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Kapitel 9

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Die Ranch

Heute:

Sie kamen am Roosevelt-Municipal-Airport mäßig gelaunt und mit leichtem Jetlag an. Ihr Ziel, die östliche Grenze der Skinwalker Ranch, lag fußläufig etwa vier Stunden entfernt.

»Wir laufen also wirklich, ja?« Lunas lustloser Gesichtsausdruck sagte ihm mehr, als er wissen musste.

»Allerdings. Ich will so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erzeugen.«

»O Mann, ich fasse es nicht.«

»Und ich kann nicht fassen, dass du das Sicherheitspersonal des Flughafens mit gefälschten Papieren getäuscht hast. Und damit sogar durchgekommen bist! Miss Stella Tier

»Tja, wer kann, der kann«, sagte sie mit einem verstohlenen Grinsen. »Außerdem warst du derjenige, den das Flughafenpersonal als verdächtig eingestuft hatte. Wenn wir also aufgeflogen wären, dann deinetwegen.«

Jonathan grummelte leise etwas vor sich hin, das selbst Luna in diesem Moment nicht verstehen konnte.

»Hmm? Wie war das? Ja, du hast recht? Ich bin nur froh, dass die Grenzschutzagenten uns nicht weiter in die Quere gekommen sind? Toll, dass du hier bist und es dir gut geht? Hey, kein Ding. Ich sagte ja, ich bekomme das hin.«

Jonathan drehte den Kopf zu ihr, schaute finster und schwieg.

Die Ranch lag östlich vom Flughafen und das Gelände war größtenteils abschüssig, das machte es leichter, die Strecke trotz des Wetters zu bewältigen. Es war schwülwarm und drückend, als wenn ein Unwetter bevorstehen würde.

»Kack Fliegen! Verpisst euch!« Luna wedelte wie wild mit den Armen um sich, pustete in alle Richtungen und zog sich dabei ihren Hoodie, den sie zu einem Turban umfunktioniert hatte, tiefer ins Gesicht. Die kleinen Wesen tanzten um ihren Kopf herum und landeten immer zu auf ihrer erröteten Nasenspitze, als legten sie es darauf an, sie weiter zu provozieren.

Jonathan atmete ruhig, aber schwer. Er war für sein Alter topfit, doch das Gewicht des Rucksacks und die Hitze zerrten mehr an seinen Reserven, als er gedacht hatte. Seinen Parker hatte er längst zwischen den Riemen des Rucksacks verstaut und die Ärmel seines rot-schwarzen, locker geknöpften Flanellhemdes hochgekrempelt, dennoch perlte ihm der Schweiß von seiner Stirn. Er betrachtete die alte Armbanduhr an seinem Handgelenk, während er sich mit der anderen Hand durch das volle, dunkelbraune Haar fuhr. Die Uhr war ein klassisches Outdoor Modell, nichts Besonderes, aber sie tat ihren Dienst. Er zog die Karte und den Kompass aus der Seitentasche seiner Trekkinghose, um ihre Position zu überprüfen und ein Gefühl für die verbleibende Strecke zu erhalten.

Luna bewunderte ihn dafür, dass er mit dem ganzen Gepäck bei der Hitze klarkam. Ihre Augen wanderten über ihre eigene Umhängetasche. Gegen den gewaltigen und bis zum Rand gefüllten Rucksack war diese klein und kümmerlich. »Wozu schleppst du eigentlich so viel Zeug mit dir herum?«

Jonathan hob den Kopf aus der Karte. »Was?«

»Dein Rucksack. Ist der ganze Kram wirklich nötig?«

»Kommt darauf an, vielleicht sitzen wir ein paar Tage in der Wildnis fest. Dann wirst du mir danken, dass ich Campingkocher, Konservendosen und Schlafsäcke dabeihabe. Ich meine, wissen wir was uns auf der anderen Seite erwartet?«

»Nein, aber das weiß man eigentlich nie. Das ist doch der Spaß daran, oder?«

»Aha. Weißt du, ich fange an, mich zu fragen, ob diese Sorglosigkeit zu deinem Zeithüpfer beigetragen hat.«

»Das hatte nichts miteinander zu tun.«

»Fällt mir ja schwer, das zu glauben.« Er wandte sich erneut der Karte zu.

