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Kapitel 4
ОглавлениеAlles ist wahr
Warmes Licht drang durch die Fensterfront des Arbeitszimmers auf die Dachterrasse und vermengte sich mit den rhythmisch pulsierenden Lichtern bunter Solarleuchten, die hier und da einige Blumenkästen schmückten. Das typische Klacken des Magnetverschlusses der Terrassentür weckte Jonathan aus seinem ungeplanten Nickerchen. Das Mädchen tapste barfüßig zu ihm auf die Dachterrasse und blieb am Geländer stehen. Eigentlich hatte er ihr nur etwas Raum geben wollen, deshalb war er hinaus auf die Terrasse gegangen – einzuschlafen hatte nicht zu seinem Plan gehört. Zumindest war er froh, dass sie ihr Wort gehalten, ihn nicht einfach ausgeraubt hatte und anschließend spurlos verschwunden war.
Luna stützte ihre Arme auf den blankpolierten Streben des Geländers ab und seufzte. Ihre Augen schauten müde auf den von Laternen beleuchteten Leise Park und die dahinter liegende Silhouette der Innenstadt. Die frische Abendluft umspielte ihr Haar, während sie den Duft des Stadtlebens bei Nacht wahrnahm. Ein Sommernachtstraum aus rauchigen Kneipen, schalem Bier, frisch gebackener Pizza und zu viel Patchouli.
Es umschmeichelte den Hals einer angeheiterten jungen Frau, die in einem der Lokale Beute gemacht hatte. Um ihre Schultern lag der Arm eines Mannes, fast noch ein Junge, der bereit war, in dieser Nacht alles zu tun, was von ihm verlangt wurde. Sie waren sicher einige hundert, wenn nicht sogar tausend Meter von der Dachgeschosswohnung entfernt, aber der Wind stand günstig, sodass Luna den Duft des Parfums mit ihrer feinen Nase ohne Probleme wittern konnte. Eines der Dinge, die sie an sich zu schätzen wusste.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Jonathan, der auf der Sonnenliege räkelnd vor sich hin gähnte.
Luna drehte sich zu ihm um, während sie in den Taschen ihres Hoodies nach einer Lakritzschnecke angelte. Der Duft der Pizzeria war zu gemein, sie brauchte jetzt unbedingt etwas zu knabbern. »I don’t know, ein paar Stunden werden’s wohl schon gewesen sein.« Luna holte tief Luft. »Okay – einiges von dem, was du beschreibst, ist nicht dumm. Ich würde sogar behaupten, du hast den Dreh schon fast raus. Es hapert eigentlich nur noch an Kleinigkeiten, die einfach Quark sind.«
»Kleinigkeiten?« Verschlafen rieb sich Jonathan die Augen. Für einen Moment dachte er, dass Luna ihn weckte, weil sie Fragen hatte. Offenbar ein Irrtum. Sie war bereits fertig mit der Sichtung seiner Unterlagen.
Luna streckte den Nacken so lange hin und her, bis dieser einige Male knackte. »Paulides hatte mit den Missing 411-Fällen recht, diese Menschen sind verschwunden. Nur halt aus anderen Gründen, als man vermutet.«
»Was?« Jonathan tastete etwas unbeholfen nach Lunas Brille und entdeckte sie auf dem Boden neben der Liege. Er griff danach und betrachtete noch einmal das außergewöhnliche Design.
Die Gläser funkelten im Schein der bunten Solarleuchten seines kleinen Dachgartens in unzähligen Farben. Es erinnerte Jonathan entfernt an zwei große Diamanten, die man statt gewöhnlicher Gläser in die Brille gesetzt hatte. Das war selbstverständlich quatsch, änderte jedoch nichts an dem Eindruck. Er reichte sie ihr und Luna steckte sie vorläufig wieder ein.
»Sprichst du von den ganzen Vermissten in den National Parks?«, wollte er wissen.
