Читать книгу Demopolis - Josiah Ober - Страница 12

1.2. Was war Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus?

Оглавление

Demokratie als Wort, Konzept und Praxis existierte schon lange vor dem 17. Jahrhundert, als die Gruppe ethischer, politischer und ökonomischer Haltungen unter dem Banner des Liberalismus allmählich an Bedeutung gewann. Wie wir sehen werden, brauchte die Kerndemokratie in der Geschichte bestimmte politische Voraussetzungen, die die Liberalen später als Werte begriffen: politische (Rede- und Versammlungs-)Freiheit, politische Gleichheit und rechtliche Beschränkungen der legislativen und exekutiven Gewalten. Doch die Demokratie gab es bereits, bevor politische Denker Freiheit als individuelle Autonomie verstanden. Bevor Moralphilosophen Rechte als „natürlich“ oder als unveräußerliche und universale, sich aus der Natur oder dem Moralgesetz ergebende „Menschenrechte“ statt als unter Staatsbürgern geltende und durch ihr kollektives Handeln gewahrte „Bürgerrechte“ definierten. Bevor man Verteilungsgerechtigkeit auf moralische Annahmen in Bezug auf Autonomie und Rechte gründete. Bevor man die Ansicht vertrat, der religiöse Pluralismus erfordere die Werteneutralität auf der Ebene des Verfassungsrechts. Es gibt also eine Geschichte der Demokratie, wie man sie vor dem Auftauchen einer kohärenten Darstellung liberaler Moral verstand und umsetzte. Ich habe in meiner akademischen Laufbahn viel Zeit damit verbracht, einen Teil dieser Geschichte zu erforschen – die Demokratie im antiken Griechenland und insbesondere im klassischen Athen. In diesem Buch geht es nicht um die griechische Geschichte an sich; es schöpft aber aus den klassischen griechischen Erfahrungen mit der Demokratie.

Der zweite Punkt, auf den meine Frage nach der vorliberalen Demokratie verweist, ist konzeptueller Natur. Kerndemokratie kann eine Antezedensbedingung für den Liberalismus (oder für andere Wertesysteme) sein: Demokratie ist eine Form der Politik, wie sie von einer Gemeinschaft von Bürgern praktiziert wird, ein Weg, Machtbeziehungen und Interessen zu organisieren. Liberalismus, wie ich den Begriff hier verwende, ist eine Theorie politischer Moral, eine Möglichkeit, ethische gesellschaftliche Beziehungen durch ethischen Individualismus, Toleranz, Moralgesetze und die Erfordernisse der Verteilungsgerechtigkeit in einer pluralistischen Gesellschaft zu bestimmen und zu rechtfertigen. Die kantianischen Fassungen zeitgenössischer liberaler politischer Theorie, um die es mir hier vor allem geht (von Rawls 1971, 1996, 2001 dargelegt), teilen eine ethische Verpflichtung auf die Freiheit, verstanden als individuelle Autonomie, und einen Glauben an die moralische Gleichheit der Menschen. Die vorherrschenden Formen zeitgenössischer politischer Theorie verpflichten für gewöhnlich die jeweils Herrschenden, im öffentlichen Bereich Werteneutralität anzustreben sowie unveräußerliche Menschenrechte zu schützen und zu stärken. Alle zeitgenössischen Varianten des Liberalismus vertreten zudem eine bestimmte Einstellung zur Verteilungsgerechtigkeit; das Spektrum reicht von libertär bis egalitär.10

Weder ist der Liberalismus als Moralsystem, das persönliche Autonomie, Rechte, Verteilungsgerechtigkeit und religiöse Neutralität des Staates in den Mittelpunkt stellt, historisch gesehen älter als die Kerndemokratie, noch diente er ihr als konzeptuelles Fundament. Als eine Bündelung politischer Verfahren kann Demokratie als eine Ansammlung einfacher Spiele, gespielt von idealtypisch aufgefassten, rational eigennützigen Personen, konzipiert werden. Ich werde zu zeigen versuchen, dass man die Kerndemokratie auch als ein dynamisches, sich selbst verstärkendes Gleichgewicht begreifen kann. Dagegen hat die zeitgenössische politische Theorie des Liberalismus als eine Sammlung moralischer Verpflichtungen auf Ideale des Rechts und der sozialen Gerechtigkeit keine Gleichgewichtslösung in einer Bevölkerung rational eigennütziger Akteure, die ihre eigenen Interessen erkennen und diese strategisch verfolgen. Und eine solche Lösung soll sie wohl auch gar nicht haben.11

