Читать книгу Big Ideas. Das Wirtschafts-Buch - John Farndon - Страница 20
ОглавлениеGÜTER UND GELD ZIRKULIEREN ZWISCHEN HERSTELLERN UND VERBRAUCHERN
DER WIRTSCHAFTSKREISLAUF
IM KONTEXT
SCHWERPUNKT
Makroökonomie
VORDENKER
François Quesnay (1694–1774)
FRÜHER
1664–1676 Der englische Ökonom William Petty führt die Begriffe des Staatseinkommens und der Staatsausgaben ein.
1755 Der irische Kaufmann Richard Cantillon diskutiert in seinem in Frankreich erschienenen Essay den Fluss des Geldes von der Stadt aufs Land.
SPÄTER
1885 Karl Marx beschreibt in Das Kapital die Zirkulation des Kapitals anhand eines Modells, das von Quesnay angeregt ist.
1930er-Jahre Der russischstämmige US-Ökonom Simon Kuznets entwickelt eine moderne volkswirtschaftliche Gesamtrechnung.
In wirtschaftlichen Dingen kann man im Kleinen denken – also mikroökonomisch – oder im Zusammenhang des gesamten Systems: Das ist die Domäne der Makroökonomie. Im 18. Jahrhundert versuchte die Gruppe der Physiokraten in Frankreich, die gesamte Wirtschaft zu verstehen und als System zu erklären. Ihre Vorstellungen bilden die Grundlage der modernen Makroökonomie.
Die Physiokraten
Physiokratie bedeutet »Macht über die Natur«. Die Physiokraten glaubten, die Nationen gewännen ihren wirtschaftlichen Reichtum aus der Natur, durch den landwirtschaftlichen Sektor. Ihr Vordenker, François Quesnay, war Chirurg und Arzt von Madame de Pompadour, der Mätresse König Ludwigs XV.
Madame de Pompadour holte Quesnay als Arzt an den Hof in Versailles. Für ihn muss ihr Lebensstil der Inbegriff des verschwenderischen Reichtums der Landbesitzer gewesen sein.
Der merkantilistische Ansatz beherrschte das ökonomische Denken der Zeit. Die Merkantilisten waren der Auffassung, der Staat solle sich wie ein Kaufmann verhalten, Geschäftsbeziehungen pflegen, Gold erwerben und aktiv in die Wirtschaft eingreifen – durch Steuern, Subventionen, Kontrollen und Monopolvergaben. Die Physiokraten dachten genau umgekehrt: Sie glaubten, die Wirtschaft reguliere sich selbst und müsse lediglich vor schlechten Einflüssen geschützt werden. Sie waren für Freihandel, niedrige Steuern, sichere Eigentumsrechte und niedrige Staatsschulden. Während die Merkantilisten im Wohlstand eine Anhäufung von Werten sahen, glaubten Quesnay und seine Anhänger, er sei in der sogenannten Realwirtschaft verwurzelt. Die Landwirtschaft hielten sie für den produktivsten Wirtschaftssektor.
Die Physiokraten waren beeinflusst vom Denken Pierre de Boisguilberts. Er vertrat die Ansicht, die Landwirtschaft sei der Herstellung überlegen und Konsumgüter seien wertvoller als Gold. Je mehr Güter konsumiert würden, desto mehr Geld fließe durch das System, daher sei Konsum die treibende Kraft der Wirtschaft. Ein wenig Geld bewirke in den Händen der Armen mehr als in den Händen der Reichen, weil die Armen es ausgeben, während die Reichen es nur horten. Der Kreislauf des Geldes sei von herausragender Wichtigkeit.
Das Tableau économique
Das physiokratische System des wirtschaftlichen Kreislaufs ist in Quesnays Tableau économique dargestellt, das zwischen 1758 und 1767 mehrmals veröffentlicht und überarbeitet wurde. Dieses Diagramm illustriert den Fluss von Geld und Gütern zwischen drei Gesellschaftsgruppen: Landeigentümern, Bauern und Handwerkern. Die Güter sind Agrar- und Produktionsgüter, hergestellt von Bauern und Handwerkern. Quesnay nahm Getreide als Beispiel für ein landwirtschaftliches Produkt.