»Ich kapiere nicht, warum du nicht einfach dein Smartphone zur Navigation nutzt. Geht schneller, und du hast ein Gefühl dafür, wie lange wir noch brauchen. Nein, halt! – Besser keine Zeitangaben.« Mit hängenden Schultern schleifte sie hinter ihm her.

»Weil auf diesen alten Karten oft Wege und Straßen verzeichnet sind, die kein Smartphone bieten könnte«, murmelte Jonathan.

Sie liefen schon eine Weile auf der Poleline-Road, Richtung Independence-Road entlang. Die Straße flimmerte in der Hitze und die Landschaft wechselte auf ihrem Weg kontinuierlich zwischen brachem Ödland und saftig grünen Wiesen. Was für sich genommen bereits ein harter Kontrast zur eigenen Heimat darstellte.

Hin und wieder passierten sie alleinstehende Häuser und ganz selten saß auch mal jemand auf der Veranda, genoss ein kühles Bier und schaute den beiden Wanderern neugierig hinterher. Nach ein paar Meilen verließen sie die spärlich befahrene Landstraße und nährten sich der Ranch über kleine Querstraßen und Feldwege. Wenig später erreichten sie dann den westlichen Grenzpfeiler des Geländes der Skinwalker Ranch. Mit einem kurzen Nicken signalisierte Jonathan, dass sie da waren. Etwas abseits des Weges im Schutz eines Dickichts legten sie eine Rast ein. Luna setzte sich erschöpft auf einen Baumstamm. Sie streckte die müden Beine und gönnte sich einen Schluck Wasser. Jonathan hingegen legte nur seinen Rucksack ab und sondierte das Umfeld.

»Willst du nicht auch mal langsam ’ne Pause einlegen?«, flüsterte sie.

»Gleich.« Er runzelte die Stirn. »Warum flüsterst du?«

»Keine Ahnung? Vielleicht, damit man uns nicht entdeckt?«, flüsterte sie weiter.

»Aha.« Dann zog er los, um das Gelände auszukundschaften.

Luna rümpfte ihre feine Nase und spürte, dass die Luft klammer wurde. Grillen zirpten im Gras und die Mücken wurden langsam aktiver.

Wenige Minuten später kehrte Jonathan leise durchs Geäst raschelnd zurück. »Das Gestrüpp ist stellenweise dichtbewachsen. Hier und da gibt es vereinzelte Bäume. Sonst viel wilde Wiese und trockenes Ackerland. Nicht so optimal, wie mir die Karte versprochen hat, aber besser als nichts. Im Süden gibt es laut Karte einen kleinen Fluss. Äh, Dry Gulch Creek, wenn ich mich recht entsinne. Vielleicht kann man das später nutzen.«

»Aha, und weiter?«

»Zweihundert Meter westlich gibt es einen kleinen, verfallenen Grenzzaun. Wird wohl die ehemalige Grundstücksgrenze sein. Ich meine, bevor dieses Privatunternehmen einen neuen, besseren Zaun noch weiter westlich errichtet hat. Den ersten sollten wir aber leicht überwinden können.«

»Und den zweiten?«

»Ähm, ich hab einen Bolzenschneider dabei«, gab Jonathan mit stolzgeschwellter Brust von sich.

»Wow«, antwortete Luna wenig begeistert und rollte höhnisch die Augen. »Was ist mit den Wachen?« Sie witterte schon seit einigen Minuten aus Richtung der Ranch ein Gemisch aus Waffenöl und billigen Rasierwasser. Sie hoffte daher, dass Jonathan darauf ansprang.

