Читать книгу Demopolis - Josiah Ober - Страница 14

1.4. Kurze Darstellung der Argumentation

Оглавление

Die folgenden Kapitel sollen die Gültigkeit dreier Gruppen allgemeiner Thesen beweisen:

I. Die Kerndemokratie ist eine ziemlich stabile gemeinsame Selbstregierung durch eine große und sozial breit gefächerte Organisation von Bürgern. Um längere Zeit bestehen zu können, braucht eine Demokratie Regeln, die durch habituelle soziale Verhaltensweisen zuverlässig gesichert werden. Diese Regeln müssen unter anderem die absolutistischen Tendenzen der kollektiven Herrscher beschränken und eine Bestrafung von Regelverletzungen durch Regierungsvertreter und andere mächtige gesellschaftliche Akteure zulassen, deren Handeln die demokratische Ordnung bedroht. Kerndemokratie ist keine Tyrannei der Mehrheit. Weder ist sie moralisch gebunden, noch wendet sie sich gegen Werteneutralität, universale Menschenrechte oder egalitäre Verteilungsprinzipien. Demokratie in ihrer grundlegenden Form ist weder die Antithese noch die Umsetzung des Liberalismus.

II. Kerndemokratie kann gleichzeitig legitim und effektiv sein. Sie ermöglicht den Staatsbürgern ein vergleichsweise gutes und sicheres Leben ohne einen Herrn (wobei es den Nichtbürgern womöglich schlechter geht).28 Sie ist gut für die Bürger, weil sie unter anderem:

1. die materiellen Bedingungen für menschliches Wohlergehen bereitstellt: angemessene Sicherheit vor äußeren und inneren Bedrohungen für Leben und Eigentum; hinreichende Wohlfahrt in Form von (zumindest) Nahrung, Unterkunft und Gesundheitsfürsorge; angemessene Möglichkeiten, gesellschaftlich anerkannte Projekte umzusetzen.29

2. die freie Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten fördert: Geselligkeit, Vernunft und zwischenmenschliche Kommunikation.

3. wünschenswerte Bedingungen gesellschaftlicher Existenz bewahrt, vor allem politische Freiheit, politische Gleichheit und staatsbürgerliche Würde.30

III. Eine Theorie der Kerndemokratie betont die Bedeutung der staatsbürgerlichen Erziehung. Sie stellt die Verbindung von politischen Praktiken und bestimmten Werten in den Vordergrund, die in der liberalen politischen Theorie oft eher marginalisiert werden, vor allem den intrinsischen Wert der Teilhabe und den unabhängigen Wert staatsbürgerlicher Würde. Sie liefert auch die Antworten auf zwei Fragen von Liberalen und Nicht-Liberalen: Wie kann man eine liberale Gesellschaft stabil und gleichzeitig anpassungsfähig machen? Wie könnte man eine nicht-liberale Gesellschaft ohne autokratische Herrscher aufrechterhalten?

Vor allem jedoch möchte ich die Frage beantworten, ob eine demokratische Ordnung allein (ohne die Beimischung des Liberalismus) Stabilität und Beschränkung durch Gesetze bieten und gleichzeitig für ein angemessenes Sicherheits- und Wohlstandsniveau sorgen kann. Einige moderne Demokratietheoretiker hielten dies entweder aus Gründen, die sich aus der positiven politischen Theorie ergeben, für unvereinbar oder aus normativen Gründen heraus für nicht erstrebenswert. Joseph Schumpeter (1947) zum Beispiel, gefolgt von William Riker (1982, und andere) argumentierte, dass Demokratie keine gemeinsame Selbstregierung sein könne, da eine wirklich gemeinsame Selbstregierung wegen der mutmaßlichen Unmöglichkeit kollektiver Willensbildung und -äußerung nicht erreichbar sei. Sheldon Wolin (1996), dem sich einige „demokratische Agonisten“ anschlossen, vertrat die Ansicht, wahre Demokratie könne nicht stabil effektiv sein, weil die kollektive Handlungsfähigkeit verschwinde (sich verflüchtige), sobald Regeln in einer Verfassungsordnung verstetigt seien.31 Benjamin Barber (1984) argumentierte in der Nachfolge Rousseaus, dass Demokratie nicht beschränkt sein solle, und behauptete, eine Demokratie müsse, um echt zu sein, auch „stark“ sein.

