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Kapitel 1

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Das ungeborene Kind

Weit unter ihnen tobte das wilde Meer, während ein Sturm unerbittlich über ihren Köpfen wütete. Hin und wieder erhellte ein greller Blitz, gefolgt von ohrenbetäubendem Donner, die Finsternis der Nacht. Sie fielen tief und noch konnte niemand sagen, ob sie den Sturz überleben würden.

Luna klammerte sich fest an ihren Vater. Auch wenn nicht alles nach Plan verlief, durchzog sie ein Anflug von Stolz. Sein erster richtiger Weltensprung. Sie lächelte. Im nächsten Moment schlugen sie mit unbändiger Wucht auf die Wasseroberfläche ein.

Die schonungslose Strömung riss sie augenblicklich auseinander. Verzweifelt streckte sie ihre Hände nach ihm aus. Doch so sehr sie es versuchte, sie erreichte ihn nicht. Immer wieder erhellten grelle Blitze die Dunkelheit. Seichtes Licht flackerte unbemerkt im Herzen ihres Anhängers, der an einer Kette um ihren Hals baumelte. Ihre feine Nase wurde vom salzigen Wasser geflutet und sie spürte, wie sich ihr Körper dem Unausweichlichen fügte.

Bevor sie gänzlich das Bewusstsein verlor, dachte sie an die vergangenen Tage. Es klang albern, doch es waren die schönsten gewesen, die sie seit Jahren erlebt hatte.

Zwei Wochen zuvor:

Die Sonne brannte heiß herab an diesem Nachmittag im Juni. Ein Umstand, um den sich die Bewohner des alten Berliner Mehrfamilienhauses in der Heinrich-Roller-Straße wenig scherte. Es war selbst im Obergeschoss noch angenehm kühl. Luna begrüßte diese Abwechslung nach ihrer langen und beschwerlichen Reise. Besonders wenn sie bedachte, welche Herausforderung sie noch vor sich hatte. Ihre Hände zitterten vor Anspannung. Gleich würde sie an der großen, grauen, unüberwindbar scheinenden Tür klingeln. Gleich. Jedes Mal, wenn sie den Finger hob und er fast den bronzenen Knopf berührte, schreckte sie zurück, als könnte die Klingel jeden Moment beißen. Ein irrationaler Gedanke, war es doch nur eine normale Wohnungstür. Wenn sie wollte, hätte sie diese vermutlich mühelos durchbrechen können.

Sie dachte in ihrer Nervosität für einen Augenblick darüber nach, hielt es dann jedoch für unangebracht und verwarf den Gedanken direkt wieder. Dennoch, je länger sie vor dieser Tür stand, desto schwieriger erschien es ihr, anzuklopfen. Hatte sie wirklich keine andere Wahl?

Wahrscheinlich würde Jonathan ihr ohnehin nicht glauben und wer konnte es ihm verdenken? Es war zu verrückt, was sie ihm gleich mitteilen würde.

Luna atmete noch einmal tief durch und krempelte die Ärmel ihres viel zu großen, schwarzen Hoodies hoch. Nie hätte sie erwartet, dass sie so nervös sein könnte. Dann fasste sie all ihren Mut zusammen und – Ding Dong.

Das typische Klingelgeräusch ertönte.

Luna biss sich leicht auf die Unterlippe. Erst passierte nichts. Kein noch so kleines Geräusch war aus der Obergeschosswohnung des Mehrfamilienhauses zu hören. In ihrer Ungeduld betätigte sie den Knopf noch ein zweites und drittes Mal, in der Hoffnung, dass sich die verdammte Tür endlich öffnete.

Er wird dir nicht öffnen, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf. Warum sollte er auch? Was bist du schon für ihn? Er kennt dich doch überhaupt nicht! Halt die Klappe!, wehrte Luna ab und schüttelte ihren Kopf, um ihre negativen Gedanken loszuwerden.