»Das sagte ich doch gerade.«
»Was ist damit? Du willst doch nicht etwa andeuten, dass all diese Menschen durch die Zeit gesprungen sind?«
Luna rieb sich die Augen. »Nein! Es ist eher ’ne Art unfreiwilliger Wechsel zwischen dieser und einer der unzähligen anderen Welten, der da passiert.« Jonathan verzog sein Gesicht zu einer fragenden Miene. »Alles mit der Zeit. Erst einmal sei gesagt: Alles ist wahr. Jede Geschichte von merkwürdigen Kreaturen oder seltsamen Begebenheiten hat mindestens einen wahren Kern. Es gab meines Wissens aber nie ’nen Wanderer, der Gott gespielt hat. Das wär’ gegen den Kodex.«
»Kodex?« Jonathan bemühte sich, konnte ihr jedoch kaum folgen.
»So ’ne Art Leitfaden für Mitglieder des Netzwerks. Es verbietet solche Dinge, wie in ’ner weniger entwickelten Welt Gott zu spielen.«
Irritiert schüttelte er seinen Kopf. »Wovon redest du?«
»Deine Arbeit? Parallelwelten existieren.«
Jonathan schreckte hoch und starrte sie regungslos an. Er spürte das plötzliche Adrenalin in seinen Adern pulsieren und sein Herz in der Brust hämmern. Dann hatte er recht? Sein Atem wurde immer schneller und Übelkeit stieg in seine Speiseröhre auf.
»Überrascht? Ich hoffe, du verstehst jetzt, warum ich erst wissen musste, was du schon alles herausgefunden hast, bevor ich mit der Tür ins Haus falle.«
»Rücksichtsvoll geht trotzdem anders«, murrte er.
»Nevermind! Ein Gerät zum Stabilisieren der Schwingungsfrequenzen zweier Welten braucht man übrigens nicht. Schon gar nicht, um die Grenze zwischen den Welten zu überschreiten. Zumal du hier ’ne Form von Übergängen beschreibst, die du ohnehin besser meiden solltest. Temporäranomalien sind kein Spaß, mein Bester. Es gibt gute Gründe, warum man die Finger von denen lassen sollte.«
»Temporäranomalien? Was soll ich darunter verstehen?« Sein Kopf pochte. Dieses Mädchen presste gerade drei Jahre seiner Nachforschungen in drei Minuten herunter, als wäre es selbstverständlich, das zu wissen. Jonathan fühlte sich mit einem Mal, als hätte er die letzten Jahre nur stümperhafte Grundlagenforschung betrieben.
Luna fuhr sich mit ihren Händen durchs Haar. »Das weißt du echt nicht? Wundert mich jetzt etwas.«
»Nein. Ich bin gerade ehrlich gesagt etwas überfordert. Und vielleicht einem Schlaganfall nahe, bin nicht ganz sicher.« Er ließ sich wieder auf die Liege zurückfallen. Sein rechter Arm ruhte auf seinem Gesicht bei dem Versuch, das plötzliche Flimmern vor seinen Augen zu unterbinden. »Parallelwelten existieren«, murmelte er tonlos.
Luna scheuchte mit ihrem Handrücken einige Insekten davon, die penetrant um ihren Kopf herum surrten. »Blöde Mücken«, maulte sie und betrachtete ihren Dad. Er lag da, als hätte er gerade einen Hitzschlag erlitten. »Tut mir leid. Ich dachte, es ist besser, damit anzufangen, worin du bei deiner wirklich gut ausgearbeiteten Theorie falsch liegst. Das macht es irgendwie leichter, auch den Rest zu verstehen.« Sie pausierte. »Soll ich ’nen Gang runterschalten?«
Jonathan hob ein Stück den Arm und öffnete ein Auge, um sie anzusehen. Eine gut versteckte Sorge machte sich in ihrem Gesicht bemerkbar. »Ich bitte darum.«
»Sure. Hast du schon mal davon gelesen, dass Leute ganz plötzlich für kurze Zeit innerhalb ihrer modernen Großstadt ein mittelalterliches Dorf vor Augen hatten? Oder etwas anderes, das nicht in die gewohnte Umgebung passte? Nur um Sekunden später wieder an Ort und Stelle zu stehen, als wenn nie etwas gewesen wäre?«
»Hmm, schon, ja. Menschen, die so eine Erfahrung gemacht haben, sprechen oft von einer Zeitreise. Natürlich glaubt man ihnen nicht«, antwortete er mit gedämpfter Stimme.