Die zeitgenössische liberale Theorie, in der kantianischen Tradition neu begründet durch John Rawls’ epochale Theory of Justice (1971. Dt.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975), neigt dazu, Sicherheit und Wohlstand, die für eine moderne liberale/republikanische/demokratische Ordnung typisch sind, mehr oder weniger vorauszusetzen. Sie versucht, über das reine „Miteinanderauskommen“ (modus vivendi) in einer durch Wertepluralismus geprägten Gesellschaft hinauszustreben, indem sie eine moralische Rechtfertigung für eine gerechte Gesellschaftsordnung liefert. Diese Ordnung soll theoretisch für Menschen mit sehr unterschiedlichen religiösen Glaubensvorstellungen akzeptabel sein. Rawls’ berühmtes Gedankenexperiment mit dem „Schleier des Nichtwissens“ trennt moralische Akteure vom Wissen um ihre individuellen Umstände und versetzt sie so in die Lage, sich auf die „Grundstruktur“ zu einigen: auf die fundamentalen Regeln für eine gerechte Gesellschaft.12 Weil aber eine gerechte Gesellschaftsordnung schwer aufrechtzuerhalten ist, sobald der „Schleier“ gelüftet wird und die Menschen wieder um ihre individuellen Lebensumstände wissen, definierte Rawls seine ursprüngliche Gerechtigkeitstheorie als eine ideale Theorie. Sie geht einfach von einer vollständigen Befolgung der vereinbarten Regeln aus, statt strategisch rationalen Akteuren nichtmoralische Motivationen für die Einhaltung dieser Regeln zu bieten (Rawls 1971: 8, 89–91; Valentini 2012). In seinen folgenden Arbeiten (1996, 1999) beschäftigt sich Rawls damit, dass liberale Werte an sich als Gesellschaftsordnung nicht selbsttragend sind. Dies betont auch Skinner in Liberty before Liberalism und propagiert eine „römische“ Version des Republikanismus als eine wünschenswerte, wenn auch nicht unbedingt liberale stabile Gesellschaftsordnung. Ich stelle hier eine „athenische“ Version der Demokratie vor.13

Ethische und politische Theorien können eng miteinander verflochten sein (wie etwa in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik und Politik), aber sie sind nicht notwendig oder kausal aufeinander bezogen: Einige ethische Theorien lehnen politische Aussagen ab; einige Politiktheorien vermeiden eine ethische Haltung. Ich stelle die Behauptung auf, dass man einen sicheren und erfolgreichen Verfassungsrahmen ohne Rückgriff auf die ethischen Annahmen der zeitgenössischen liberalen Theorie und sogar ohne die zentralen Annahmen des frühmodernen Liberalismus oder Republikanismus stabil etablieren kann. Die politische Praxis der Demokratie braucht Voraussetzungen, die liberalen und republikanischen Kernwerten von Freiheit und Gleichheit ähneln. Sie fördert bestimmte ethische Verpflichtungen, wenn auch nicht notwendigerweise die des kantianischen Liberalismus. So weit die demokratische Politik mit den Werten der zeitgenössischen liberalen Theorie vereinbar ist, kann sie dazu beitragen, dass sich eine Bevölkerung von mehr oder weniger rationalen, eigennützigen und stategisch handelnden Individuen an liberalen Prinzipien orientiert. Doch der Liberalismus ist nicht Bestandteil der Demokratie, und Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, die aufkommen, sobald ein demokratisches Fundament gelegt ist, sind nicht Thema dieses Buches.

Die Demokratie „vor den Liberalismus“ zu setzen, wirkt auf den ersten Blick vielleicht so, als zäume man das Pferd begrifflich von hinten auf, weil sich der Liberalismus mit materieller wie auch mit Verfahrensgerechtigkeit beschäftigt und materielle Gerechtigkeit als Kernpunkt der politischen Philosophie gilt. Historisch gesehen gehen Vorstellungen in Bezug auf die faire Verteilung von Gütern der Ausübung von Demokratie in komplexen Gesellschaften voraus.14 Gerechtigkeit wird sicher in jeder Geschichte über Demokratie ein Thema sein. Für viele Demokraten (z.B. Christiano 2008) liegt der Wert der Demokratie in ihrer Rolle bei der Verwirklichung einer gerechteren Gesellschaftsordnung. Doch Demokratie ist, begrifflich wie historisch betrachtet, eine Antwort auf die Frage „Wer herrscht?“ und nicht auf Fragen danach, wem welcher Anteil der Güter zusteht, die durch soziale Kooperation produziert werden. Sowohl die griechischen Erfinder der Demokratie in der Antike wie auch die Gründer der hypothetischen Gesellschaft im Gedankenexperiment Demopolis näherten sich den Problemen des „Warum und wie kann man eine nicht-autokratische Regierung schaffen?“ natürlich mit jeweils eigenen Einstellungen zur materiellen Gerechtigkeit und Verfahrensgerechtigkeit.15 Es war allerdings nicht nötig, sich auf die Bedingungen materieller Gerechtigkeit zu einigen, bevor sie nicht das Projekt in Angriff genommen hatten, eine existenzfähige Ordnung ohne Tyrannen zu errichten.

