen, sofern das Verhältnis von Verhältnissen nicht wieder angepasst wird. Diesen grundsätzlich biologischen Ansatz nennt Littlejohn in den Texten aus der Phase der British School of Osteopathy auch explizit so: Es ist ein biologisch-systemtheoretischer Ansatz, der u. a. auf die Anregungen von Herbert Spencer zurückgeht. Darüber hinaus bezieht Littlejohn sich auf weitere Biologen wie Thomas Henry Huxley und Julian Huxley, ohne sich deren agnostische Position zu eigen zu machen.

Die mechanische Therapie der Osteopathie greift hilfreich in Störungen dieses Verhältnisses von Verhältnissen ein – und ist somit naturheilkundlich. Littlejohn ist abgesehen von antitoxischen Maßnahmen ein strikter Gegner von Medikamenten, weil diese aus einer Sicht dem Organismus etwas Fremdes oder Fremdartiges zuführen, ihn daher nicht positiv stimulieren oder hemmen, sondern weiter stören. Die manipulative Therapie der Osteopath/inn/en beziehe sich, so Littlejohn, demgegenüber auf das Nervensystem, das gehemmt und stimuliert werden könne. So entstünden positive physiologische Wirkungen, weil die mechanische Hemmung oder Stimulation in physiologisch hilfreiche Prozesse konvertiert werden könne.

Die Unabhängigkeit der Osteopathie als System der Heilung besteht also darin, dass sie eine unschädliche, gleichwohl hilfreiche Therapie anbieten kann, die in der Lage ist, gehemmte oder übermäßig stimulierte physiologische Prozesse zu normalisieren.

ANERKENNUNGSPROZESSE

Insbesondere die Texte aus The Osteopathic World zeigen, dass Littlejohn als studierter politischer Philosoph und Jurist sehr genau um die demokratischen Regularien der Anerkennung der Osteopathie Bescheid wusste. Die osteopathische Eigenleistung für die Anerkennung durch die amerikanischen Staaten und dann auch durch das Vereinigte Königreich bestand s. E. vor allem darin, dass sich die Osteopathie

(1)auf dem wissenschaftlichen Niveau der Zeit bewege – und

(2)eine hinreichend komplexe Ausbildung der Studierenden gewährleisten könne.

Littlejohn war stets bemüht, die osteopathische Ausbildung zu verbessern, was sich u. a. an den Debatten um die Kurslänge (zwei, drei oder vier Jahre) zeigt, zuletzt in der British School of Osteopathy soll es sich um einen Fünfjahreskurs handeln. Offenbar sollte Littlejohns eigene Doppelexistenz als regulärer Mediziner und Osteopath den Anerkennungsprozess fördern. Littlejohns Programm bestand darin, die staatliche Anerkennung durch Steigerung der Wissenschaftlichkeit zu erreichen. Dieses Programm darf nicht missverstanden werden, hiergegen wenden sich z. T. auch die Texte Littlejohns explizit12: Littlejohns Bestreben ging nicht dahin, die Osteopathie mit der Medikamententherapie zu verbinden.13 Diese hielt er – abgesehen von Notmaßnahmen – für schädlich. Sie verstieß also s. E. gegen den Hippokratischen Eid, wie er nicht selten betont. Demgegenüber wollte er durch Forschung alle möglichen naturheilkundlichen Verfahren ausschöpfen, um einen naturgemäßen Heilungserfolg zu erzielen. Dabei bemühte er sich u. a. um internationale Kontakte auf einer Reise nach Zentraleuropa. Ebenso förderte er das A. T. Still Research Institute, in dem er nicht nur eigene Forschungen betrieb14, sondern auch moderne Formen der statistischen Forschung begünstigte.15 Diese Forschungen setzte er nach seiner Rückkehr nach Großbritannien fort, wozu u. a. auch die Gründung der British School of Osteopathy dienen sollte, die wegen des Ersten Weltkriegs erst 1917 erfolgte. In der Spätzeit unterstützte er die Gründung eines schottischen Forschungsinstitutes.