Da ertönte der Summer, während sich fast zeitgleich die Tür zur Wohnung öffnete und ein Mann in seinen späten Dreißigern zum Vorschein kam. Das Haar dunkelbraun, voll und unpassend zum Rest des Looks sehr gepflegt. Er trug eine nichtssagende dunkelblaue Jogginghose, nebst einem grauen Fan T-Shirt, welches das Logo des Films Jurassic Park zierte. Irgendwie typisch für ihn, fand Luna. Er wirkte gut trainiert. Nicht fitnesstrainermäßig, aber eine bewusste und gesunde Lebensweise war ihm durchaus anzusehen.

»Ja, bitte?«, erhob Jonathan King gelassen die Stimme. Seine stahlblauen, alles durchdringenden Augen zeugten von einer inneren Ruhe und Besonnenheit, wie sie nur wenige besaßen, als er das Mädchen vor ihm skeptisch betrachtete. Auch das war typisch für ihn.

Luna holte tief Luft und ignorierte das unbehagliche Beben in ihrer Brust sowie jeden quälenden Gedanken, der sie davonrennen lassen wollte. »Hi, ich – ähm – weiß, das klingt jetzt vielleicht etwas verrückt.« Sie verschränkte ihre Arme vor sich, um das leichte Zittern ihrer Handflächen zu verbergen. »Ich heiße Luna – und – bin deine Tochter.«

Jonathans Augen weiteten sich überrascht und er spürte den aufsteigenden Kloß in seinem ausgeprägten Kehlkopf.

Er dachte, er höre schlecht, habe einen Schlaganfall oder so etwas. Hatte sie das gerade tatsächlich gesagt?

Das ist doch lächerlich. Ich und ein Kind? Das kann unmöglich sein, schoss es ihm durch den Kopf.

Er war sechsunddreißig und hatte nie auch nur einen Gedanken an eigene Kinder verschwendet. Für ihn waren Kinder nur der tief verwurzelte Wunsch, etwas von sich in dieser Welt zurückzulassen. Etwas, das sagte: Ich war hier und das ist mein Erbe.

Jonathan fand den Gedanken zwar ganz nett, dennoch war es ihm nie in den Sinn gekommen, selbst eines haben zu wollen.

Jonathan räusperte sich. »Du – musst dich irren. Ich meine, okay, ich war nie ein Kind von Traurigkeit, was das angeht, aber ich halte nicht viel von Kindern und habe auch sicherlich keines unwissentlich in die Welt gesetzt.«

Entrüstet ließ Luna die schmalen Schultern hängen. Ich habe es dir doch gesagt, flüsterte die Stimme in ihrem Kopf. Sie hatte solche Worte erwartet und dennoch trafen sie mit einer solchen Wucht, dass sie am liebsten wieder gegangen wäre. Nein! Ich bin zu weit gekommen, um jetzt das Handtuch zu werfen! Sie schüttelte erneut den Kopf, befreite sich von dem Flüstern, das ihr riet zu verschwinden und blickte mit gestrafften Schultern zu ihm auf. »Und dennoch stehe ich hier. Dumm gelaufen.«

Der plötzlich herausfordernde Tonfall verunsicherte Jonathan. Während ihre großen, bernsteinfarbenen Augen ihn ansahen, als könnten sie kein Wässerchen trüben, sprach ihr ganzes Auftreten plötzlich eine völlig andere Sprache. Eine die etwas Bedrohliches hatte. Aufmerksam musterte er den rothaarigen Lockenkopf. Mattschwarz angestrichene Lippen und Nägel, sonst kein erkennbares Make-up. Dafür aber eine gerötete Nasenspitze. War sie erkältet?

Jonathan betrachtete den übergroßen Band Hoodie mit der Aufschrift Mythemia, die zerschlissene Jeans-Shorts und die schwarzen, abgetragenen Dr. Martens-Stiefel, die ihre schlanken Beine zierten. Ein Modell mit lächerlich hohen und klobigen Sohlen. Er mochte sich nicht vorstellen, wie jemand darin vernünftig laufen konnte. Und dennoch war sie deutlich kleiner als er mit seinen knapp einen Meter achtzig. Grummelnd kratzte er sich am Hinterkopf. »Ist der Grunge-Look in deinem Alter gerade angesagt?«

Luna schnaubte verächtlich. »Wow. War das ein schlechter Versuch, mein Alter einzuschätzen, oder sammelst du einfach gerne Arschloch-Punkte?«

Jonathan strich sich über die Nase, als ihm die unglückliche Wahl seiner Worte bewusstwurde.

