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Kapitel 7

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Ziele

Luna seufzte leise auf, als das heiße Wasser aus dem Duschkopf auf sie niederprasselte. Zwar war sie durchaus eine Wasserratte, dennoch hasste sie es, dass ihre Haare dann immer nach nassem Tier rochen. Shampoo, dessen Duft eher eine Geruchsbelästigung für ihre feine Nase war, mochte sie allerdings deutlich weniger. Sie lag kurz im Zwiespalt. Dem Hörensagen nach hatte sie einen natürlichen, veilchenähnlichen Duft. Leider konnte sie nicht sagen, ob das stimmte. Denn so gut ihre Nase auch war, ihren eigenen Geruch wahrzunehmen, vermochte sie in aller Regel nicht.

Luna biss die Zähne zusammen und rieb ihre Haare mit dem widerlichen Zeug von den bleichen Haarwurzeln bis zu den tiefroten Spitzen ein. Das war ihr alle Male lieber, als dumme Fragen zu komischen Gerüchen beantworten zu müssen.

Sie dachte über die jüngsten Ereignisse nach. Die Aufmerksamkeit der Greys ärgerte sie ungemein. Wenn es ganz blöd lief, würde sie gezwungen sein, vor den Augen ihres Vaters hässliche Dinge tun zu müssen.

Das galt es unter allen Umständen zu verhindern. Doch vielleicht war diese Sorge unnötig.

Jetzt wo er die Brille besaß, fehlte ja nur noch ein Startpunkt, bevor sie aufbrechen konnten. Am liebsten würde sie ihm dazu den einen oder anderen Vorschlag machen. Blöderweise wusste sie weder, von wo aus er seine erste Reise angetreten hatte, noch, in welcher Welt er damals gelandet ist. Sie wartete daher einfach geduldig darauf, dass er sich dazu äußerte. Sollte er etwas unglaublich Dämliches vorschlagen, konnte sie immer noch ein Veto einlegen.

Nachdem sie fertig geduscht hatte, betrachtete sie sich im Badezimmerspiegel und fuhr sich mit ihren Händen durch ihre widerspenstige Mähne. Kämmte sie erst auf die eine, dann wieder auf die andere Seite und legte Strähne um Strähne an den optimalen Platz, damit die wenigen schneeweißen Stellen inmitten ihres geliebten rot nicht so auffällig hervorstachen. Es stimmte, sie hatte das wilde, unbändige Haar ihrer Mutter. Sie mochte diesen Gedanken irgendwie, doch dieser – ihr fiel kein besseres Wort ein – »Pigmentraub«, wurde zunehmend lästiger. Zu ihrem Leidwesen war der Verlust der kräftigen, bunten Haarfarben im Volk ihrer Mutter, ein Teil des Erwachsenwerdens. Zumindest hatte sie das irgendwann in einem Eintrag ihres Na-Vi gelesen. In wenigen Jahren schon würde ihr Haar demnach komplett schneeweiß sein und nur noch einen entfernten Rotstich besitzen. Luna fürchtete sich insgeheim davor, weil sie glaubte, dass sie dadurch nur noch seltsamer aussehen würde.

Sie hob die Spitze ihres dauergeröteten Stupsnäschens an, das immer den Eindruck erweckte, dass sie erkältet sei, obwohl das selbstverständlich nicht stimmte. Ihrer Nase ging es bestens.

Es war nur das animalische Blut ihrer Mutter, dass dort zum Vorschein kam, wie auch bei allem anderen, das seltsam an ihr war.

So prüfte sie auch den Zustand ihrer Fingernägel und kräuselte missmutig die dunklen Lippen. Gesunde, kräftige Nägel, wie sie sich jedes Mädchen nur wünschen konnte. Nur dumm, dass man ihnen beinahe beim Wachsen zusehen konnte. Es kostete Luna eine Menge Mühe, sie so normal wie möglich aussehen zulassen, damit sie einen möglichst unauffälligen Eindruck machte. Ihrem Dad war jedoch längst aufgefallen, wie oft sie ihre Nägel feilte, als sei es das Normalste der Welt, das ständig zu tun. Sie fragte sich, ob er sich nicht wunderte, dass sie weder die Farbe ihrer Nägel, noch die ihrer Lippen seit ihrer Anwesenheit bei ihm auffrischen musste.

Ach, quatsch, er ist ja nicht dumm. Vermutlich ist es ihm längst aufgefallen und er sagt nur nichts, weil er fürchtet, dass es mir unangenehm sein könnte.