Am besten lässt sich Quesnays Modell an einem Beispiel verdeutlichen. Man stelle sich vor, jede der drei Gruppen besitzt anfangs 2 Mio. Euro. Die Landbesitzer produzieren nichts. Sie geben ihre 2 Mio. Euro aus, und zwar zu gleichen Teilen für landwirtschaftliche und handwerkliche Produkte, die sie vollständig verbrauchen. Sie erhalten 2 Mio. Euro an Pacht- und Mieteinnahmen von den Bauern, was die Bauern sich gerade eben leisten können, weil sie die einzige Gruppe sind, die einen Nettogewinn erzielt – die Landbesitzer stehen also am Ende wieder da wie zuvor. Die Bauern sind die produktive Gruppe. Mit einem Ausgangskapital von 2 Mio. Euro produzieren sie landwirtschaftliche Erzeugnisse im Wert von 5 Mio. Euro über den Eigenbedarf hinaus. Davon verkaufen sie Waren im Wert von 1 Mio. Euro an die Landbesitzer zu deren Verbrauch. Waren im Wert von 2 Mio. Euro verkaufen sie an die Handwerker, zur Hälfte zum Verbrauch und zur Hälfte als Rohmaterial. Bleiben 2 Mio. Euro für die nächste Wachstumsperiode übrig. Was die Produktion angeht, stehen sie wieder genauso da wie am Anfang. Aber sie besitzen zusätzlich 3 Mio. Euro aus Verkäufen, von denen sie 2 Mio. Euro an Pacht ausgeben und 1 Mio. Euro für handwerkliche Produkte (wie Werkzeug und Geräte).
Quesnays Tableau économique zeigt den Zickzackfluss des Wohlstands zwischen Bauern, Landeigentümern und Handwerkern. Es war der erste Versuch, das Funktionieren einer Volkswirtschaft zu erklären.
Quesnay bezeichnete alle Gruppen außer den Bauern und Landeigentümern als »steril«, er glaubte, sie könnten keinen Gewinn erzielen. Die Handwerker im Beispiel setzen ihr Startkapital von 2 Mio. Euro ein und produzieren 2 Mio. Euro an Gütern über den Eigenbedarf hinaus, die sie zu gleichen Teilen an Landeigentümer und Bauern verkaufen. Aber sie geben ihre gesamten Einnahmen für landwirtschaftliche Produkte aus: 1 Mio. Euro für den Eigenbedarf und 1 Mio. Euro für Rohmaterial. Damit konsumieren sie alles, was sie besitzen.
Quesnays Modell stellt nicht nur eine Art Jahresbilanz dar – es zeigt auch, wie Güter und Geld das ganze Jahr hindurch zirkulieren und warum das so wichtig ist. Der Verkauf von Produkten zwischen den verschiedenen Gruppen erzeugt Einnahmen, die eingesetzt werden, um weitere Produkte zu kaufen, die noch mehr Gewinn bringen. Ein »Multiplikatoreffekt« tritt ein, ähnlich dem, den John Maynard Keynes in den 1930er-Jahren vorstellt.
»Die Gesamtsumme des Einkommens trete in die jährliche Zirkulation ein und durchlaufe sie in ihrer ganzen Ausdehnung.«
François Quesnay
Die Wirtschaft analysieren
Quesnay war einer der ersten, die versuchten, die allgemeinen Gesetze der Wirtschaft zu entschlüsseln. Dazu zerlegte er das wirtschaftliche Geschehen in seine Bestandteile und analysierte die Beziehungen zwischen den Teilen. In seinem Modell gab es Input, Output und die gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen Sektoren. Quesnay meinte, sie existierten möglicherweise in einer Art Gleichgewicht, eine Vorstellung, die später Léon Walras zu einem grundlegenden Prinzip der ökonomischen Theorie weiterentwickelte.
Quesnays Ansatz, die Gesetze der Ökonomie zu quantifizieren, macht das Tableau économique zum vielleicht ersten empirischen Modell der Makroökonomie. Die Zahlen in diesem Diagramm waren das Ergebnis einer genauen Studie der französischen Wirtschaft. Sie ließen vermuten, dass die Agrartechnologie es den Bauern ermöglichte, einen Nettoertrag von mindestens 100 Prozent zu erwirtschaften: In unserem Beispiel beginnen sie mit Getreide für 2 Mio. Euro und erhalten es mit einem Nettoertrag von 2 Mio. Euro zurück, den sie für Pacht aufwenden. Moderne Ökonomen verwenden solche empirischen Resultate, um über die Auswirkungen einer veränderten Politik nachzudenken. Quesnay nutzte sein Tableau zu einem ähnlichen Zweck. Er argumentierte, wenn die Bauern zu hohe Steuern zahlen müssten, würden sie weniger in landwirtschaftliche Technologie investieren, und die Produktion würde unter das Niveau sinken, das zum Wohlergehen der Wirtschaft erforderlich war. Daher forderten die Physiokraten, es solle nur eine Steuer geben: auf den Pachtwert des Landes.
