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VORWORT
ОглавлениеNach dem ersten Erscheinen von Josef Matuz’ Buch „Das Osmanische Reich“ bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft 1985 entwickelte es sich schnell zu einem Standardwerk, das nun seit zwei Jahrzehnten bei Historikern, aber auch in einem breiteren Kreis interessierter Leser ungebrochene Aufmerksamkeit findet. Über Jahre war das Werk eine der wenigen deutschsprachigen Arbeiten über das Osmanische Reich. Aber auch im Zuge eines wachsenden Interesses an der Türkei und ihrer Geschichte – geschuldet der türkischen Migration nach Deutschland und Europa und der EU-Annäherung des Landes – und der Veröffentlichung weiterer Einführungen in die osmanische Geschichte konnte Matuz’ Werk seine Stellung als eine der fundiertesten und zugleich lesbarsten Arbeiten zum Thema behaupten. Die nun vorliegende Neuauflage trägt diesem Umstand Rechnung.
Die Beschäftigung mit dem Osmanischen Reich ist für den Zugang zur modernen Türkei, zu ihrem Selbstverständnis, zur Einschätzung ihrer politischen und gesellschaftlichen Entwicklungschancen wie auch ihrer Reformblockaden unerlässlich. Die Formierung eines türkischen Nationalstaates als Versuch der politischen Einigung einer heterogenen Bevölkerung ist ein Prozess mit einer Reihe von Verwerfungen und bis heute nicht endgültig gelungen. Die Bevölkerung der Türkei ist in ethnischer und religiöser Hinsicht vielfältig. Diese Vielfalt ist größtenteils das historische Erbe des Osmanischen Reiches. In der Türkei leben heute Angehörige beziehungsweise Nachfahren von über zwanzig sprachlichen Minderheiten. Beachtet man, dass sich einzelne Gruppen noch weiter nach religiöser beziehungsweise konfessioneller Zugehörigkeit differenzieren, erhöht sich die Zahl auf über vierzig. Über lange Jahre hat die Angst vor ethnischem und religiösem Separatismus die Entwicklung einer nachhaltig pluralen Gesellschaft in der Türkei behindert. Matuz’ Arbeit führt uns aus dem Osmanischen Reich hin zur Entstehung der modernen Türkei und arbeitet die vielschichtigen Bezüge zwischen osmanischer Tradition und Bildung eines türkischen Nationalstaates heraus, was sie von vielen anderen Beiträgen zum Thema deutlich abhebt.
Die Beschäftigung mit dem Osmanischen Reich ist aber nicht nur unerlässlich für das Verständnis der modernen Türkei, sondern auch mit Blick auf die türkische Migration nach Deutschland. Ihre ethnisch-kulturelle Heterogenität, eine Reflexion der Bevölkerungsmischung der Türkei auf die europäischen Aufnahmestaaten, ist der europäischen Bevölkerung bisher kaum bewusst – „die“ Türken gibt es nicht.
Die Beschäftigung mit dem Osmanischen Reich ist heute auch deshalb gewinnbringend, weil es als Vielvölkerstaat mit 72 ethnisch-kulturellen Gruppen in einiger Hinsicht viele heutige Herausforderungen von Entgrenzung und Globalisierung abbildet.
Vor der Folie der Debatte um die Zugehörigkeit der Türkei zu Europa macht Matuz’ Werk auch eines deutlich: Das Osmanische Reich als Vorgänger der Republik Türkei war über Jahrhunderte ein europäischer Akteur ersten Ranges. Die Beschäftigung mit der europäischen Geschichte kann nicht ohne Einbeziehung des Osmanischen Reiches erfolgen, das 620 Jahre auch europäischer Geschichte abbildet, aber in der europäischen Historiographie noch immer weitgehend auf die Belagerung Wiens reduziert wird.
Die bis heute große Bedeutung von Matuz’ Arbeit dürfte auch dem Umstand geschuldet sein, dass er der Entwicklung des Islams im Osmanischen Reich breiten Raum beimisst. Insbesondere nach dem 11. September 2001 und den Kriegen in Afghanistan und dem Irak scheint das Verhältnis von Islam und Westen zunehmend konfrontativ – zugleich hat sich in einiger Hinsicht aber auch das Interesse der westlichen Öffentlichkeit am Islam und an den Muslimen gesteigert. Die Nachfrage nach fundierten Informationen zum Islam und seiner Entwicklung ist deutlich gestiegen, und der vorliegende Band leistet einen wichtigen Beitrag zur Befriedigung dieser Nachfrage – und damit auch einen Beitrag zur Verständigung zwischen Islam und Westen. Denn das Osmanische Reich kann nicht zuletzt auch als positives Beispiel für die interreligiöse Koexistenz gedeutet werden.
Übrigens ist es auch wünschenswert, dass angesichts der großen Zahl türkeistämmiger Kinder in deutschen Schulen der Geschichtsunterricht in weit größerem Ausmaß auch die Geschichte des Osmanischen Reiches – wie natürlich auch die Historiographien anderer Herkunftsländer – einbezieht. Für die Unterrichtsentwicklung wäre der vorliegende Band eine wichtige Grundlage.
Josef Matuz war ein intimer Kenner der Türkei und ihrer Geschichte und insbesondere durch seine Sprachkenntnisse wie kaum ein europäischer Historiker vor ihm befähigt, anhand osmanischer Originalquellen zu forschen. Dies macht bis heute die Stärke seiner Arbeit und die große Qualität des vorliegenden Bandes aus.
Faruk Şen