Diesen Anerkennungsprozess begleitete Littlejohn nicht zuletzt durch ausgedehnten wissenschaftlichen Journalismus16, dessen Notwendigkeit er nicht nur einsah, sondern auch kunstgerecht betrieb. Er bespricht in seinen Zeitschriften, dem Journal of the Science of Osteopathy, dann der Osteopathic World und schließlich dem Journal of Osteopathy (London), nicht nur wissenschaftliche Themen der Osteopathie und die Probleme ihrer Anerkennung. Er fasst sehr viele Artikel aus anderen Zeitschriften zusammen, sodass die Leser/innen des vorliegenden Kompendiums einen sehr guten historischen Überblick über damalige Positionen im Kontext der Medizin und der Heilkunst gewinnen. Dabei lesen wir auch viele Polemiken gegen die Osteopathie und erleben Littlejohn nicht nur friedlich, sondern auch als Polemiker hohen Grades, der durchaus scharf austeilen kann. Offenbar konnte er sich über bestimmte Punkte ziemlich aufregen.

Diese Eigenart wurde ihm offenbar in der Anhörung des House of Lords zu einem Gesetz, das die Osteopathie staatlich anerkennen sollte, zum Verhängnis.17 Der Anwalt der British Medical Association, Sir William Jowitt, verfolgte die Strategie, die Glaubwürdigkeit Littlejohns zu unterminieren. Ziel war hierbei zu zeigen, dass die Osteopathen keine solide Ausbildungsgrundlage besäßen. Diese Strategie war höchst erfolgreich. Am meisten hat zu diesem Erfolg Littlejohn selbst beigetragen, weil er sich in Widersprüche verwickelte und nachweislich die Unwahrheit sagte. Wer die Polemiken aus The Osteopathic World aufmerksam liest, kann wahrnehmen, dass neben dem besonnenen und klaren Denker Littlejohn auch ein zur Unbesonnenheit neigender und wenig gelassener Polemiker Littlejohn existierte, der sich über ungerechte Behandlung sehr aufregen konnte. Diesen Punkt scheint Sir William Jowitt genau getroffen zu haben. Obgleich Littlejohn schon in der Anhörung durch ein weiteres Kreuzverhör mit Harold Murphy, dem Anwalt der Osteopathen, den Schaden etwas zu begrenzen versuchte18, blieb der Eindruck bei den Lords sicher verheerend.

Vielleicht hängt diese krasse Fehlreaktion auch damit zusammen, dass Littlejohn seine ironische Art gegenüber der regular medicine, die man im Deutschen als ‚Schulmedizin‘ bezeichnen kann, gröblich missachtet sah. Denn der späte Littlejohn strebte in Großbritannien anders als in den USA eine Kooperation von Schulmedizin und Osteopathie an. Die Position der frühen Texte ist klar: Die Osteopathie ist eine vollständige Heilkunst – und schließt auch die Chirurgie im operativen Sinn ein, auch wenn dies seltener und kompetenter als bei der regular medicine der Fall sei. In Großbritannien vertritt der späte Littlejohn aber die These, die major surgery, also die operative Chirurgie, solle von den Schulmedizinern ausgeführt werden. Die gleiche Struktur ist im Curriculum der British School of Osteopathy erkennbar19: Die der eigentlichen Medizin vorausliegenden Wissenschaften werden an Medical Schools studiert, die osteopathische Anatomie und Physiologie ist stark angewandte Anatomie und Physiologie. Das ist noch nicht die Struktur der heute im gesundheitswissenschaftlichen Diskurs beliebten Komplementärmedizin‘, aber es ist sehr wohl ein Schritt dorthin.