Auf der Grundlage seiner empirischen Ergebnisse sprach Quesnay weitere politische Empfehlungen aus. Er machte sich stark für Investitionen in die Landwirtschaft, für die Ausgabe aller Einnahmen, die Vermeidung des Anhäufens von »Schätzen«, für niedrige Steuern und Freihandel. Er glaubte, Kapital sei besonders wichtig, weil unternehmerisch eingestellte Bauern günstige Kredite brauchten, um die Verbesserung der Böden zu bezahlen.
Den Physiokraten zufolge waren Investitionen in die Landwirtschaft der Schlüssel zum nationalen Wohlstand. Durch freie Exporte sollte die Nachfrage erhalten und die Macht der Kaufleute begrenzt bleiben.
Klassische Vorstellungen
Quesnays Grundgedanke der produktiven und unproduktiven Sektoren taucht in der Geschichte des ökonomischen Denkens immer wieder auf. Sei es, dass die Ökonomen sich Gedanken über die Industrie im Vergleich zum Dienstleistungssektor machten oder über den privaten Sektor im Vergleich zum Staat. Seine starke Fokussierung auf die Landwirtschaft mag aus moderner Sicht engstirnig erscheinen, weil wir heute wissen, dass die Wertschöpfung in der Industrie und im Dienstleistungssektor für das Wachstum einer Wirtschaft entscheidend ist. Doch seine Betonung der »realen« Seite der Wirtschaft war ein wichtiger Schritt in Richtung auf das moderne ökonomische Denken. Ganz offensichtlich hat er die moderne volkswirtschaftliche Gesamtrechnung vorweggenommen. Diese beruht auf dem zirkularen Fluss der Einnahmen und Ausgaben durch die Wirtschaft. Der Wert des Gesamtprodukts einer Wirtschaft entspricht dem Gesamteinkommen, das verdient wird – eine zentrale Vorstellung in Quesnays Theorie. Im 20. Jahrhundert drehte sich ein Großteil der volkswirtschaftlichen Analyse um den keynesianischen Multiplikator. Keynes zeigte, wie Staatsausgaben durch einen »Multiplikatoreffekt« weitere Ausgaben anstoßen können. Diese Idee steht offensichtlich in Verbindung zu Quesnays Kreislauftheorie.
Die gegenseitige Abhängigkeit von Verbrauchern und Produzenten wurde erstmals von Quesnay dargestellt. Die Verbraucher sind abhängig von den Herstellern, die ihnen Waren und Dienstleistungen liefern. Die Hersteller sind abhängig von den Verbrauchern – ihren Käufern und Arbeitskräften.
»Und dennoch kommt diese Wirtschaftsordnung … unter allen Systemen, die bislang als Gegenstand der Politischen Ökonomie entwickelt worden sind, der Wahrheit vielleicht am nächsten.«
Adam Smith
Vielleicht am wichtigsten ist, dass Quesnays Vorstellungen von Mehreinnahmen und Kapital für die klassischen Ökonomen bei ihrer Analyse des Wachstums zu einer Schlüsselvorstellung wurden. Ein typisches klassisches Modell konzentriert sich auf drei Produktionsfaktoren: Land, Arbeit und Kapital. Landeigentümer erhalten Pacht und geben sie verschwenderisch für Luxusgüter aus. Arbeiter müssen für niedrigen Lohn schuften und wenn er steigt, bekommen sie mehr Kinder. Aber die Unternehmer machen Profit und reinvestieren ihn gewinnbringend in die Industrie. So sorgt der Profit für Wachstum und die Wirtschaftsleistung ist abhängig von den Sektoren der Wirtschaft, die Überschüsse und Gewinne erschaffen. Damit nahm Quesnay spätere Vorstellungen vom Wirtschaftswachstum vorweg und inspirierte Karl Marx, der Quesnay bewunderte und 1885 seine eigene Version des Tableau économique vorstellte.
François Quesnay
François Quesnay wurde 1694 in der Nähe von Paris geboren. Als Sohn eines Landwirts war er das achte von 13 Kindern. Mit 17 begann er eine Lehre als Kupferstecher, besuchte dann aber die Universität und machte 1717 den Abschluss als Chirurg.
Er machte sich einen Namen als Chirurg und behandelte vornehmlich den Adel. 1749 zog er als Arzt von Madame de Pompadour in den königlichen Palast von Versailles bei Paris. 1752 rettete er den Sohn des Königs vor den Pocken und wurde mit einem Titel und genug Geld belohnt, um für seinen Sohn einen Landsitz zu erwerben.
Sein Interesse an der Ökonomie erwachte in den frühen 1750er-Jahren. 1757 lernte er den Marquis de Mirabeau kennen, mit dem er die Économistes gründete – die Physiokraten. Er starb 1774.
Hauptwerke
1758 Tableau économique
1763 Philosophie rurale (mit dem Marquis de Mirabeau)
1766 Analyse der arithmetischen Formeln des Tableau économique