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Kapitel 10
ОглавлениеJagdfieber
Luna und Jonathan lauerten geduldig hinter ihrem Busch und im Dreck liegend auf ihre Chance. Die bewaffneten Wachen passierten den Zaun vor ihnen noch einige Male, dann hielt einer von ihnen überraschend auf ihrer Höhe an. Er richtete seinen Blick auf genau die Stelle, an der sich die beiden verschanzt hatten.
Luna blieb das Herz stehen. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr direkt in ihre Augen sah. Erleichtert atmete sie auf, als er nur wenige Augenblicke später weiterzog. Sie fasste sich an die Brust und spürte ihr Herz noch einige Minuten wie verrückt rasen.
Dichter Bodennebel zog vom südlich gelegenen Fluss ausgehend auf. Er bot den beiden zumindest etwas mehr Deckung, auch wenn ihre Kleider dadurch schleichend klamm wurden. Jonathan hatte schon einige Male ein solches Phänomen gesehen, aber niemals so intensiv wie hier. Als die beiden Wachen, die Luna liebevoll Klipp und Klapp taufte, da sie nur am Quasseln waren und sonst nicht viel mitbekamen, das nächste Mal an ihnen vorbeizogen, sah Jonathan seine Chance.
Er zog einen kleinen Bolzenschneider aus seinem Rucksack und huschte in geduckter Haltung zu dem Zaun.
Luna wartete unter dem Busch. Vorsichtig trennte Jonathan mit dem Bolzenschneider ein paar Maschen des Zauns auf. Genug, um sich dort hindurchzwängen zu können. Dann gab er Luna ein Handzeichen und diese trat aus dem Schutz des Waldes hervor.
Flink passierten sie den kleinen Spalt am Zaun und bewegten sich rasch, geduckt und nach Wachposten Ausschau haltend vorwärts, zu dem wenige hundert Meter vor ihnen liegenden Turm. Sie schienen schon fast unverschämtes Glück zu haben, denn der Turm wirkte wie ausgestorben.
Luna kam das merkwürdig vor. Zuerst war das ganze Gelände voll mit Wachen und jetzt war es so ruhig, schon fast zu ruhig für ihren Geschmack. Beunruhigt schaute sie sich um. Weit und breit gab außer der Wiese und einigen kleinen Sträuchern weiter westlich es nur dieses Gebäude. Sonst war niemand zu sehen. »Hier stimmt irgendwas nicht«, murmelte sie. Nicht einmal ihre feine Nase nahm eine richtungsweisende Witterung auf.
Jonathan, der sich an dem Zaun des Wachturms zu schaffen machte, stoppte kurz und schaute sich nach verdächtigen Bewegungen in der Dunkelheit um. »Was meinst du?«
»Ich kann’s nicht erklären, irgendwie ist es so einfach. Zu einfach, findest du nicht? Wir haben seit der letzten Streife keine Wachen mehr gehört, geschweige denn gesehen. Dabei müssten da drüben so langsam Klipp und Klapp von ihrer Runde wieder in unsere Richtung kommen. Und der Turm? Warum ist der nicht mehr besetzt?«
Jonathan hielt in der Bewegung inne und dachte kurz nach. Dann schüttelte er mit dem Kopf und setzte die Schneide des Bolzenschneiders an den Zaun.
Ein greller Lichtblitz brannte mit einem ohrenbetäubenden Knall ein Loch in die Schneide seines Werkzeugs und machte dieses augenblicklich unbrauchbar.
Jonathan sprang erschrocken nach hinten. »Verdammt! Der Zaun steht unter Strom.«
»Wo wollen die Herrschaften denn hin?«
In einer reflexartigen Bewegung drehte sich Luna in Richtung der Stimme und erstarrte vor Schreck.
Wo kommen die plötzlich her? Warum habe ich die nicht bemerkt?! Sie stockte. Mist! Kann das sein? Haben sie so penibel auf die Windrichtung geachtet und längst auf uns gewartet?
Jonathan entglitten alle Gesichtszüge. Grimm und Preston, die beiden Männer vom Grenzschutz, standen mit einer Gruppe bewaffneter Wachen plötzlich hinter ihnen. Jonathan straffte die Schultern und trat schützend vor Luna.