»Also, so war das ...«

»Siebzehn. Ich bin siebzehn«, antwortete Luna salopp. Dann sah sie an sich hinunter. »Und ich fühle mich wohl in solchen Sachen. Okay?« Sie nickte bestätigend. »Bewegungsfreiheit ist wichtig, wenn du viel unterwegs bist.«

»Okay.« Jonathan legte seine Stirn in Falten, knurrte nachdenklich in sich hinein und glich ihr Erscheinungsbild mit allen Frauen ab, die ihm gerade in den Sinn kamen. Wenn sie wirklich seine Tochter war, musste er die Mutter kennen. Denn er hatte ganz eindeutig so einige Fragen an diese.

Luna kräuselte ihre dunklen Lippen. »Ich weiß, die Neuigkeit ist der Hammer, oder?«, unterbrach sie die Gedankengänge ihres Dads. »Steht da plötzlich so ein Kind vor deiner Tür. Wo kommt es her? Wo will es hin?«

»Ja, verrückt trifft es wohl eher«, murmelte Jonathan vor sich hin.

»Echt?« Luna hob einen Mundwinkel.

»Das nennst du schon verrückt? Jetzt stell dir mal vor, ich würde dir zusätzlich erzählen, dass ich aus der Zukunft komme. Ich meine, wie verrückt wäre sowas wohl?« Sie hob ihre Augenbrauen und wartete gespannt auf seine Reaktion.

Jonathan stutzte und lehnte sich gegen seinen Türrahmen. »Zukunft?«

»Ja, etwa fünfundzwanzig Jahre, um genau zu sein. Und – ich will ja nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, aber ich brauch deine Hilfe, um wieder in meine Gegenwart zurückzukommen.«

»Hahaha! Sehr witzig, vielen Dank.« Mit diesen Worten schlug Jonathan ihr seine Tür vor der Nase zu. Einen winzigen Moment lang hatte er die Möglichkeit einer unbekannten Tochter in Betracht gezogen. Sich sogar, trotz des seltsamen Umstandes, ein wenig darüber gefreut, von ihr zu erfahren. Ein seltsames Gefühl. Doch das Mädchen vor seiner Tür hatte offenbar einfach Spaß daran, anderen Leuten Streiche zu spielen. Vermutlich fand sie sich selbst gerade irrsinnig witzig. Er wusste nicht, wann ihm das letzte Mal etwas so Bescheuertes passiert war – doch! Als der Vertreter einer örtlichen Glaubensgemeinde vor seiner Tür gestanden hatte, ihm von dem einen, wahren Weg erzählen wollte und sogar die Frechheit besaß, seinen Fuß in die Tür zu stellen. Doch ein Kind und das ausgerechnet aus der Zukunft? Das toppte selbst dieses Erlebnis um Längen.

»Hallo? – Dad? – Echt jetzt?!« Ein wuchtiger Hieb ihrer Dr. Martens ließ das Türblatt erzittern. Luna war klar gewesen, dass Jonathan ihr mit Skepsis begegnen würde, aber dass er ihr gleich wieder die Tür vor der Nase zu schlug, als wäre sie irgend so eine verkackte Irre, verärgerte sie doch sehr. War das dumm von mir, so direkt zu sein? Sie wusste nicht mehr, wie oft ihr Diego gepredigt hatte nachzudenken, bevor sie den Mund aufmachte.

Doch der Gedanke, wochenlang mit ihrem Dad unter einem Dach zu leben und ihm dieses Detail zu verschweigen, drehte ihr schlicht den Magen um. Er hätte irgendwann Fragen gestellt, wie: Wer ist deine Mutter? Wo lebt sie? Oder schlimmer noch: Kann ich sie sprechen? Luna schüttelte sich. Nein, das ging gar nicht. Lügen, um sich einen Vorteil zu verschaffen, war eine Sache, sich dabei aber blöd anzustellen, eine ganz andere. Luna rümpfte die Nase und verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Okay –, vielleicht hätte ich mit dem Zeitreiseteil doch warten sollen, bis ich drin bin.«

Tales from Haven

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