Sie horchte zur Tür hinaus. Offenbar war Jonathan gerade in der Küche beschäftigt, das war die Gelegenheit. Mit einem Ruck fuhr sie, ähnlich wie bei einer Katze, ihre Fingernägel zu kräftigen Krallen aus und griff nach der Feile. So sollte es deutlich leichter gehen. Schon im nächsten Moment zuckte sie vor Schreck zusammen, als es an der Badezimmertür klopfte.

Luna wirbelte herum.

Scheiße! Hab ich abgeschlossen? Was, wenn er jetzt reinkommt?! Er darf mich so unter keinen Umständen zu Gesicht bekommen! Er wird dich erwischen und dann doch den Greys ausliefern, spottete die andere Stimme in ihrem Kopf.

Mit einem Ausfallschritt blockierte ihr Fuß schnell die Tür. »Was willst du?«, keifte sie aus dem Bad heraus.

»Ähm.«

»WAS?! Deine splitterfasernackte Teenagertochter ist gerade dabei sich frisch zu machen! Also was zur Hölle willst du?!«

»Oh, – oh, nein. I-ich hatte nicht vor – also, ich wollte nur fragen, ob alles okay ist. Du bist schon ziemlich lang da drinnen und ich dachte, ich frage mal nach, ob alles passt. Das ist alles.«

»Ich wiederhole: Teenager! Bei uns dauert es immer etwas länger! Gewöhn dich dran!«

»S-schon okay, lass dir alle Zeit der Welt.«

Sie verharrte noch einige Momente an der Tür, bis seine Schritte ihr verrieten, dass er offenbar wieder in der Küche saß, dann stieß sie erleichtert einen Schwall panikschwangerer Luft aus und trat langsam wieder von der Tür zurück. »Unglaublich! Was fällt dem ein, mich so zu erschrecken?«, flüsterte sie tonlos, während ihr Herz wie wild in ihrer Brust hämmerte.

Eine halbe Ewigkeit verging, bevor sich die Badezimmertür wieder öffnete.

»Schau an, da ist die verschollen geglaubte Prinzessin ja wieder«, kommentierte Jonathan ihr Erscheinen in der Küche.

Sie rollte höhnisch mit den Augen und setzte sie sich wortlos an den Küchentisch.

Jonathan kratzte sich im Gesicht, über seine Bartstoppeln und musterte seine Tochter. »Sag mal, wie groß bist du eigentlich genau?«

Sie griff gerade nach der Erdbeermarmelade, hielt jedoch überrascht in ihrer Bewegung inne. »Warum?«

Er betrachtete ihre alten Fetzen. »Ich dachte nur. Also na ja, ich war ja heute früh in der Stadt und dachte darüber nach, dir ein paar neue Klamotten zu besorgen.«

Luna fokussierte das T-Shirt, das er heute trug.

Es war rot und hatte einen gelben Blitz auf der Brust. Das mit der Kleiderwahl hatte er in der Zukunft deutlich besser drauf, erinnerte sie sich. »Danke, aber nein danke« wehrte sie das freundliche Angebot ab.

»Oh, okay. Verstehe. Dennoch, rein für die Neugier, wie groß bist du? Einsfünfzig? Einssechzig? Komm schon, hilf mir. Ich bin echt schlecht in sowas.«

Sie seufzte. »Einen Meter zweiundsechzig.«

»Hmm, mit oder ohne Stiefel?« Luna ließ stumm auf ihrem Brötchen kauend stellvertretend ihren Mittelfinger sprechen. Jonathan grinste. Fast bekam man den Eindruck einer völlig normalen und intakten Familie – von den äußeren Umständen mal abgesehen.

»Hafft du foon einen Ploan, von woe auf die Rreife ftarten foll?«, nuschelte Luna mit einem halben Marmeladenbrötchen im Mund.

»Das ist eine gute Frage.« Sein Gesichtsausdruck ließ eine gewisse Besorgnis im Raum stehen. »Ich bin in den vergangenen Tagen alle gesammelten Berichte durchgegangen, in denen Menschen plötzlich spurlos verschwunden sind. Ich will ehrlich sein: Ich möchte mich nicht auf mein Glück bei einem der großen national Parks und Wanderstrecken verlassen, das scheinen mir dann noch alles zu vage Ereignisse zu sein.«

Luna betrachtete kauend ihr Marmeladenbrötchen und nickte den Inhalt ihres Mundes herunterschluckend. »Wir könnten Wochen unterwegs sein, ohne auch nur einen Übergang zu finden«, bestätigte sie seine Annahme.

Jonathan hatte Mühe, sein zweites Brötchen zu schneiden, und rutschte mit dem Messer ab. Er musste wohl eines vom Vortag erwischt haben, redete er sich ein. »Eben. Daher sind solche Übergänge raus.