LITTLEJOHNS VERHÄLTNIS ZU STILL

Littlejohn ist neben dem ganz anders ansetzenden William G. Sutherland der bedeutendste Still-Schüler. Anders als Still hatte Littlejohn aber eine komplexe wissenschaftliche und philosophische universitäre Ausbildung, wobei nach meinem Eindruck gelegentlich übersehen wird, dass auch Still eine Medical School besucht und den Grad eines M. D., auf Deutsch ungefähr: Dr. med.20, erworben hat. Still war ziemlich gebildet, aber eben eher durch Eigenstudium, wobei ihm das Frontier, das Grenzland, ein reiches, gerade auch naturwissenschaftliches und naturphilosophisches Forschungsmaterial bot. Littlejohn erkennt mehrfach die gewaltige Forscherleistung Stills, dieses „[…] wahren Genius des Mississippi-Tales“ 21, an. Aber auch in Anwesenheit Stills vertritt er rhetorisch z. T. brillant, dass Still in der kulturellen Abgeschiedenheit jenes Tals das eine oder andere wiederentdeckt hat, was durch die 2.300 Jahre der relevanten Medizingeschichte zuvor durchaus schon entdeckt worden war. Wer Stills eigene Rhetorik in seinen Büchern nicht als Rhetorik durchschaut, wird hier einen klaren Widerspruch zwischen den beiden Osteopathen entdecken. Still setzt sich ja nicht nur scharf von der Schulmedizin seiner Zeit ab, gerade auch der Schulmedizin bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die wohl im amerikanischen Bürgerkrieg noch stark wirksam war, an dem Still als Chirurg teilnahm. Darüber hinaus betont er an anderen Positionen wie beispielsweise der Homöopathie nur das, was daran falsch ist. In diesem Punkt ist Littlejohn tatsächlich anders. Er betont das mit der Osteopathie Übereinstimmende, im Fall der Homöopathie gerade das sich in ‚Schwingungen‘ äußernde Prinzip der über das Ähnlichkeitsprinzip angesprochenen Lebenskraft – und darin hat er Recht. Andererseits stimmt er mit Still darin überein, dass die Homöopathie eben – nur verdünnt – das gleiche Prinzip anwende, wie die Schulmedizin auch. Darin zeigt sich die Besonnenheit des klaren Denkers Littlejohn, der verschiedene Sachverhalte ruhig unterscheiden und aufeinander beziehen kann.

Stills Texte sind überwiegend stark metaphorisch, aber sie folgen Littlejohn zufolge einer klaren Position, die Littlejohn natürlich auch durch Gespräche mit Still erfahren hatte. In seiner Verteidigungsschrift gegen die Vorwürfe in der Anhörung im House of Lords22 stellt er das Entstehen und Werden von Stills Position rational nachvollziehbar dar. Offenbar ist dieser Text in der Osteopathie nicht sehr gut rezipiert worden, in den mir bekannten historischen und aktuellen Texten ist hierzu nichts zu lesen. Aber wer die Texte Stills gelesen hat, wird urteilen: So könnte es gewesen sein. Manche Fehlrezeption Stills in der Osteopathie hätte hierdurch möglicherweise vermieden werden können. Vor allem beweist der Text zwingend, dass die Ansicht, eigentlich habe in Kirksville Still eher niemand verstanden, nicht zutreffend ist. Sowohl Carl P. McConnell23 als auch John Martin Littlejohn sind massive Gegenbeispiele hierzu.