»Davon gibt es dort bestimmt welche, daher sollten wir bis zum Einbruch der Nacht warten, bevor wir weiterziehen. Bist du damit einverstanden?«

Sie nickte. »Klingt vernünftig.«

Die Nacht brach herein und schon bald sah man kaum mehr als ein paar Meter weit. Irgendwo kämpften einige nachtaktive Tiere heulend, knurrend und kreischend um ihr Futter. Jonathan blickte auf und suchte an dem wolkenbehangenen Nachthimmel den Mond. Vergebens.

»Mist. Bei der Sicht werden wir wohl eher durch das Gelände stolpern als laufen.«

Luna stupste ihn an und zeigte auf den hellerleuchteten Horizont im Westen. »Ich würde sagen, dass wir auf den Mond scheißen können.«

Jonathan folgte ihrem Fingerzeig. »Hmm, ist das die Ranch? Toll. Das macht es jetzt nicht unbedingt leichter.«

Luna beugte sich indes zu ihrem rechten Stiefel hinunter, legte ihre Arme um den Knöchel und wiederholte das Ganze dann mehrmals abwechselnd mit beiden Beinen.

»Was tust du da?«

»Mich dehnen?«, antwortete sie salopp und vollführte noch einige Übungen für Oberkörper und Arme.

»Jetzt? Du denkst jetzt an Sport?«

»Mecker nicht. Folge mir.« Sie zog ihre Kapuze tiefer ins Gesicht und rannte los. Jonathan griff nach seinem Rucksack und folgte ihr.

Luna war für ihre Größe überraschend schnell und lief im Zickzack von einem Gestrüpp zum nächsten. Immer wieder legte sie kleinen Pausen ein, in denen sie seltsam erwartungsvoll zur Farm starrte. Jedes Mal, bevor sie weiterrannte, drückte sie kurz Jonathans Hand, damit er wusste, dass es weiterging. Dann schmiss sie sich plötzlich zwischen zwei Stationen auf den Boden und kickte ihrem Dad das Standbein weg. Jonathan landete ungebremst mit der Nase im Dreck. Es ging so schnell, dass er nicht einmal genug Zeit hatte, seinen Sturz abzufangen.

»Verdammt. Was sollte das?«, knurrte er wütend.

»Halt die Klappe«, befahl sie schroff und reckte behutsam den Kopf hoch, nur um ihn direkt wieder einzuziehen.

»Ist da etwa jemand?«, fragte Jonathan im Flüsterton.

Luna nickte. Zwei Wachen standen in einigen hundert Metern Entfernung am Zaun und unterhielten sich. Sie konnte nicht sagen, wie aufmerksam sie waren, und ging daher lieber auf Nummer sicher. Bisher zählte sie dreizehn verschiedene Geruchsnoten vom Gelände der Ranch. Neun davon menschlich, ein Dingo in der Nähe des Zauns und zwei Gerüche innerhalb des Geländes, die sie nicht einordnen konnte. Einen der beiden umgab eine Note Menthol. Vielleicht ein Raucher, mutmaßte sie, aber alle beide waren ganz sicher keine Menschen.

Luna horchte auf. Die Stimmen der beiden Wachleute entfernten sich. Sie tippte ihren Dad an, erhob sich und rannte über die Anhöhe zum nächsten Busch.

Jonathan rappelte sich nach seinem Sturz ebenfalls wieder auf und folgte ihr nur wenige Augenblicke später leicht unbeholfen in die nächste Deckung. »Was tust du denn?«, flüsterte er seiner Tochter entgegen.

»Uns ungesehen an die Ranch heranbringen?«

»Vielleicht warnst du mich nächstes Mal einfach, bevor du mir das Bein wegtrittst.«

»Sonst noch Wünsche?«

Nach sieben weiteren Sprints erreichten sie den letzten Busch vor dem Zaun. Etwa alle zwanzig Meter befand sich eine klassische Neonröhre in Warmweiß auf dem zweieinhalb Meter hohen Maschendrahtzaun und beleuchtete innerhalb von gut fünfzig Metern alles, was außerhalb der Umzäunung lag. Der Zaun selbst bestand aus einem klassischen Drahtgeflecht, soweit Jonathan es erkennen konnte. Er fluchte, als ihm bewusstwurde, worauf er sich hier eingelassen hatte. »Wird nicht einfach, da hineinzukommen.«

