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2.3. Ausgereifte griechische Definition

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Der griechische Begriff kratos kann, wie wir gesehen haben, im Sinne von Stärke wie auch von Zwang verwendet werden; beide Bedeutungen treffen sich in Akten der Regelfestlegung und -durchsetzung. Das kratos des athenischen demos verwirklichte sich in den für alle Mitglieder der athenischen Gemeinschaft bindenden Regeln und ihrer Durchsetzung. Im klassischen Athen ging man davon aus, dass die Bürger hin und wieder an den staatsbürgerlichen Aktivitäten teilnahmen, die die nicht-tyrannische Regierung aufrechterhielten; wer dies nicht tat, riskierte die Kritik seiner Mitbürger, er lief Gefahr, als „nutzlos“ bezeichnet zu werden, wie Thukydides’ Perikles es in seiner berühmten Gefallenenrede (Thukydides 2,40,2) ausdrückt. Das athenische Gesetz und die partizipativen Verhaltensnormen förderten politische Freiheit, politische Gleichheit und staatsbürgerliche Würde. In den Augen der athenischen Demokraten wie auch ihrer antiken Kritiker waren diese Bedingungen grundlegend für die dauerhafte Existenz der Demokratie.23 Sie setzten jedoch ihrerseits wiederum eine gewisse Zurückhaltung bei der Ausübung des kratos durch das Volk voraus. In der griechischen politischen Geschichte kam man erst einige Zeit nach der demokratischen Gründungszeit zu der Erkenntnis, dass der Demos seiner eigenen Befugnis, Dinge zu tun, rechtliche Grenzen setzen muss und kann, indem er den Gesetzgebungsprozess reguliert. Am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. hatte man jedoch die Notwendigkeit dieser Grenzen anerkannt und sie im athenischen Recht formalisiert.

Gerade die Erkenntnis, dass die Macht des herrschenden Demos durch das Gesetz eingeschränkt werden kann und sollte, unterscheidet in den Augen vieler die liberale Demokratie von der Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus (Starr 2007). Solche Beschränkungen werden mit einem liberalen Ideal individueller Freiheit, verstanden als natürliche Bedingung oder unveräußerliches Menschenrecht, verbunden. Dabei hatten sich Theorie und Praxis rechtlicher Beschränkung der gesetzgebenden Macht bereits in der griechischen Antike gut entwickelt, lange bevor es Naturrechtslehren oder Naturrechtstheorie gab. Im klassischen Athen zwangen die Imperative der Sicherheit und des Wohlstands die Bürger, die Macht des versammelten Demos zu begrenzen. Die Erkenntnis über die Gefährdung der politischen Freiheit und Gleichheit durch die ungehemmte öffentliche Macht einer demokratischen Mehrheit machte aus der Notwendigkeit eine Tugend.

Demokratie als Regierungsform hatte in der griechischen Welt etwa vierhundert Jahre lang Bestand; Theorie und Praxis der Demokratie entwickelten sich im Laufe dieser Zeit beträchtlich. Zur Zeit des Historikers Polybios im 2. Jahrhundert v. Chr. war der Begriff demokratia ein Synonym für „legitime nicht-autokratische Regierung“, und die Vorstellung einer „gemischten Regierung“ – in der Elemente, die man als monarchisch, aristokratisch und demokratisch verstand, dazu dienten, Tendenzen zur Autokratie, die jedem einzelnen Element innewohnten, entgegenzuwirken – war allgemein gängig. In der Praxis jedoch begann die Beschränkung durch Gesetze schon viel früher.24

Bestimmte selbstauferlegte Beschränkungen der Macht des Demos den einzelnen Bürgern gegenüber scheinen mit der Gründung der Demokratie einherzugehen. Die Praxis des Ostrakismos zum Beispiel, durch den ein Individuum per Mehrheitsentscheid aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden konnte, wurde durch Verfahrensregeln beschränkt. Diese Regeln erforderten eine vorherige Mehrheitsentscheidung für einen Ostrakismos, erlaubten eine solche Entscheidung nur einmal im Jahr und begrenzten den Zeitraum der Ausweisung auf zehn Jahre.25 Für unsere Zwecke entscheidend aber war eine innovative Gruppe rechtlicher Veränderungen im späten 5. und frühen 4. Jahrhundert v. Chr. Sie ergaben sich aus der Einsicht der Athener, die Macht des Volkes, zu tun, was und wann immer es ihm einfiel, systematisch beschränken zu müssen, um den Staat stabil zu halten. Deshalb trennte man alltägliche Entscheidungen, die mit einfacher Mehrheit in einer gesetzgebenden Bürgerversammlung getroffen wurden, vom Grundgesetz, das durch einen aufwendigeren, vielstufigen Prozess entstand. Und man ordnete die „Beschlüsse“, die in der Versammlung verabschiedet wurden, kodifizierten grundlegenden „Gesetzen“ unter.26