Luna angelte bereits nach ihrer dritten Lakritzschnecke. »Stimmt ja auch nicht. Diese Leute hatten ein Erlebnis mit ’nem instabilen Übergang. Eben ’ner sogenannten Temporäranomalie.«
»Instabiler Übergang?«
»Ja. Kennst du diesen echt coolen Zaubertrick, bei dem der Zauberer so tut, als würde er ’ne Münze durch ’nen Ballon in ’ne Flasche drücken?« Jonathan nickte. »So ist es in etwa mit Temporäranomalien. Es macht den Eindruck, als wäre ein Objekt auf der anderen Seite, ist es aber nicht. Und ehe man sich versieht, ist der Zauber auch schon wieder vorbei.«
»Verstehe.« Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag ins Gesicht. Er hob seinen Arm und blinzelte. »Also hatte ich recht. Du bist nicht meine Tochter. Du bist die Tochter, einer anderen Version von mir! Eines Jonathans aus einer Parallelwelt. Einer, der beschlossen hat, ein Kind haben zu wollen, stimmts?«
»Falsch!«, zischte Luna. »Sei dir sicher, Dad, ich bin deine Tochter und nicht die irgendeines Jonathans!« Er hatte offenbar einen Nerv getroffen.
»Jetzt warte mal eben eine Sekunde. Nach allem, was du mir erklärt hast, ist die Existenz von Parallelwelten real und offensichtlich scheinst du mehr darüber zu wissen als ich. Dann sollte dir klar sein, dass es höchstwahrscheinlich keine Zeitreise ist, die du gemacht hast, sondern eine Reise in eine Parallelwelt mit anders verlaufender Zeitachse. In der ich eben noch kein Kind gezeugt habe.«
Ein langgezogenes, von höhnischem Augenrollen begleitetes »Nein«, entwich Luna. Leicht genervt schob sie sich noch eine Lakritzschnecke in den Mund. »Das hier ist ganz sicher B-14.91.I.74-002. Nur eben aus irgendeinem Grund nicht meine Zeit.«
Jonathans Miene verhärtete sich. »B-14 ... was?«
»Die Kennzeichnung dieser Welt im System. B steht dabei für den Quadranten und 14 für dessen Position. Die anderen Daten ...«
»Verwirren mich nur noch mehr, also – lass es fürs Erste.« Das Wummern in seinem Kopf wurde langsam weniger und er wollte, dass es dabeiblieb.
Luna hob die Hände in die Luft. »Okay, dann eben nicht.« Sie sah im Augenwinkel die Scheinwerfer eines vorbeifahrenden Autos. Viel zu schnell, aber wen interessierte das so spät am Abend? Sie knabberte an ihren Daumennagel und dachte nach. »Vielleicht wird’s so einfacher.« Luna trat dicht an ihren Dad heran, kramte in ihrer Tasche nach etwas und holte es hervor. Sie hockte sich neben ihn hin und stupste ihn an. »Siehst du das hier?« Jonathan fokussierte das Mädchen. Luna hielt ein Gerät mit schwarzem Gehäuse hoch, welches an ein gewöhnliches, wenn auch klobiges Outdoor-Smartphone erinnerte. »Das ist ein Na-Vi. Es zeigt dir unter anderem alle bekannten Weltentore in der aktuell besuchten Welt an und gibt dir Infos zu diesen. Es ist so ’ne Art Nachschlagewerk und Multifunktionstool für weltenwandernde Wesen, könnte man sagen.«
Jonathan richtete sich etwas auf und griff nach dem Gerät. Ungewöhnlich schwer lag es in seiner Handfläche. Er begutachtete es von allen Seiten, als hätte er nie zuvor etwas Vergleichbares in seinen Händen gehalten. »Weltenwandernde Wesen? Du sagst Wesen, nicht Menschen.«
»Richtig. Mein Na-Vi ist auch der Grund, warum ich Kontakt zu dir aufgenommen hab«, ergänzte sie und ignorierte vorläufig seine Frage. »Es ist defekt. Hat direkt nach meiner Ankunft in der Wüste den Geist aufgegeben. Ging kaum ungünstiger, sage ich dir. Die Zielkoordinate, also deine oder vielmehr unsere Heimatwelt, hatte es vorher aber noch angezeigt. Zumindest etwas, an das ich mich nach dieser irren Nummer orientieren konnte.«
Jonathan hob neugierig die Augenbrauen. »Verstehe, und weil ich dieses Gerät irgendwann mal bauen werde, soll ich es jetzt reparieren, damit du wieder zurück in deine Gegenwart gelangen kannst?« Er stand auf und ruderte mit seinen muskulösen Armen hin und her, um mehr Sauerstoff in seine Blutbahnen zu bekommen. Er musste nachdenken. Dann untersuchte er das Gerät erneut. Es wirkte auf den ersten Blick wirklich wie ein einfaches Smartphone, nichts Besonderes also. Tatsächlich war er von Beruf Ingenieur, weshalb die Annahme, dass es von ihm war, gar nicht so weit hergeholt war. Nicht das einzige Handwerk, von dem er etwas verstand. Er hatte zwischendurch als Fahrzeugmechaniker gearbeitet, hatte aus Langeweile das Programmieren von Software erlernt, sich als Botaniker versucht, als freiberuflicher Fotograf gejobbt und war Reiseführer für ortsunkundige Touristen gewesen. Er war schlicht ein nie zufriedenzustellender Tausendsassa. In seinen sechsunddreißig Lebensjahren hatte er daher schon überall und nirgendwo seine Nase drin gehabt.
