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3. Georg Wissowa
ОглавлениеDie bei Mommsen festgestellten Unklarheiten finden sich bei dessen Schüler, Georg Wissowa, nicht mehr. Sein Handbuch zu „Religion und Kultus der Römer“ ist aus dem Geist der Mommsen’schen rechtlichen Betrachtung römischer Religion heraus geschrieben, und zwar in der expliziten Überzeugung, damit einer römischen Eigenart gerecht zu werden: „Denn schließlich ist das Entscheidende doch das, ob es dem, der eine einzelne Seite aus dem Leben eines Volkes, sein Recht, seine Sprache, seine Kunst, zu erforschen unternimmt, gelingt seinen Gegenstand aus einer klaren und begründeten Vorstellung von Eigenart und Denkweise dieses Volkes heraus zu erfassen und für das weitere Eindringen in die Erkenntnis dieser Eigenart fruchtbar zu machen.“19 Gerade unter dem Aspekt der Trennung von Eigenem und Fremdem reflektiert Wissowa über die Folgen der Reichsbildung für die römische Religion. Dabei spielt natürlich das Vordringen des Kaiserkultes eine wichtige Rolle, das die römische „Staatsreligion“ in eine „Hofreligion“20 verwandelt. Aber es gibt noch weitere Prozesse:
Eine noch größere Entfremdung von ihrer alten Eigenart erfahren die römischen Götter durch die Ausbreitung ihres Kultes über alle Teile des Reiches, wobei sie die Götter der Barbaren in sich aufnehmen und mit ihrem römischen Namen die fremden Götterdienste der Provinzen decken. Die Reichsregierung lässt den Einwohnern der Provinzen durchaus ihren heimischen Glauben und greift in dessen Betätigung nur insoweit regelnd ein, als diese gegen die allgemeinen Reichsgesetze verstößt [Wissowa verweist hier nicht auf Tertullian, sondern auf Menschenopfer durch Druiden und in Afrika]; aber die römischen Beamten und Soldaten tragen den Kult der römischen Staatsgottheiten in alle Teile des Imperiums und führen eine Annäherung und Ausgleichung zwischen diesen und den vorgefundenen Religionsvorstellungen herbei.21
Als Subjekte der interpretatio Romana sieht Wissowa in erster Linie römische Bürger – ein Gedanke, den er wenige Jahre später in einem umfangreichen Aufsatz über die „Interpretatio Romana: Römische Götter im Barbarenlande“ noch schärfer herausgearbeitet hat: Die interpretatio ist vor allem Zeugnis für römisches Denken, das die Götter als „Ressortminister“ versteht und Identitäten nach oft isolierten Analogiepunkten bestimmt.22 Im „Handbuch“ betont er jedoch die Wechselwirkung, den „wirklichen Austausch“, der dadurch zustande kommt.23 Diese Prozesse sind aber regional bedingt und können ganz unterschiedlich ablaufen. So bleibt als Fazit:
Es gibt eben keine Reichsreligion, sondern die durchsichtige Hülle römischer Namen deckt eine unerschöpfliche Mannigfaltigkeit verschiedenartiger Religionsvorstellungen, die mit dem Ganzen nur locker durch die Verehrung des Juppiter O. M. und den Kaiserkult in seinen verschiedenen Formen und Nuancen verbunden werden, während die eigentliche Staatsreligion immer an den stadtrömischen Boden gefesselt blieb und schon darum sich nicht zur Reichsreligion herauswachsen konnte.24
Die einzige Ausnahme, die Wissowa wenig später einräumt, betrifft die von den Kaisern des dritten Jahrhunderts forcierte Verehrung des Sonnengottes, der „für die letzte Zeit des Imperiums geradezu zum Reichsgotte geworden“ ist.25 Hier spielt, das ist für Wissowas Verständnis von Reichsreligion wichtig, noch die Verknüpfung mit den staatlichen Strukturen, dem Staatskult, eine Rolle. Das gilt dann für die orientalischen Religionen nicht mehr. Sie strebten, ohne je umfangreicher in den Staatskult integriert worden zu sein, nach alleiniger Vorherrschaft auf Kosten der anderen Religionen und „arbeiteten alle von innen heraus auf die völlige Vernichtung der … römischen Staatsreligion hin … und nach Vollendung dieses Zerstörungswerkes würde zwischen ihnen selbst der Kampf um die Stellung als Reichs- und Weltreligion ausgebrochen sein, wenn nicht inzwischen im Christentume ein übermächtiger Gegner auf den Plan getreten wäre, dem sie schließlich allesamt das Feld räumen mussten“.26
Wissowa rückt, so möchte ich den Befund zusammenfassen, begrifflich „Reichsreligion“ dicht an „Staatsreligion“ heran und lässt damit auch die politische Dimension des Begriffs explizit werden. Der eng auf Religion zielende Blickwinkel lässt eine funktionale Analyse allerdings nicht zu: Weder Erwartungen an ein solches religiöses System noch die politischen Konsequenzen des Fehlens werden thematisiert. Eine „Reichsreligion“ existiert weder im sakralrechtlichen Sinne Mommsens noch verdient die reichsweite Verehrung stadtrömischer Götter durch Verwaltungs- und Militärpersonal diese Bezeichnung. Ohne eigene Bezeichnung verbleibt die unter dem Schlagwort interpretatio Romana angesprochene, vielfältig variierende Religionsbegegnung stadtrömischer religiöser Praxis mit provinzialen Kulten, deren Rückwirkung auf „römische Religion“ festgehalten, aber nicht näher spezifiziert wird. Zu vermerken ist, dass Wissowa hier von provinzialen, nicht nationalen Gottesdiensten spricht. Begrifflich unbestimmt, wenn auch ausdrücklich keine „Reichsreligion“, bleibt das Phänomen, dass Kaiser- und Iuppiterkult ein für das ganze Reich integrierendes Moment darstellen; allerdings lässt Wissowa die Ebene der Integration – politisch? religiös? – im Unklaren. Die Konsequenzen der Existenz reichsweiter („orientalischer“) Kulte und Religionen und ihre Wechselwirkung mit den übrigen beobachteten Phänomenen bleibt ebenfalls ohne weitere Erörterung.
Im Duktus der Wissowa’schen Argumentation dürfte die Hauptursache für diese unvollkommene Entwicklung in der historisch-topographischen Konstruktion der Identität der römischen Götter liegen, die durch Platzierungsregeln (intra/extra pomerium) und in der zeitlichen Dimension (durch den auf Tempelstiftungen bezogenen Kalender) an Rom gebunden bleiben und angesichts der geringen Personalisierung keine translokale Identität ausbilden können.27