Wenn wir die Demokratie verstehen wollen, gibt es gute Gründe, statt einer „materiell gerechten Gesellschaft“ zunächst einmal einen „nicht-autokratischen Staat“ zu betrachten.16 Im 6. Jahrhundert v. Chr. öffnete sich in Athen wie im Amerika des 18. Jahrhunderts der revolutionäre Weg zur Demokratie durch die Delegitimierung der autokratischen Hoheitsgewalt, eine breite Präferenz für die Abschaffung der Tyrannei (anstelle der reinen Hoffnung auf einen gnädigeren Herrscher) und den eindeutigen Nachweis, dass viele Bürger als kollektiver politischer Akteur handeln konnten. Obwohl die Erfahrung der Ungerechtigkeit die Revolutionen nährte, konzentrierten sich die athenischen wie die amerikanischen Gestalter der neuen politischen Ordnung zunächst auf institutionelle Mechanismen, um eine Rückkehr der Tyrannei zu verhindern. Die Aufgabe, eine völlig gerechte oder anderweitig moralisch gute Gesellschaftsordnung zu schaffen, überließen sie ihren Nachfolgern; solche komplizierten Dinge stellt man besser zurück, bis der politische Rahmen gesetzt ist.17

Aus der Geschichte erfolgreicher demokratischer Verfassungsgebung lässt sich nicht ableiten, dass Demokratie im grundlegenden Sinn auf der Skala der menschlichen Werte höher steht als materielle Gerechtigkeit. Andererseits lenkt der Blick auf die notwendigen Bedingungen für die Einrichtung der Demokratie die Aufmerksamkeit auf die Werte der politischen Teilhabe und staatsbürgerlichen Würde, die bei liberalen politischen Theorien, die sich vorrangig mit der Verteilungsgerechtigkeit beschäftigen, außen vor bleiben. Erst wenn Werte sichtbar gemacht und disaggregiert, also aufgeschlüsselt wurden, können wir die Frage nach ihrer relativen Bedeutung stellen. Ein Grund, sich mit der Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus zu befassen, liegt also darin, dass man die Aufmerksamkeit wieder auf den intrinsischen Wert der Teilhabe an der gemeinsamen Selbstregierung für den Einzelnen richtet – einen Wert, der in der analytischen politischen Theorie oft unscharf geblieben, wenn nicht sogar geleugnet worden ist.18

Im Folgenden möchte ich definieren, wie viel von dem, was liberale Demokraten schätzen, die Demokratie vor der Beimischung des Liberalismus leistet. Ich gehe nicht davon aus, dass allein die Demokratie liberalen Demokraten eine in ihren Augen gerechte Gesellschaftsordnung bieten könnte. Wir wir sehen werden (Kapitel 6), gibt es jedoch Spielarten des Liberalismus, die mit der Demokratie, zumindest in der Form, die ich hier diskutieren werde, nicht vereinbar sind. Aber ich werde auch gute Gründe (Kapitel 8) dafür anführen, dass die Demokratie tatsächlich ein stabiles Fundament für eine liberale Gesellschaftsordnung liefern und die Aufmerksamkeit auf andere wertvolle Lebensbedingungen lenken kann.

Außerdem möchte ich jene Menschen erreichen, die sich nicht von den moralischen Positionen des Liberalismus angezogen fühlen, wohl aber von der Vorstellung einer nicht-tyrannischen Gesellschaftsordnung – Menschen also, die unter einer stabilen, nicht-autokratischen Regierung über sich selbst bestimmen möchten. Diese Menschen, von denen es, wie ich glaube, viele gibt, können mit Recht fragen, was die Demokratie im Hinblick auf Sicherheit und Wohlstand bietet, was sie im Hinblick auf Regeln und Verhaltensweisen erfordert und was sie im Hinblick auf Werte und Verpflichtungen beinhaltet. Einige Liberale mögen eine Unterscheidung von demokratischer Politik und liberaler Moral vielleicht als aggressiven Akt betrachten (als das moralische Äquivalent zur Verteilung von Messern an Geisteskranke), doch ich finde, dass die zeitgenössische politische Theorie jenen etwas zu sagen haben sollte, die nicht das ganze Paket „liberale Demokratie“ annehmen, dennoch ohne einen politischen Herrn leben wollen. Zudem offenbart ein besseres Verständnis der Bedingungen für eine Demokratie vor dem Liberalismus die Dummheit und Unrichtigkeit von Behauptungen zeitgenössischer illiberaler Populisten über das, was sie „Demokratie“ nennen.19