Ich habe mich stattdessen auf Orte konzentriert, wo innerhalb eines möglichst kleinen Areals regelmäßig Leute verschwinden oder seltsame Sichtungen gemeldet werden.«

Luna hob die Augenbrauen. Wow, er geht klüger an die Sache heran, als ich dachte. Sehr gut, nur weiter so. »Uuhh – erzähl mir mehr.« Ihre bernsteinfarbenen Kulleraugen wurden größer, während sie ihren Dad hochkonzentriert anstarrte. Sie meinte für den Bruchteil einer Sekunde diesen ganz besonderen Spirit, für den ihr Dad in ihrer Gegenwart berüchtigt war, zu spüren.

»Nun, es gibt da diese Wasserstelle in einer Höhle im Gebiet der Navajo-Indianer.«

Luna grunzte abfällig. »Verpiss dich. Da geht’s nach Srilea. Technisch gesehen, der kürzeste Weg zum Netzwerk, aber dazu müssten wir an den Quipieläh vorbei und das schaffen wir definitiv nicht.«

Jonathan schaute seine Tochter perplex an. »Was sind denn Quipi ...? Na, das, was du eben gesagt hast.«

Luna kaute auf ihrem Brötchen und erkundete gedankenversunken die helle Eichenholzküche. Dann fuhr ihre Aufmerksamkeit zurück zu ihrem Dad. »Ah, ich weiß. Gib mir mal dein Smartphone.« Jonathan runzelte die Stirn und gab es ihr. Sie tippte einige Begriffe in die Suchmaschine dieser Welt ein. Sie versuchte es mit: Fischmenschen, Schildkröten und dann mit menschlichen Schildkröten. »Was sind denn Ninja Turtles?« Luna schüttelte den Kopf und scrollte weiter. »Ah, da habe ich doch was. Sieh dir mal diesen Artikel an.« Sie reichte das Smartphone an ihren Dad zurück.

Jonathan trank einen Schluck seines Kaffees und warf dann einen Blick auf den Bildschirm. »Kappas? Das sind japanische Fabelwesen.«

Luna kaute auf ihrem Brötchen. »Joa, lief weifta.«

»Der Sage nach, leben sie an Flüssen und Tümpeln. Kommen unachtsame Reisende ihnen zu nahe, ziehen sie ihre Beute unter Wasser. Nicht immer werden ihre Opfer dabei direkt verspeist. Manchmal geben die Kappas auch vor, mit ihnen zu spielen, bis den ahnungslosen Opfern die Luft ausgeht, was ihrer schabernackhaften Natur zu zuschreiben ist.« Jonathan rümpfte die Nase. »Luna, das ist eine Geschichte. Mehr nicht.«

Mit Brötchen gefüllten Pausbacken rollte sie ihre Augen. »Alleff ift woah«, versuchte sie ihn zu erinnern.

»Könntest du vielleicht erst kauen und dann sprechen?«

Sie schluckte den Teigkloß glucksend hinunter. »Sorry. Ich will nur sagen: Ich kenne die Geschichten zu dieser Höhle, da ich einen Freund habe, der tierisch auf Abkürzungen steht. Aber wenn nicht mal Nixen freiwillig ihre Flossen in dieses Gewässer halten, tue ich das sicher auch nicht.«

»O-kay.« Jonathan Augen zuckten skeptisch auf. »Was hältst du dann von Mount Nyangani? Dort verschwinden regelmäßig Leute im Nebel.«

Luna stockte und klopfte sich auf die Brust, als ein Stück Brötchen in der Speiseröhre steckenblieb. »Nebel?« Sie hustete. »Such weiter.«

»Was? Frisst uns der Nebel etwa auch?«

»Nein. Übergänge im Nebel sind Korridorübergänge.«

»Klingt doch gar nicht so schlimm.«

»Auf den ersten Blick nicht, nur entstehen die durch eine Raumblase. Weil an diesen Schnittstellen die Frequenzen mehrerer Welten auf einen Punkt treffen.«

»Heißt so viel wie?«

Sie hob unwissend die Hände. »Russisch Roulette für Weltenwanderer ohne Na-Vi? Du kannst von hier aus so oft dadurch gehen, wie du willst, und wirst immer in einer anderen Welt landen als zuvor. Das heißt, wenn du es überhaupt aus dem Nebel schaffst. Ohne Na-Vi dürfte es nämlich schwer werden, überhaupt einen Ausgang zu finden. Einziger Vorteil: Im Nebel altert man nicht. Du hast also genug Zeit zum Suchen.«

Jonathan strich interessiert über sein Kinn. »Spannend. Warum altert man dort nicht?«