»Mister King, wie schön, dass sie ihre Tochter doch noch gefunden haben. Ich muss allerdings zugeben, dass mein Partner und ich etwas enttäuscht sind. Wir hatten wirklich gehofft, dass sie vernünftiger sind. Nur gut, dass Mister Preston skeptischer war als ich. Und Sie, Miss – äh, aktuell Stella Tier, richtig? Sie hätten sich vielleicht über die Diskretion ihres Geschäftspartners informieren sollen, bevor Sie sich eine neue Identität besorgten.« Gelbe, große Zähne kamen in Mister Grimms Mund zum Vorschein. Ein dreckiges Lächeln entwich ihm.
»Ich werd’s mir merken«, knurrte Luna verärgert.
»Egal, wohin es gehen sollte, eure Reise endet hier!«, fuhr Mister Grimm mit einer bestimmenden Tonlage fort.
»Runter mit euch! Hände hinter den Kopf! Gesicht zu Boden!«, kreischte Mister Preston. Er rieb sich dich Handflächen und seine lange Zunge leckte über die ungewöhnlich spitzen Zähne. »Es wird bald vorbei sein, keine Sorge.«
Langsam ließ der Schreck nach und Luna gewann wieder die Kontrolle über ihren Körper. Sie zählte zehn Personen inklusive der Blues-Brothers-Imitatoren. Acht davon bewaffnet.
Sie standen nur wenige Meter von ihnen entfernt. Sie hob den Kopf zum Turm, sah dort jedoch weiterhin niemanden. Ihre Nase schnaubte unaufhörlich einen Schwall Luft nach dem anderen hinaus. Diese Leute auszuschalten, war nicht unmöglich, aber erst musste sie sich um ihren Dad kümmern.
»Geh runter auf den Boden«, flüsterte sie Jonathan vorsichtig zu. »Schließ die Augen und Ohren. Egal, was du hörst oder glaubst wahrzunehmen. Du bleibst unten, bis ich dir etwas anderes sage!«
Seine Hände fingen an, unkontrolliert zu zittern, und die Knie waren ungewohnt wackelig. »Was hast du vor?«
Luna ließ die beiden Männer vor ihr nicht aus den Augen. »Dad, bitte, tu einfach, was ich dir sage.«
Sein Körper wollte ihm nicht länger gehorchen. »O-okay.« Ohne es zu hinterfragen, folgte er ihrer Anweisung und kauerte sich auf dem Boden.
Ein süffisantes, von Bosheit geprägtes Schmunzeln entglitt Luna für den Bruchteil einer Sekunde beim Anblick der Männer vor ihr. So gut die Greys auch vorbereitet sein mochten, sie sahen in Jonathan und Luna nur zwei gewöhnliche Menschen. Wäre es anders, hätten sie mehr Leute in besserer Ausrüstung geschickt. Zu ihrem Pech hatten sie keine Ahnung, was ihnen gleich blühen würde.
Luna stellte sich schützend vor ihren Dad. Atmete tief ein und aus. Sie war ganz ruhig. Die Beute fixierend spannte sich jeder Muskel und Nerv in ihr bis aufs Äußerste. Das wenige Adrenalin in ihrem Blutkreislauf sollte ihre Handlungsfähigkeit nicht beeinträchtigen.
»Ihr seid also Greys? Hab schon viel von euch und eurer Unverwüstlichkeit gehört« Sie lächelte dreckig und fuhr ihre dunklen Nägel in einem Ruck zu kräftigen Krallen aus.