»Was? Nein! Bist du doof?!« Auch Luna erhob sich jetzt wieder und streckte einmal kurz die Knie durch.
»Du hast das Na-Vi nicht erfunden. Außerdem kann man damit nicht durch die Zeitreisen.« Luna musste ein wenig grunzen bei dem Gedanken, dass ihr Dad glaubte, für eines der wichtigsten Utensilien des Netzwerks verantwortlich zu sein.
»Oh, – okay«, antwortete er, während ihm eine leichte Enttäuschung durchaus anzusehen war. Dann reichte er ihr das klobige Gerät zurück.
»Das Na-Vi, bescheiden nach seinem Erfinder Nathaniel Villigan benannt, dient in erster Linie dazu, Routen zwischen den einzelnen Welten zu berechnen.« Sie stockte kurz und erkundigte sich blinzelnd nach der Verfassung ihres Vaters, bevor sie fortfuhr. »Übergänge sind immer in Bewegung, weißt du? Also die meisten zumindest. Manche mehr, manche weniger. Einige versiegen mit der Zeit, andere kommen neu dazu. Es ist wie ein lebendiger, kosmischer Organismus. Und nur weil du von Erde A nach Erde B springst, bedeutet das nicht immer, dass du einfach wieder durch denselben Übergang zurückkannst.« Ihre Finger fuhren in die Höhe und Luna begann Kreise und Linien in der Luft zu zeichnen. »Oft musst du von B, nach C, nach D, E oder F, um wieder einen Weg nach A zubekommen. Das liegt an den Schwingungsfrequenzen der jeweiligen Erden. Die sind auch dafür verantwortlich, dass die Übergangspunkte und Arten variieren. Daher nutzen wir das Na-Vi. Aber ja, du kannst dir auch den Weg zum Nächsten McDonalds zeigen lassen, wenn du hungrig bist.«
Jonathan lief ziellos im Kreis herum. Er verharrte, eine Hand vor Mund haltend, die andere am Becken abstützend, mit Blick auf die fahlbeleuchteten Wege des Leise Parks. Ein junges Pärchen schlenderte turtelnd und gackernd von Laternenschein zu Laternenschein.
Jonathan konnte nicht fassen, was hier passierte.
Er war doch nur ein Träumer, ein Spinner, dessen Interesse für diese Thematik per Zufall geweckt worden war, als er von Langeweile getrieben im Internet surfte. Wie konnte er damit richtig liegen?
Luna trat neben ihm ans Geländer und warf einen Blick auf die belebten Straßen hinunter. Sie entdeckte ein Paar im Park, zweifellos die Patchouli-Frau mit ihrem Fang.
Jonathan betrachtete die Silhouette Lunas zarter Gesichtszüge, wie der Wind seicht mit ihren Haarsträhnen spielte, sah das Lächeln ihrer dunklen Lippen, als sie ihre Strähnen hinter ihr Ohr kämmte und vernahm zum ersten Mal bewusst ihren veilchenartigen Duft. Jonathan schwankte. Er hatte eine Tochter. Er hatte eine Tochter – und diese kam aus der Zukunft. Bevor er das Gleichgewicht verlor, griff er mit einer Hand nach dem Geländer. Stumm beobachteten sie das bunte Treiben partyverrückter Leute und den typischen Pechvogel, der in seinem Leben irgendwo die Kurve nicht gekriegt hatte und nun zitternd das letzte Pfandgeld zusammenkratzte, um sich am Kiosk zwei Straßen weiter noch schnell ein Bier zu gönnen.