Ich konzentriere mich auf die Demokratie, weil sie einerseits etwas ist, über das ich, wie ich meine, etwas Neues zu sagen habe, und weil es andererseits schon eine Menge guter analytischer Untersuchungen zum Liberalismus als solchen gibt. Über die Demokratie an sich ist zumindest in der modernen anglo-amerikanischen analytischen Forschungstradition weniger zu finden. Das liegt wohl zumindest teilweise daran, dass viele qualitativ hochwertige Demokratietheorien sich den Kreuzungen „demokratischer Liberalismus“ oder „liberale Demokratie“ verschrieben haben.20 Dafür gibt es gute Gründe, denn demokratisch-liberale Mischformen bieten offenbar die besten verfügbaren Lösungen für Gesellschaften mit einem tief gehenden Wertepluralismus und stark ausgeprägten religiösen Identitäten. Zudem galten solche Mischformen vielen Menschen in der modernen Welt (auch mir) lange als bester normativer Rahmen der Gesellschaftsordnung. Doch in unserem hektischen Bemühen, genau festzulegen, was wir von einer politischen Ordnung erwarten und fordern, haben zeitgenössische liberale Demokraten die Dinge möglicherweise so sehr miteinander verschmolzen, dass sich kaum noch nachvollziehen lässt, welche Beziehungen denn nun tatsächlich zwischen Liberalismus und Demokratie bestehen – und welche nicht.

In den Augen vieler moderner Politiktheoretiker bildet die Demokratie einen integralen Bestandteil liberaler Gerechtigkeitstheorien.21 Der moralische Liberalismus kann meiner Überzeugung nach mit der Kerndemokratie vereinbar sein, auch wenn ich aufzeigen werde, warum bestimmte Umsetzungen liberaler Vorstellungen von Gerechtigkeit nicht mit der Demokratie zusammenpassen. Um jedoch zu entscheiden, ob und wann die relevanten Bedingungen und Werte kompatibel sind, sich gegenseitig stützen oder ausschließen, müssen wir Demokratie und Liberalismus voneinander trennen – was möglich sein sollte. Wie Duncan Bell gezeigt hat, entstand die Vorstellung der „liberalen Demokratie“, wie wir sie heute kennen, erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts.22

Andere moderne liberale Theoretiker behaupten, dass ein wohlmeinender Autokrat die Voraussetzungen für Liberalismus schaffen könne, der sich schließlich irgendwann mit der Demokratie verbinde – oder auch nicht (Zakaria 1997, 2003; Fukuyama 2011, 2014). Ein Autokrat könnte vielleicht die Regeln für eine liberale, aber nicht-demokratische Gesellschaft formulieren und durchsetzen. Allerdings würden die liberalen Regeln dann vom Willen des Herrschers abhängen, solange das Volk als kollektiver Akteur nicht die höchste politische Macht in Händen hält.23

Ein Anführer mit der Macht, Gesetze zu erlassen und durchzusetzen, die einen koordinierten Widerstand in Form eines effektiven gemeinsamen Handelns seiner Untertanen verhindern, herrscht, wie es ihm gefällt – ungeachtet irgendwelcher „Hindernisse aus Pergament“, die man ihm mit seiner Erlaubnis in den Weg legt.24 Diese Gefahr motiviert Demokraten dazu, Regeln einzuführen, die den Widerstand des Volkes erleichtern. Demokratie ist historisch wie theoretisch eine Ablehnung der Autokratie, und sei sie noch so wohlmeinend. Doch was ist mit der Gefahr der „illiberalen Demokratie“? Liberale Kritiker haben argumentiert, dass es sich bei der Demokratie vor der Beimischung des Liberalismus um nichts anderes als einen brutal illiberalen Populismus handelt (Riker 1982). Ich werde zu zeigen versuchen, dass die notwendigen Voraussetzungen für die Praxis der Demokratie nicht grundsätzlich liberal, aber ebensowenig illiberal sind. Genauso wie es in die Irre führt, wenn man Demokratie mit Liberalismus verschmilzt, ist es auch ein Fehler, Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus als Gegensatz zum Liberalismus aufzufassen.25

Demopolis

Подняться наверх