Die Wachleute wichen erschrocken einen Schritt zurück, während die beiden Männer im Anzug sich vollkommen unbeeindruckt zeigten. »Wollen mal sehen, ob ihr eurem Ruf gerecht werdet.«
Jonathan lag mit den Händen über dem Kopf und mit dem Gesicht voran im vom nebelfeuchten Gras. Sein ganzer Körper bebte unkontrolliert. Er versuchte, ruhig zu atmen, seinen Körper unter Kontrolle zu bekommen, es wollte ihm nicht gelingen. Er nahm nur gedämpft wahr, was Mister Grimm in einem harschen Befehlston von sich gab. Jonathan konnte nicht fassen, was hier passierte. Sein Herz raste und kalter Schweiß tropfte von seiner Nasenspitze. So hatte er sich das alles nicht vorgestellt. Dann vernahm er nacheinander das Klacken von Spannhebeln. O Gott! Sie laden die Gewehre! Warum zum Teufel, laden sie die Gewehre?! Jonathan verkrampfte vor Anspannung und kniff die Augen mit aller Kraft zusammen. Erneut ertönte eine Stimme. Dieses Mal war es Mister Preston, der brüllte. »Feuer!«
Jonathan zuckte zusammen, als die ersten Schüsse fielen. Er zitterte am ganzen Leib, umklammerte schützend seinen Kopf und hoffte nur noch, hier wieder heil rauszukommen. Konzentrierte Maschinengewehrsalven zischten durch die Luft. Jonathan schrie auf, als einzelne Kugeln nur wenige Zentimeter neben ihn in die Erde einschlugen. Verdammt! Wir werden hier sterben! Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er wünschte sich, er könnte seiner Tochter sagen, wie schrecklich leid es ihm tat, nicht auf sie gehört zu haben.
Die Männer brüllten unverständliche Flüche und ihre Schüsse wurden immer unkoordinierter.
Fast schon panisch. Dann wurde es still. Nur noch ein klagendes Wimmern dicht gefolgt von einem erstickenden, gurgelnden Geräusch drang durch die Nacht.
Jonathan horchte auf. Jemand näherte sich ihm. Langsame Schritte, die das feuchte, knöchelhohe Gras durchstreiften. Eine Hand berührte seine Schulter, er zuckte zusammen und öffnete seine Augen. Es war Luna, die sich neben ihn hockte. Ihr Körper war fast komplett von Blut und kleinen Fleischbröckchen bedeckt. Jonathan öffnete immer wieder seinen Mund, doch er brachte keinen Ton hervor.
»Es ist okay, es ist vorbei. Du kannst aufstehen.« Lunas Stimme war ungewohnt ruhig für ihre Verhältnisse. Noch ganz starr vor Schreck rappelte er sich nur langsam auf, während Luna ihn fest packte und nach oben zerrte. »Komm schon, hoch mit dir! Wir müssen hier weg!«
Wieder auf den Beinen versuchte er zu begreifen, was gerade eben geschehen war. »W-wo sind Grimm und die anderen hin? W-was hast du mit ihnen gemacht?!« Weit und breit war nichts mehr von den Wachleuten zu sehen. Als wären sie nie da gewesen. Nur die klamme Nachtluft mit einer Note von etwas, was er nur als metallisch beschreiben konnte, und der dichte Bodennebel. Jonathans Beine gaben immer wieder leicht nach.
»Wir haben jetzt keine Zeit für Erklärungen! Dahinten kommen noch mehr!« Luna zerrte ihn an seinem Arm in Richtung des Loches am Zaun. »Pass auf, wo du hintrittst!«
Doch Jonathan stoppte sie. »Das bringt doch nichts! Gehen wir dort lang, kriegen sie uns!« Er blickte erneut zum Turm. Seine Gedanken verschwammen zu einem unklaren Brei aus Verzweiflung, Hilflosigkeit und dem Wunsch, das Richtige tun zu wollen. »Luna, wir müssen doch nur noch diesen Zaun überwinden, dann haben wir es geschafft!«
»Du Idiot! Das hier ist kein Spiel, klar?! Es ist vorbei! Wir kommen hier nicht weiter!«
Ein dumpfes Röcheln ertönte aus dem Bodennebel.
»Bleiben sie, wo sie sind. Alle beide!«, fauchte der körperlose Kopf von Mister Grimm. Jonathan wurde kreidebleich bei seinem Anblick und übergab sich.
Luna hockte sich zu dem auf dem Boden liegenden Kopf von Grimm hinunter. »Wow! Das ist faszinierend.« Grimm versuchte sie zu beißen, als ihr Finger gegen seine krumme Nase schnipste.
Jonathan schwankte verunsichert. »I-ist das ein Kopf? Ein sprechender Kopf?«
»Jap«, antwortete Luna knapp und erhob sich wieder. Sie schüttelte ihren Kopf und spitzte die Ohren. Das Haupttor lag einige hundert Meter entfernt. Sie konnte hören, dass dort in diesem Moment deutlich mehr Leute ihre Fahrzeuge bestiegen. Sie packte Jonathan am Arm und rannte.