Luna stupste ihre Schulter an seine. »Kommst du klar?«
Jonathan zögerte abermals und nickte dann. »Ich denke schon. Wie ist es passiert? Ich meine, warum bist du durch die Zeit gereist?«
Luna atmete tief ein und stieß hörbar einen Schwall Luft aus. »Ganz ehrlich? Ich weiß nicht, wie das passiert ist. Ich weiß nur, dass es passiert ist. Ich wusste nicht einmal, dass so etwas geht.« Sie sah das leidenschaftlich knutschende Pärchen unbeholfen über die Pforte des Parks klettern. »Oh, jetzt sieh sie dir an, sind die nicht putzig?« Wenige Augenblicke später verschwanden die Turteltäubchen in einer Nebenstraße und das klirrende Geräusch einer leeren Flasche, die offenbar jemand umgestoßen haben musste, hallte durch die Gassen.
»Du lenkst ab. Wie ist es passiert?«
Luna seufzte. »Ich bin Hinweisen auf ein vermisstes Mitglied des Netzwerks nachgegangen«, fuhr sie fort, »und dazu in ’ne Welt im D-Sektor gesprungen. Blöderweise war die gerade am Abkacken. Aber so richtig.«
Jonathan hob die Augenbrauen. »Am Abkacken? Welch eloquente Wortwahl.«
»Na ja, diese Erde war im Arsch und gerade dabei Badaboom zu machen.« Luna ahmte mit ihren Händen eine Explosion nach. »Und gerade als ich dachte, das war’s jetzt, aus – Ende – vorbei, öffnete sich ein Übergang. Ein riesen Ding von ’nem Übergang. Sowas hatte ich noch nie gesehen. Also bin ich da durchgesprungen, um meinen Hintern zu retten. Das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich am Sonnentor in Bolivien rausgekommen bin und ’nen riesen Durst hatte.«
Jonathans Augenbrauen kletterten in die Höhe. »Wow. Und du bist sicher, dass das ein Zeitsprung war?«
»Leider ja. Nathaniel ist zwar ein großkotziger Stinker, aber seine Technik funktioniert in der Regel einwandfrei.«
»Verstehe.« Jonathan streckte sich und holte tief Luft. »Was machen wir jetzt?«
»Ich muss Kontakt zum Netzwerk aufnehmen, meine Situation erläutern und hoffen, dass dort einem ’ne Lösung bekannt ist, wie ich wieder in meine Zeit zurückkomme. Ohne funktionierendes Na-Vi, allerdings ’ne schwierige Angelegenheit.«
Da war es wieder, dieses Wort. »Netzwerk? Das hast du vorhin schon mal erwähnt«, hakte Jonathan nach.
»Yes, das Wanderer-Netzwerk.«
»Es gibt also ein ganzes Netzwerk von Leuten, die davon wissen?«, unterbrach Jonathan sie ungläubig.
»Klar gibt’s das. Du würdest dich wundern oder sollte ich sagen, du wirst?«
Sie ließ ihre Augen für einen flüchtigen Moment – die Richtigkeit ihrer Wortwahl überdenkend – nach oben schweifen. »Na ja, jedenfalls weiß ich, dass du auf deiner ersten Reise jemanden aus dem Netzwerk triffst und ihm wenig später beitrittst.«
Jonathans Augen weiteten sich. »Deshalb hast du mich aufgesucht. Weil du mich auf meiner ersten Reise begleiten willst und so hoffst, nach Hause zu kommen.«
»Ja.« Eine schuldbewusste Traurigkeit trat auf ihre Miene. »Tut mir leid, dass ich dich so überfallen habe. Aber was hätte ich tun sollen? Dir ’ne Story erzählen und mal gucken, was passieren wird?«
Jonathan schüttelte den Kopf. »Nein. Das wäre am Ende nur in die Hose gegangen. Und dann ...«
»Wäre die Vertrauensbasis total im Arsch gewesen.«, ergänzte Luna tonlos.