Nach dem Peloponnesischen Krieg setzten die Athener im späten 5. Jahrhundert v. Chr. mit demokratischen Mitteln eine neue Grundregel ein, derzufolge der unmittelbar ausgedrückte Willen der versammelten Bürgerschaft in Form eines „Beschlusses der Volksversammlung“ mit dem bestehenden Grundgesetz vereinbar sein musste. Kurz zuvor hatten sie dieses kodifiziert und archiviert. Jetzt unterschieden sie den Vorgang zur Festsetzung und Verbesserung des grundlegenden Gesetzes von den in der Volksversammlung direkt gefassten Beschlüssen. Das Grundgesetz konnte nur revidiert werden, wenn eine Mehrheit der versammelten Bürger dafür stimmte, einen Prozess anzustoßen, in dem bestimmte Gesetze hinterfragt und eventuell geändert wurden. Der üblichen Rekonstruktion des Prozesses zufolge wurden „Gesetzmacher“, die für die Prüfung und Autorisierung von Veränderungen verantwortlich waren, zufällig per Los aus allen über 30-jährigen Bürgern bestimmt (Hansen 1999: 167–168). Das Verfahren ähnelte einem Geschworenenprozess, bei dem vor mehreren Hundert Gesetzmachern ausführlich die Argumente für und gegen die Hinzufügung eines neuen Gesetzes ausgetauscht wurden. Wenn sie sich zu Änderungen entschlossen, hoben die Gesetzmacher gleichzeitig bereits bestehende Gesetze auf, die Bestimmungen des neuen Gesetzes widersprachen. Eine Ergänzung der Verfassung gestaltete sich nicht annähernd so schwierig wie heute etwa in den Vereinigten Staaten. Im Vergleich zu früheren Verfahren war der neue Prozess zur Veränderung des athenischen Grundgesetzes jedoch relativ langwierig, öffentlich und wohlüberlegt.

Diese Innovation im Verfassungsrecht entstand in der Folge zweier oligarchischer Coups d’état und einer verheerenden militärischen Niederlage. Nach der Wiedereinsetzung der Demokratie im Jahr 403 v. Chr. erkannten die Athener, dass sie für eine neue Blüte politische Stabilität brauchten. Dazu wiederum musste sich die Mehrheit der Durchschnittsbürger glaubhaft einer Rechtsordnung verpflichten, die die Reichen und ihr Eigentum schützen würde. Bürger, die der Elite angehörten, mussten sich ihrerseits glaubhaft verpflichten, die Anrechte (z.B. die Bezahlung für den Dienst an der Öffentlichkeit) zu bewahren, die es den relativ Armen erlaubten, an der Politik teilzuhaben. Die Ära des Bürgerkriegs endete mit einem Versöhnungsabkommen, das, wie Edwin Carawan (2013) gezeigt hat, die Form eines Vertrags zwischen den elitären „Männern der Stadt“ und den Normalbürgern, den „Männern von Piräus“, annahm. Die neue Verfassungsordnung bestätigte, dass die soziale Vielfalt des Demos zu gegensätzlichen politischen Präferenzen führte. Aber sie erkannte auch an, was Federica Carugati (2015) den „Konsens der patrios politeia“ genannt hat, der diese vielfältige Bevölkerung durchzog – eine weitgehende Einigkeit, dass die Athener „von alters her“ nach ihren eigenen Gesetzen lebten. Alle stimmten darin überein, dass es gegen das Gesetz verstieß, wenn jemand die Fähigkeit der Athener, die unterschiedlichen Präferenzen auszugleichen und friedlich zusammenzuleben, aufs Spiel setzte. Weithin verbreitet war auch das Gefühl, eine Tolerierung der Gesetzlosigkeit würde zu Armut und Unsicherheit führen. Dieser allgemeine Konsens reichte aus, um die Neuverpflichtung auf ein formelles System eines grundlegenden Verfassungsgesetzes in Angriff zu nehmen.