»Halt!«, brüllte Mister Grimms Kopf wutverzerrt. »Urgh! Eine Flucht ist zwecklos! Wir kriegen euch! Früher oder später kriegen wir euch!«
Ob Jonathan wollte oder nicht, er konnte sich nicht aus Lunas überraschend kräftigen Griff lösen. Er gab nach und die beiden flohen zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Luna hatte die lächerliche Hoffnung, im Schutz des Waldes zu entkommen. Ihr war klar, dass es kein leichtes Unterfangen sein würde, aber sie mussten es versuchen. Sie rannte, als wenn der Teufel höchst persönlich hinter ihr her war.
So sehr Jonathan sich auch anstrengte, er kam selbst mit seinen langen Beinen kaum hinterher. Würde Luna ihn nicht festhalten und hinter sich herziehen, wäre sie sicher schon über alle Berge.
Die Scheinwerfer der Trucks, die sie verfolgten, kamen schnell näher. Einer von ihnen eröffnete das Feuer.
Nicht sicher, ob es Sperrfeuer zur Abschreckung war oder ob dort jemand einfach nicht zielen konnte, rannten sie im Zickzack. Hoffnung beflügelte alle beide. Sie waren fast da. Nur noch wenige Meter trennten die beiden von der Grundstücksgrenze. Doch plötzlich und ohne jede Vorwarnung trat Luna ins Nichts. Sie taumelte, riss Jonathan mit sich und fiel.
Scheiße, wo kommt das Loch jetzt her?! Luna war sicher, dass es vorher nicht da gewesen war. In der Luft taumelnd und in alle Richtungen ins Leere greifend, hämmerte ihr Herz wie verrückt. Tief unter ihnen erstreckte sich plötzlich eine schneebedeckte Landschaft. Sie mussten demnach weit oben in der Luft sein. Einer der Trucks fiel nur knapp an ihnen vorbei. Mehr konnte Luna nicht erkennen, denn der eisige Wind zwang sie dazu, ihre Augen für einen Moment zu schließen. Beim nächsten Augenaufschlag hatte erneut der Schauplatz gewechselt. Der Wind war deutlich wärmer und es war taghell. Unter ihnen lag ein Gebirge und es kam rasendschnell näher.
»Ooooh Scheiße!« Jonathan kniff ungläubig seine Augen zu und verkrampfte seine Gliedmaßen. Hoffte, dass es ein böser Traum war. Sein Adrenalin pochte in seinen Adern bis zum Anschlag und ließ seinen ganzen Körper beben.
»Halt dich gut fest!«, rief Luna.
So gut er konnte, klammerte er sich an ihren Arm.
Luna kniff kurz vorm Aufprall erneut ihre Augen zu und betete, dass es nicht das Ende sei. Beim nächsten Öffnen waren sie wieder viel weiter oben in der Luft und unter ihnen – so weit das Auge reichte – Wasser.
»Wuuuuhhhuuuu!« Dem Rotschopf entging nicht, wie knapp sie dem sicheren Tod entkommen waren.
Noch waren sie aus der Nummer zwar nicht raus, aber wenigstens waren sie nicht als hässlicher Matsch in irgendeinem Gebirge geendet. Dennoch wurde auch ein Aufprall auf dem Wasser aus dieser Höhe keinesfalls lustig.
Es war wieder Nacht und ein Sturm wütete. Sie zog Jonathan zu sich, umarmte ihn fest und inniglich und drehte sich langsam mit dem Rücken zur Wasseroberfläche. Verzweifelt versuchte sie, diese Position zu halten. Tut leid Dad, ich wünschte, wir hätten mehr Zeit miteinander gehabt. Ich hätte dir noch so viel erzählen wollen. Aber wie sagst du später immer so schön? Vielleicht sollte es so kommen.
Unaufhörlich fielen sie weiter. Der tosende Wind um sie herum verstummte. Alles war still. Es gab nur sie beide und diesen Moment. Sie lächelte ihrem Dad zuversichtlich zu. »Alles wird gut. Dein erster Weltensprung. Ich bin sehr stolz auf dich.«
Ihre Worte klangen für Jonathan schon beinahe wie ein Abschied. Doch bevor er reagieren konnte, schlugen sie mit unbändiger Wucht in die Wasseroberfläche ein und wurden augenblicklich voneinander getrennt.