Jonathan nickte. »Richtig. Also dieses Netzwerk kann helfen? Wie?«
»Nun ja, sie fungieren als Hüter, Forscher und Entdecker all der unzähligen Welten da draußen. Wenn es also eine lebende Seele gibt, die etwas über Zeitreisen weiß, werden wir dort fündig.«
Jonathan nickte zurückhaltend. »Klingt einleuchtend.«
Luna knabberte an ihrem Daumennagel, dann sah sie Jonathan erneut an. »Also – wirst du mir helfen?«
Jonathans Aufmerksamkeit verharrte einige Momente auf einem Schwarm Insekten, die um einer der Straßenlaternen tanzten. Es war nicht so, dass er nicht behilflich sein wollte, er wusste nur nicht, ob er es wirklich konnte. Zeitreisen, Parallelwelten, fremde Wesen – hatte er das passende Nervenkostüm dazu? Jonathan strafte die Schultern, räusperte sich und blickte zu seiner mittlerweile verunsicherten Tochter hinunter. »In Ordnung. Aber wir brauchen Regeln.«
Luna horchte auf. »Keine Sorge, ich werde dich nicht bei deiner Arbeit behindern, versprochen.«
»Nett. Aber das meinte ich gar nicht. Du bist nicht freiwillig durch die Zeit gesprungen. Wir wissen also nicht, was das für Auswirkungen haben könnte, vielleicht wirst du hierdurch ja niemals geboren? Schon mal darüber nachgedacht?«
»Was du nicht sagst, Einstein. Du hast dir Zurück in die Zukunft sicher ein Duzendmal mit mir angesehen. Ich weiß, was passiert, wenn Marty sich in die Beziehung seiner Eltern einmischt. Was glaubst du wohl, weshalb ich hier bin und dich bitte mir zu helfen? Weil ich Bock hatte zu sehen, was mein Dad vor meiner Geburt so gemacht hat?« Luna drehte sich um, lehnte sich mit ihrem Hintern an das Geländer der Terrasse und verschränkte die Arme. »Aber ich denke, solange du nicht weißt, wer meine Mum ist, dürfte ich safe sein.«
»Gute Güte, Kind!«, unterbrach er seine Tochter.
»Was?«
»Es ist vollkommen egal, wer deine Mutter ist. Treffe ich im hier und jetzt eine andere Entscheidung oder tue etwas, das ich eigentlich nie getan hätte, kann es genauso gut passieren, dass ich deine Mutter niemals kennenlernen werde. Darum geht es. Das allein könnte deine jetzige Existenz schon gefährden, verstehst du das?«
»Meinst du, dass Zeitreisen so funktionieren?«
»Keine Ahnung. Ich kenne mich da so wenig aus wie du. Und genau aus diesem Grund brauchen wir Regeln.«
Luna runzelte die Stirn und hätte am liebsten etwas nach ihm geworfen. »Schlauberger. Woher willst du denn wissen, ob diese Regeln funktionieren, wenn du selbst keine Ahnung hast?«
»Es ist eigentlich ganz einfach. Regel eins: Erzähle mir nichts aus deiner Zukunft, dass meine Entscheidungen beeinflussen könnte.«
Sie stutzte irritiert. »Willst du mich rollen? Woher soll ich denn wissen, was deine Entscheidungen triggert?«
»Na, dafür wirst du doch wohl ein Gefühl haben, oder?« Er schaute sie fragend an. »Oder?« Luna zuckte zögerlich mit der linken Schulter. »Gut. Regel zwei: Bleib in der Wohnung. Jede unnötige Interaktion mit den Leuten aus dieser Zeit könnte ebenfalls verheerende Folgen haben.«
Sie hielt kurz inne. »Okay, Regel eins geht klar.« Das war eine ungünstige Regel, wie sie fand. Doch Luna beschloss, dass sie für einen Abend schon genug Unruhe produziert hatte, und beließ es vorläufig dabei.
»Und Regel zwei?«, hakte Jonathan nach.
»Kannst du dir in den Hintern schieben. Ich bin ein Teenager und reagiere furchtbar allergisch auf solche Dinge wie Hausarrest.«
Jonathan rieb sich die Augen und zwang sich zu einem künstlichen Lächeln. »Klasse, echt klasse.« Worauf hatte er sich hier nur eingelassen?