Die Beschränkung der demokratischen gesetzgebenden Gewalt in Athen beruhte also auf einer austarierten Lösung, geboren aus einer höchst prekären sozialen Situation, in der die Menschen begriffen, durch Kooperation mehr erreichen zu können als durch Kämpfe. Das Ergebnis war das, was wir vielleicht die reife (philo-demokratische) griechische Definition von Demokratie nennen können: gemeinsame Selbstregierung durch eine gesellschaftlich breit gefächerte Bürgerschaft, beschränkt durch Verfassungsgesetze, die ebenfalls von den Bürgern aufgestellt wurden.

Die antike Definition steht in Einklang mit zwei ebenso bekannten wie nachwirkenden Aussprüchen der frühen amerikanischen Politikgeschichte: Zunächst einmal Abraham Lincolns prägnante Beschwörung der „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk“ in seiner Gettysburg Address. Kerndemokratie ist für das Volk in dem Sinn, dass sie die fundamentalen Interessen der gesamten Bürgerschaft erfüllen will, statt nur die Präferenzen einer Mehrheit zu befriedigen. Sie ist durch das Volk insofern, als die Bürger politische Beschlüsse treffen, ausführen und durchsetzen. Und sie ist eine Regierung des Volkes, da die Demokratie ein gemeinsamer Besitz ist. Die Bürger besitzen die Regierung, es ist ihre Regierung, weil sie ihr Urheber waren und sind. Diese kollektive Urheberschaft und Eigentümerschaft ist im letzten Jahrhundert in der Präambel der US-Verfassung bestätigt worden: „Wir, das Volk … setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.“27

Im politischen Kontext der Jahre 1787 und 1863 ging es natürlich um eine repräsentative Regierung, keine direkte Demokratie nach athenischem Vorbild. Wie oben bereits erwähnt, ent- und bestanden die antiken griechischen Demokratien unter besonderen historischen Umständen, die sich wohl kaum wiederholen werden. Sie wiesen unverwechselbare soziale und kulturelle Merkmale auf. Einige davon, etwa die Sklaverei und die fehlenden Teilhaberechte der Frauen, sind jeder zeitgenössischen Regierung, die heute als Demokratie gelten würde, fremd und zuwider. Doch wenn wir uns im nächsten Kapitel dem Gedankenexperiment Demopolis zuwenden, müssen wir dabei nicht den griechischen soziokulturellen Ballast oder die charakteristischen Einstellungen politischer Anführer im Amerika der Jahre 1787 oder 1863 mit uns tragen. Wenn man sich Demopolis als einen Staat des 21. Jahrhunderts vorstellt, werden seine Bürger keine moralische Verpflichtung auf die Prinzipien des Liberalismus brauchen, um auf die Sklaverei zu verzichten und die Teilhabe auch den Frauen zu öffnen.

Alle antiken griechischen demokratischen Regierungen unterschieden sich, wie Paul Cartledge (2016) betont hat, verfahrensrechtlich von allen modernen Demokratien, weil sie auf die regelmäßige und direkte gesetzgebende Aktivität von Bürgern setzten. Ich habe oben die Ansicht vertreten (2.1), dass dieser Unterschied in den Verfahrensweisen nicht auf eine unüberbrückbare konzeptuelle Kluft verweist. In Kapitel 7 werden wir uns der Frage zuwenden, wie der Rahmen der Kerndemokratie eine Regierung stützen kann, in der die Menschen die primäre Verantwortung für einen Großteil der (wenn auch nicht notwendigerweise für die gesamte) Regelsetzung und -durchsetzung an Repräsentanten delegiert haben. Fürs erste gehe ich davon aus, dass Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus für einen modernen Staat relevant sein kann – solange nicht gezeigt wird, dass eine repräsentative Regierung eines großen Staates keine Kerndemokratie sein kann, also kein System der Selbstregierung, in dem die Staatsbürger fähige und (direkt oder durch Repräsentanten) kollektive Herrscher sind.28 Wenn wir uns also im nächsten Kapitel dem Gedankenexperiment Demopolis zuwenden, halte ich es für möglich, dass die Regierung, die aus diesem Experiment hervorgehen wird, zeitweise an Repräsentanten delegiert werden könnte. Abstrahiert von den besonderen historischen Umständen, unter denen die antike Selbstregierung der Bürger entstand, erlaubt uns das Gedankenexperiment, ein kerndemokratisches System in verschiedene Kontexte zu setzen – auch in die Moderne.

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