Читать книгу Von Jupiter zu Christus - Jorg Rupke - Страница 16
ОглавлениеTeil I
Globalisierung in traditioneller Form
Globalisierung ist ein großer Begriff. Selbst in der heutigen Zeit sind räumlich erhebliche Einschränkungen zu machen. Selbst wenn die weißen Flecken auf den Landkarten am Ende des neunzehnten Jahrhunderts weitgehend verschwunden waren,1 stellt sich Globalisierung in Städten und im Ländlichen, im Medium Internet und im Medium Theater jeweils ganz anders dar. Um vieles mehr sind für die Antike solche Einschränkungen zu machen. Städte und mobile Angehörige von Oberschichten, Immigranten und die wenigen, die lesen konnten, nahmen die Zunahme wirtschaftlicher Vernetzung und kulturellen Austausches ganz anders wahr als ortstabile Landbewohner. Und doch konnten, nicht anders als heute, gerade auch Menschen am Rande des Existenzminimums durch Phänomene wie Überseehandel, Sklavenwirtschaft und globalisierte Kriegführung viel stärker und existenzieller betroffen sein, als aristokratische Globetrotter.
Aber Globalisierung ist nicht identisch mit Mobilität. In diesem ersten Teil steht ein Phänomen im Vordergrund, auf das für die Gegenwart mit dem Kunstwort Glokalisierung aufmerksam gemacht wurde.2 Veränderungen sind immer auch lokale Veränderungen, globale Verbreitung kann in der lokalen Aufnahme zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen führen. Ziel der folgenden Kapitel des ersten Teils ist es daher, deutlich zu machen, in welchem Grade antike Religion auch inmitten von Globalisierungsprozessen lokale Religion ist und bleibt. Diese lokale Seite ist kein antiquierter, traditionalistischer Rest, sondern die Folge der Ortsgebundenheit der Lebenswelt. Persönliche Begegnungen, fußläufig erreichbare Tempel, Nachbarschaften und Märkte bilden die primären Kommunikationsräume. Die langsamen Faktoren der Geschichte, aus komplexen geschichtlichen Ereignissen und Erfahrungen gewachsene Sozialstrukturen und Mentalitäten, auch ortsspezifische geographische und klimatische Faktoren beeinflussen die Rezeption überregionaler Einflüsse und prägen die Integration kultureller Importe wie lebender Immigranten. Dasselbe gilt natürlich in der umgekehrten Richtung. Erst in diesem Rahmen kann also die Rede von religiösem Import und Export, von Reichsreligion und reichsweiter Religion Bedeutung besitzen.
Die religiösen Veränderungen, die so in den Blick kommen, sind der Sache nach nicht neu. Gesellschaftliche Führungspositionen und überregionale Kontakte, von Handel und Heirat bis hin zu militärischen Allianzen, bedingen sich schon in der Frühphase latinischer Städte und Roms gegenseitig.3 Römische Kultur und Religion – und das gilt für andere italische Städte nicht minder – assimiliert und integriert in ganz erheblichem Umfang regionale, italische und mediterrane Einflüsse. Das reicht von den Formen und Institutionen der orientalisierenden Epoche des späten achten bis frühen sechsten Jahrhunderts v. Chr., über die etruskischen Einflüsse des siebten bis fünften Jahrhunderts bis zu den massiven direkten griechischen Einflüssen seit dem dritten Jahrhundert v. Chr. Wenn man im zweiten Jahrhundert v. Chr. von Romanisierung in Mittelitalien spricht, geschieht das in der Formensprache und kulturellen Inhalten des Hellenismus.4 Es sind diese traditionellen und bleibenden Formen, im Zentrum, in Rom und in seinem latinischen Umfeld, religiöse Importe der unterschiedlichsten Gestalt zu verarbeiten, die in den folgenden Kapiteln vorgestellt werden. Die vorgestellten Fälle gehören vor allem dem zweiten und dritten Jahrhundert n. Chr. an. Auf den ersten Blick scheinen sie für dramatische Veränderungen zu stehen: das „Eindringen orientalischer Religionen“. Es geht um die Vergottung von Menschen, um Religionen aus Kleinasien – den Kult des Jupiter aus Doliche oder Kybele aus Pessinunt –, aus Palästina – Juden- und Christentum –, aus Ägypten – Isis. Aber diese dramatisierende Sicht hat sich längst als problematisch herausgestellt.5 Es geht nicht um das Zerreißen bestehender Vorstellungen und sozialer Beziehungen, sondern um das Gegenteil: das Einbinden zweifelsfrei neuer Vorstellungen in bestehende Bilderwelten, das Umschmieden sozialer Strukturen einwandernder Kulte in römische Vorstellungen von sozialer Schichtung und Autorität. Dabei spielt berufliches Ansehen eine wichtige Rolle, ebenso die üblichen Strukturen und Bezeichnungen von Rollen in Vereinen. Der Frage nach den Kompetenzen von Frauen und Männern wird ebenso Beachtung geschenkt wie der, welche besonderen Fähigkeiten man Fremden zutraut und welche ihnen keinesfalls zukommen. Der wirtschaftlich erfolgreiche Fernhändler hat vielerlei Möglichkeiten – er stößt aber auch auf Grenzen. Der religiöse Spezialist aus dem fernen Osten verfügt sicherlich über ganz bestimmte religiöse Qualifikationen, aber das verschafft ihm noch lange nicht ausreichende soziale Autorität. Frauen gewinnen in religiösen Rollen Möglichkeiten, die ihnen sonst verschlossen bleiben, aber sie stoßen auch hier auf Grenzen. Religiöse Gruppen bilden eigene soziale Räume, aber die Spielregeln, die in ihnen herrschen, unterscheiden sich fast immer nur ansatzweise von denen ihrer Umwelt. Nicht alle werden zu „geliebtesten Brüdern“, wie eine verbreitete Anrede in Gruppen, die gemeinsam eine Gottheit verehren, lautet.
Die Rede von lokalen Traditionen, Bedingungen, Mentalitäten, die Rede von besonderen Normen in Gruppen, bliebe unvollständig, würde sie nicht ergänzt durch die Perspektive des Individuellen. Es geht nicht nur um den banalen Sachverhalt, dass es immer auch Einzelne sind, die handeln. Die im Folgenden vorgestellten religiösen Handlungen und Innovationen gehen auf Individuen zurück, denen sich im besprochenen Zeitraum gerade im religiösen Handeln neue Spielräume eröffnen. Es geht um das Gewinnen größerer Individualität – in der sozialen Präsenz über den Tod hinaus, in der Regelsetzung gegenüber lokalen Autoritäten, im Erreichen neuer Formen religiösen Wissens und religiöser Kompetenz, in der Selbstdarstellung gegenüber einer Gruppe. Die Formen solcher Individualität fallen sehr unterschiedlich aus. Gemeinsam ist ihnen, dass der Einzelne nicht nur in seiner angestammten sozialen Position oder als bloß passiver Nutzer einer religiösen Infrastruktur verbleibt. Gerade die Begegnung mit dem Göttlichen verschafft ihm eine Autorität, die zu den üblichen gesellschaftlichen Autoritäten in Konkurrenz treten kann. Dass dieses Agieren gleichwohl im Rahmen lokaler Traditionen und sozialer Strukturen verbleibt, ja diese selbst gegen die vermeintliche Universalität neuer Formen reproduziert, belegen die sich anschließenden Beispiele und gerade auch das letzte Kapitel dieses Teils in manchmal überraschender Weise.