Wie Thomas Fuchs in seiner medizinhistorischen Dissertation überzeugend dargelegt hat24, ist die Kreislauftheorie des Entdeckers des Kreislaufs William Harvey (1587–1657) wahrscheinlich nicht mechanistisch zu verstehen. Die einseitig mechanistische interpretation von Harveys Texten sei ihrer Rezeption durch Descartes (1596–1650) und dessen bedeutender Rolle in der abendländischen Philosophie und Medizin in der Folge zu verdanken. Harvey ist einer der goldenen Bezugspunkte von Still und Littlejohn. Littlejohn zufolge hat Still zunächst ein aufgrund von dessen Lebenserfahrung nicht unverständliches Maschinenmodell des Menschen vertreten, wobei der interessante Punkt gewesen sei, dass Still nicht nur den ganzen Menschen als Maschine verstanden habe, sondern auch jedes Atom als eigene kleine Maschine. Später habe Still festgestellt, dass im Körper tatsächlich lebendige Zellen vorhanden seien – und darin besteht wohl der Übergang zu einer vitalistischen Interpretation des Menschen. Diese Zellen besäßen Labore, die nur aktualisiert werden müssten, um den Menschen fähig zu machen, das zu tun, was er möchte. Dazu müssten die Materialien aus den Laboren distributiert werden, was aber durch die bekannten Fehlstellungen verhindert werden könne – so erklärt Littlejohn die Genese von Stills Theorie der osteopathischen Läsion. Ebenso ist aber der zweite Aspekt in dieser Rekonstruktion von Stills Theorie enthalten, eben die Theorie der Immunität, wie Littlejohn dies mit einem Begriff, den Still nicht kennt, nennt. An sich ist der Mensch vor Krankheit geschützt, dieser Schutz aber könne durch Fehlstellungen gemindert werden, sodass Theorie der Immunität und Theorie der osteopathischen Läsion zusammenhängen.

Im Kern stimmt auch noch der späte Littlejohn dieser Auffassung zu. Daher bleibt er Impfkritiker und Medikamentenkritiker, wie dies in den frühen Texten aus The Osteopathic World ausführlich u. a. in Auseinandersetzung mit den Anschauungen Robert Kochs dargelegt wird.25

Die Auffassung von spirit, body und mind bei Still versucht Littlejohn vorsichtig zu korrigieren. Littlejohns Auffassung steht im Kontext der damals modernen Psychophysiologie, wie sie klassisch in William James’ Psychologie dargestellt wird.26 Entsprechend unterschied er mind und body. Beim mind unterschied er weiter zwischen „objective mind“ und „subjective mind“, womit die heute beliebte Unterscheidung der Perspektiven der ersten Person und der dritten Person gemeint ist. Nach Littlejohn befassen sich die Psychophysiologien vor allem mit dem objective mind, dem objektiven Geist, wie er also wissenschaftlich psychophysiologisch, z. T. experimentell beobachtet wird. Demgegenüber gibt es aber noch den subjective mind, den subjektiven Geist27. Nach Littlejohn belebt letzterer den Menschen, das ist recht parallel zur Rede Stills vom spirit bzw. der soul oder der Seele. Diese ‚Belebung‘ findet über neuronale Prozesse im Gehirn statt. Das entscheidende Phänomen ist dabei das Schwingungsphänomen, das Littlejohn im gesamten Körper als (prinzipiell messbaren) Rhythmus oder Arrhythmus feststellt. Darin zeigt sich zeichenhaft die Lebenskraft, die aber nur zeichenhaft-hypothetisch bzw. abduktiv erschlossen ist, einen deduktiven Beweis hierfür gibt es nicht.

Stills Position wird damit aufgenommen und etwas korrigiert. Aber in der Kombination von Mechanismus mit Vitalismus stimmt Littlejohn ganz überein. Fuchs weist darauf hin, dass die bei Thomas S. Kuhn28 vorliegende Auffassung, dass Paradigmen einander abwechseln, also hier der Vitalismus vom Mechanismus abgelöst werde, keine zutreffende Darstellung der neuzeitlichen Medizinentwicklung sei. Er unterstellt vielmehr, dass unterschiedliche Denkstile29 zeitgleich vorhanden sein können. In der klassischen Osteopathie Stills und Littlejohns liegt sogar der Fall vor, dass sie in einem Konzept kombiniert werden. Dies genauer zu verstehen, soll u. a. die Aufgabe einer künftigen Publikation mit Herrn Christian Hartmann sein.

PD Dr. Martin Pöttner

Heidelberg, August 2009

Das große Littlejohn-Kompendium

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