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1.1. Politische Theorie

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Einem jüngeren World Values Survey zufolge ist es den Bewohnern aller 34 Länder, in denen die Befragung stattfand, sehr wichtig, in einem demokratischen Land zu leben (von 7+ in Russland bis 9+ in Schweden, auf einer Skala von 1 bis 10). In allen Ländern klafft eine deutliche Lücke zwischen der Meinung der Befragten zur Bedeutung der Demokratie und ihrer Einschätzung, wie demokratisch ihr eigenes Land gerade regiert wird. Diese Diskrepanz lässt vermuten, dass Demokratie zumindest teilweise ein Streben bleibt, eine Hoffnung, die sich nie ganz erfüllt.2 Mehr noch: In der modernen Welt ist Demokratie ein fast universell angestrebtes Ziel, obwohl man kaum annehmen kann, dass jeder unter Demokratie dasselbe versteht. In der Theorie wie in der Alltagssprache ist „Demokratie“ ein klassisches Beispiel für ein dem Wesen nach umstrittenes politisches Konzept. Es versteht sich von selbst, dass viele Definitionen im Umlauf sind, doch keine einzige ist so zutreffend, dass sie alle anderen aus dem Feld schlagen könnte.3 Ich möchte hier etwas untersuchen, das ich Kerndemokratie nennen werde: die legitime Machtausübung eines demos – einer Bürgerschaft oder eines „Volkes“.4

Eine Theorie der Kerndemokratie beginnt mit den Fragen der Legitimierung und der Befugnis: Warum sollte der Demos die Macht im Staate besitzen – statt etwa eines Monarchen, einer kleinen Gruppe von Adligen oder einer technokratischen Elite? Und, weil „sollte“ „kann“ impliziert: Wie kann ein Demos sachkundig Macht in einer komplexen Gesellschaft ausüben?5 Die Kerndemokratie kümmert sich nicht in erster Linie um Fragen der persönlichen Autonomie, der unveräußerlichen Menschenrechte oder der Verteilungsgerechtigkeit. „Liberalismus“ ist natürlich ebenfalls ein dem Wesen nach umstrittenes Konzept. Ich jedenfalls zähle Autonomie, Rechte und Gerechtigkeit zusammen mit religiöser Neutralität zu den vorrangigen Werten des heutigen liberalen Mainstream und begreife sie als wertebasierte moralische Verpflichtungen.6 Als historische Regierungsform geht die Demokratie der philosophischen Begründung dieser liberalen moralischen Werte voraus. Als Theorie einer nachhaltigen, das menschliche Wohlergehen fördernden politischen Ordnung entstand sie sehr viel früher.7

Ich stelle zwei Musterbeispiele der Kerndemokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus vor. Das erste (Kapitel 2) ist historisch und beschreibt die gemeinsame Selbstregierung der Bürger in der griechischen Antike. Die griechische Demokratie liefert eine gut dokumentierte Fallstudie und widerlegt Behauptungen, denen zufolge „eine solche Ordnung menschlich nicht möglich“ oder „in einer komplexen Gesellschaft auf Dauer nicht machbar“ oder „im Vergleich zu autoritären Regimen nicht wettbewerbsfähig“ sei. Wer sich nicht für historische Fallstudien interessiert, springt vielleicht besser gleich zum zweiten Beispiel (Kapitel 3): gemeinsame Selbstregierung als theoretisches Modell, eine Form politischer Ordnung, die aus den Entscheidungen einer breit gefächerten Gruppe ganz gewöhnlicher Menschen – mäßig rationaler, eigennütziger, strategisch denkender, sozialer und kommunikativer Individuen – entsteht, die sich einen sicheren und prosperierenden nicht-autokratischen Staat in einer gefährlichen und sich wandelnden Welt erschaffen wollen.

Das politische Gedankenexperiment, das ich „Demopolis“ nennen werde, ist ein minimaler Verfassungsrahmen, eine Sammlung grundlegender Regeln, die den Bürgern koordiniertes Handeln zum gegenseitigen Nutzen ermöglichen.8 Ich gehe von einer Vorgeschichte und Elementen einer Zivilgesellschaft aus, ohne sie näher zu spezifizieren. Und ich gehe davon aus, dass die Bürger von Demopolis, nachdem der Rahmen einmal abgesteckt ist, weitere Regeln zu wichtigen Angelegenheiten, unter Umständen auch zu Rechten und Verteilungsgerechtigkeit, beschließen werden. Der Rahmen soll die oft schwierigen normativen Entscheidungen und die Entwicklung von demokratischen Mechanismen (Vermeule 2007) erlauben, ohne dass es zu Gewalt kommt oder ein Dritter eingreifen muss. Die Kerndemokratie macht dies durch bestimmte ethische Verpflichtungen wahrscheinlicher (die in den Kapiteln 4, 5, 6 besprochen werden), doch ich setze nicht voraus, dass diese Verpflichtungen an und für sich alle jene normativen Fragen beantworten können, mit denen sich die Bürger von Demopolis irgendwann konfrontiert sehen werden. Der Rahmen soll moralisch grundlegende kollektive Überlegungen und Entscheidungen ermöglichen, aber er soll ihr Ergebnis nicht vorgeben.9

Demopolis ist ein Idealtypus im Weber’schen soziologischen (nicht so sehr im moralphilosophischen) Sinn. Das heißt, dieser Begriff soll reale, aber schwer zu betrachtende Merkmale einer kerndemokratischen Regierungsform erfassen, indem er sie von den leicht zu betrachtenden Merkmalen realer Gemeinwesen abstrahiert. Demopolis fehlen einige Aspekte realer politischer Systeme, in denen (von einer pluralistischen Gesellschaft ausgehend) klare Entscheidungen in Bezug auf moralische Fragen wenigstens bedingt schon getroffen worden sind. Die fiktiven Gründer von Demopolis beschränken sich darauf, die Regeln festzulegen, die das stabile, sichere und prosperierende politische Fundament bewahren, während sie Entscheidungen über schwierige moralische Fragen vertagen. Die Grundregeln sollen Demopolis gegen äußere Erschütterungen absichern, einer Übernahme durch eine Elite vorbeugen und eine weitere Entwicklung unter Beibehaltung ihres demokratischen Charakters ermöglichen.

Realen modernen Gemeinwesen, die sich zu Recht als Demokratie bezeichnen, fehlen einige Institutionen von Demopolis. Sie haben keine allzu große Ähnlichkeit mit dem klassischen Athen oder einer anderen antiken direkten Demokratie. Sie weisen Merkmale auf, die den antiken griechischen Staaten und auch Demopolis fehlen. Damit will ich nicht sagen, dass eine Regierung, die nicht an das historische Fallbeispiel Athen oder das Gedankenexperiment Demopolis heranreicht, der Bezeichnung Demokratie nicht würdig wäre. Doch wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle, werden sich die historische Fallstudie und die Ergebnisse des Gedankenexperiments gegenseitig stützen (wie die Zeltstangen eines Tipis) und erklären. Indem ich auf diese Weise Theorie und Geschichte verbinde, möchte ich bestimmte fundamentale Kompetenzen sichtbar machen, die Bürger in einer Demokratie anstreben sollten, und die Kosten beleuchten, die sie werden tragen müssen, wenn sie ihre Ziele – nachhaltige Sicherheit, Wohlstand und Autonomie – in einer gefährlichen und sich wandelnden Welt erreichen wollen. Außerdem möchte ich auf bestimmte positive Güter hinweisen, die den Bürgern aus der demokratischen Praxis erwachsen, Güter, die in der gängigen liberalen politischen Theorie relativ unscharf bleiben.

Demopolis

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