Doch schon lange vor der modernen demokratischen Theorie wurde die Kerndemokratie fundamental infrage gestellt. In Leviathan behauptete Thomas Hobbes (1996 [1651]) bekanntermaßen, dass keine Regierungsform ohne eine übergeordnete, allmächtige Instanz die Sicherheit und den Wohlstand garantieren könne, die notwendig seien, um eine Gesellschaft aus dem brutalen „Naturzustand“ herauszuheben. Hobbes leugnete im Grunde die Möglichkeit einer selbstverstärkenden Gesellschaftsordnung, die irgendetwas bereitstellen könne, das auch nur annähernd an ein annehmbares Niveau von Sicherheit und Wohlstand heranreiche. Hobbes’ Haltung zur Notwendigkeit der Autokratie (im Sinne eines gesetzlosen Herrschers mit unbeschränkter Macht) fordert von Politiktheoretikern den Nachweis, dass eine Regierung, die eine normativ bessere Alternative zur krassen Entscheidung zwischen „Roheit“ (im Naturzustand) und „Sicherheit und wenigstens minimalem Wohlergehen unter einem gesetzlosen absolutistischen Herrscher“ bietet, auch den Anforderungen der positiven politischen Theorie genügen könnte. Diese Kapitel umreißen eine mögliche Antwort auf Hobbes’ Herausforderung.32

Die hier vorgeschlagene Antwort wird minimalistisch präsentiert. Ich habe nicht vor, all das auszuführen, was sich ein normativer Theoretiker liberaler, perfektionistischer oder anderer Ausrichtung von einer demokratischen Gesellschaft erhoffen wird. Insbesondere behaupte ich in Bezug auf den Liberalismus nicht, dass die Demokratie an sich der Werteneutralität verpflichtet ist, individuelle Autonomie oder universale Menschenrechte garantiert oder Verteilungsgerechtigkeit sicherstellt. Demokratie, wie sie hier definiert ist, wird selbst ihren Staatsbürgern nicht alle Rechte bieten, die der zeitgenössische Liberalismus (nach Rawls oder anderen egalitären Gesellschaftstheoretikern) fordert.33 Andererseits aber verhindern die Institutionen und Verhaltensweisen, die für die Erhaltung der Demokratie wesentlich sind, auch nicht unbedingt eine umfassendere Rechtsordnung. Die Demokratie kann darüber hinaus Güter bereitstellen, die der Liberalismus an sich nicht fördert. Sie kann analytisch vom Liberalismus unterschieden werden, selbst wenn sie sich, wie ich darlegen werde, als weitgehend vereinbar mit einigen Versionen des Liberalismus erweist. Kurz gesagt behaupte ich, dass Demokratie wünschens- und erstrebenswert sein kann, auch wenn sie weder liberal noch anti-liberal ist. Falls sich diese Behauptung in Theorie und Praxis bewahrheiten sollte, hätte dies beträchtliche Implikationen für die Politik.34

Im Buch geht es folgendermaßen weiter: Kapitel 2 lässt die Geschichte der politischen Entwicklung im klassischen Athen Revue passieren, denn sie ist unsere bestdokumentierte Fallstudie einer funktionierenden, von den philosophischen Ideen frühmoderner oder heutiger Liberaler unberührten Demokratie. Besondere Aufmerksamkeit zollen wir dabei den ursprünglichen und den „ausgereiften athenischen“ Bedeutungen des griechischen Begriffs demokratia – was verstanden die Athener, die sie praktizierten, unter Demokratie? Kapitel 3 stellt das Gedankenexperiment Demopolis vor: die grundlegende öffentliche Ordnung einer fiktiven Gesellschaft von Menschen, die unserer Annahme zufolge zwar ganz verschieden sind, aber alle lieber in einem Land leben, das sicher und einigermaßen wohlhabend ist und überdies nicht von Autokraten regiert wird. Die Einwohner von Demopolis sind bereit, gewisse Kosten zu tragen, um in einem solchen Land zu leben, aber sie fordern auch eine adäquate Möglichkeit, außerhalb der Politik Projekte voranzutreiben, die ihnen persönlich am Herzen liegen.

Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Legitimierung von Demopolis, ausgehend von der Annahme, dass sich das Gemeinwesen noch keinen liberalen Überbau zu eigen gemacht hat. Ein legitimierendes Argument in Form der staatsbürgerlichen Erziehung für potenzielle zukünftige Bürger beantwortet die Frage, wozu Demokratie in materieller wie nicht-materieller Hinsicht gut ist. Kapitel 5 zeigt, dass Aristoteles und Hobbes trotz ihrer fundamental verschiedenen Vorstellungen von Moralpsychologie in der Ansicht übereinstimmten, dass Menschen angeborene Fähigkeiten für Geselligkeit, Rationalität und verbale Kommunikation besitzen. Demokratie bietet ihren Bürgern die uneingeschränkte Möglichkeit, diese Grundfähigkeiten durch die gemeinsame Selbstregierung auszuüben, was meiner Ansicht nach an sich schon positiv ist.

Kapitel 6 prüft die Grundbedingungen der Kerndemokratie – politische Freiheit, politische Gleichheit und insbesondere die staatsbürgerliche Würde, die in der Möglichkeit der politischen Teilhabe zum Ausdruck kommt. Das rational eigennützige Handeln von Bürgern zur gegenseitigen Verteidigung der Bürgerwürde spricht das immer wieder auftauchende gesellschaftliche Problem an, wie man das Verhalten arroganter Individuen kontrollieren kann, die ihre eigene Überlegenheit zu zeigen versuchen, indem sie andere demütigen und bevormunden. Der Anspruch, dass teilhabende Bürger als Erwachsene behandelt werden, beschränkt darüber hinaus extreme Varianten libertärer und egalitärer Verteilungsgerechtigkeit. Kapitel 7 wendet sich der Delegierung von Macht an Repräsentanten zu und der Entwicklung von Instituitionen, die darauf ausgerichtet sind, wichtiges Fachwissen bei demokratischen Entscheidungen von allgemeinem Interesse zu nutzen, ohne dass der Staat durch eine Elite gekapert wird. Wenn die Bürger als Kollektiv fähig sind, sich selbst zu regieren, werden ihre Repräsentanten abgeschreckt, eine autokratische Herrschaft anzustreben. Eine Bürgerschaft ist in dem Maße vor den Gefahren kollektiven Unwissens gefeit, in dem sie Fachwissen effektiv nutzen kann.

Kapitel 8 schließlich fasst die in den vorhergehenden Kapiteln entwickelte Theorie der Kerndemokratie noch einmal zusammen. Einige leicht vorstellbare Spielarten liberaler und nicht-liberaler Gesellschaften können ein grunddemokratisches Fundament gar nicht nutzen, wenn sie ihren Werten treu bleiben wollen. Dennoch könnte die Kerndemokratie einer ganzen Reihe von Liberalen und womöglich auch einigen religiösen Traditionalisten von Nutzen sein, die einen politischen Rahmen für eine Gesellschaft suchen, die einer erkennbaren Moralordnung verpflichtet ist. Und schließlich wird der vorsichtige Optimismus des Vorworts durch einen Epilog gedämpft: Dort entwerfe ich eine „Demokratie der Angst“, in der Hoffnung, dass ein kerndemokratischer Rahmen als Bastion gegen die entsetzlichen gesellschaftlichen Bedingungen einer möglichen Zukunft „nach dem Ende des Liberalismus“ dienen kann.

Demopolis

Подняться наверх