»Was hast du denn erwartet? Ein ›Treten sie bitte hier ein‹-Schild?«

Aus dem Schutz des Dickichts heraus beobachteten sie eine Weile das Treiben auf dem Gelände. Weite Teile der Ranch bestanden aus knöchelhohem Gras. Luna konnte daher an den platt gelaufenen Pfaden wunderbar erkennen, wo die Wachposten entlangliefen. Seit ihrer Ankunft hatten bereits zwei unterschiedliche Wachposten den Zaunabschnitt vor ihnen passiert. Immer zu zweit und mit Sturmgewehren der Reihe M-16 ausgestattet. Die beiden Quasselstrippen von vorhin fehlten allerdings noch, weshalb Luna von mindestens drei Teams ausging. Weiter entfernt erklang das brummende Geräusch von Fahrzeugmotoren, entfernte sich kurz darauf jedoch, bis es gänzlich verstummte.

Von ihrer Position aus konnten Luna weiter östlich der Ranch eine Art Wachturm mit ebenfalls zwei bewaffneten Personen darauf erkennen. Sicher nicht der einzige auf dem Gelände.

Jonathan wunderte sich jedoch über dessen Position. »Warum stellt man sowas mitten auf das Gelände? Würde so ein Turm an den Zäunen nicht viel mehr Sinn ergeben?«

Eine Treppe führte zu einem darunter stehenden Bunker mit einer roten, massiv erscheinenden Tür, keine erkennbaren Fenster. Das Areal des Turms war dabei paradoxerweise noch einmal umzäunt. Luna runzelte über diesen Umstand verwundert die Stirn – und dann sah den Grund dafür. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sie hoffte, dass Jonathan es nicht sah. Sie drehte sich zu ihm und wollte gerade etwas sagen, doch da war es schon zu spät.

Jonathan hatte bereits seine Sphärenbrille aus seiner Beintasche geholt und betrachtete durch diese hindurch den Turm. »Es ist unglaublich. Ich hätte nicht gedacht, dass es doch so deutlich zu erkennen ist. Es sind keine Portale im eigentlichen Sinne, Luna. Vielmehr sind es winzige, helle Risse, mitten im Raum«, stellte er erstaunt fest. »Und sie tanzen hin und her.«

»Stell dir vor, das weiß ich. Du kannst das so gut wahrnehmen, weil auf der anderen Seite vermutlich Tag ist«, raunte sie missmutig.

»Das einzige Problem ist, ich sehe den Übergang innerhalb der Umzäunung des Wachturms. Also noch ein Zaun mehr, um den wir uns kümmern müssen.«

Luna seufzte resigniert und fluchte leise. Ihre Augen waren gut genug, dass sie auch ohne die Brille bestätigen konnte, was er sah. Ärgerlicherweise entdeckte sie so schnell keine Alternativen zu diesem Übergang.

»Ich will ehrlich sein. Das ist kacke. Ich habe kein gutes Gefühl. Schau mal, was hier los ist. Wie wollen wir da ungesehen reinkommen?«

»Vielleicht müssen wir das gar nicht? Prinzipiell müssen wir ja nur bis zum Übergang kommen und hindurch springen, richtig?«

Sie konnte nicht fassen, was er da sagte. »Hast du den Verstand verloren?! Dir ist schon aufgefallen, wie gut die bewaffnet sind? Und diese Wachen werden sicher nicht fragen, ob sie schießen dürfen, bevor sie es tun.« Sie seufzte. »Dad, bitte. Lass uns hier noch ’ne Weile warten. Die meisten werden bald Nachtruhe haben, dann sind’s mit etwas Glück nur noch wenige Wachleute. Die können wir dann leichter überlisten.«

Er zögerte einen Moment lang, ging gedanklich noch einmal alle Optionen durch, dann willigte er nickend ein.

Tales from Haven

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