»Keine Ahnung! Seh ich auch wie ein scheiß Lexikon?«

»Auch gut – und danke.«

»Wofür?«

»Dafür, dass du meine Unsicherheitsfaktoren eliminiert hast.«

Sie kräuselte ihre dunklen Lippen. »Häh?«

»Ich hatte meine Wahl für solch eine Reise eigentlich lange vor deinem Erscheinen an meiner Tür getroffen. Für mich war aufgrund der vielen Geschichten über Sichtungen von fremdartigen Wesen immer klar, dass ich dort hingehen werde, sollte ich überhaupt jemals etwas in diese Richtung unternehmen wollen.« Luna legte den Kopf schief und sah ihren Dad erwartungsvoll an. »Hast du mal von der Sherman Ranch im US-Bundesstaat Utah gehört?«, fuhr er fort.

Sie verschluckte sich fast an ihrem Brötchen. »Die Skinwalker Ranch?!«, schrie sie auf.

»Alles okay?«

Luna brauchte einen Moment, um nicht komplett die Fassung vor ihm zu verlieren. Doch egal wie sehr sie versuchte, das eben gehörte zu schlucken, ihr Herz hörte nicht auf zu rasen.

»Hab ich etwas Falsches gesagt?«

»Kommt darauf an, ob du mich veräppelst?« Tut er nicht! Er wird euch beide umbringen, lachte die Stimme in ihrem Kopf.

»Nein, wieso?«

Das war's! Luna bekam keinen weiteren Bissen mehr runter. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie vom Tisch auf. Ein lautes Klirren durchfuhr den Raum, als ihre Teetasse auf dem Küchenboden zersprang. Wie paralysiert starrte sie auf deren Splitter.

»Hey! Könntest du mir vielleicht erklären, was an dem Ort so schlimm ist?«

»Gar nichts! Vorausgesetzt, man plant, in ’nem Labor zu landen! Alle wandernden Wesen wissen, dass dieser Ort inzwischen ’ne Deadzone ist.«

Jonathan betrachtete grübelnd das panikverzerrte Gesicht seiner Tochter. Fast erlag er ihrem Wehklagen und wäre allein ihretwegen von seiner Entscheidung zurückgerudert. Doch genau das durfte jetzt nicht passieren, entschied er. Regel Nummer eins: Er durfte seine Entscheidungen nicht von ihr beeinflussen lassen. Er stieß einen Schwall Luft aus. Ihm blutete das Herz, sie so hilflos zu sehen, doch es ging nicht anders. »Tut mir leid, aber das ist es, was mir nun mal vorschwebt.«

Fluchend verpasste sie der Wand eine mit der Faust und verließ fluchtartig die Küche. Unaufhörlich tigerte sie den Flur auf und ab und versuchte, sich zu beruhigen.

Verdammt, was mach ich jetzt?! Er kann doch unmöglich so dumm sein?! Ist das hier wirklich meine Erde? Hatte das Na-Vi vielleicht doch bei den Koordinaten einen Defekt gehabt?

Sie zuckte vor Schreck zusammen, als Jonathan plötzlich neben ihr stand und sie im nächsten Moment umarmte.

»Was zum ...?!« Sie schüttelte den Kopf und stieß sich augenblicklich von ihm ab. In ihr kochten auf einen Schlag viele alte, erfolgreich verdrängte Emotionen hoch. Wärme und Geborgenheit vermengten sich mit der Kälte der Ablehnung, der ohnmächtigen Wut und Hilflosigkeit. Und nichts davon durfte sie diesem Jonathan vorwerfen.

Sie würde gerne, doch sie konnte es nicht! Es wäre weder fair, noch würde es ihr etwas nützen.

Jonathans Augen füllten sich mit Sorge. »I-ich. Tut mir leid. Ich meinte es ...«

»Lass es!«, unterbrach Luna ihn bestimmend und trat noch einen weiteren Schritt zurück. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrem Nacken. Es fehlte nicht mehr viel. Würde er auch nur einen weiteren Schritt auf sie zu gehen, wüsste sie nicht, wie sie reagieren würde. Ein stiller Moment des gegenseitigen Anschweigens dominierte den Augenblick. Irgendwann atmete sie einmal lang aus. »Ich brauch einen Moment frische Luft.« Mit merklich angeschlagener Laune verließ sie den Flur und begab sich auf seine Dachterrasse.

Jonathan stand wie angewurzelt da. Es vergingen einige Minuten, doch so sehr er sich bemühte, er konnte ihre Reaktion nicht nachvollziehen. Mittlerweile wünschte er sich, eine andere Entscheidung als richtig zu empfinden, aber er konnte es nicht. Nein, er durfte es nicht.

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