Читать книгу Bergdorf sucht... Lehrerin - Josie Hallbach - Страница 10
Kapitel 7:
ОглавлениеPunkt zehn stand die Hebamme vor der Tür. Hannes übte sich noch überzeugend in der Rolle des Scheintoten, so dass im Moment Ruhe und Ordnung herrschten.
„Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.“
„Sehr gut, ich war ziemlich müde.“
„Das werden Sie vermutlich auch die nächsten Tage sein. Wir befinden uns auf knapp 1000 Metern, daran muss man sich erst mal gewöhnen.“ Sie druckste ein wenig herum, dann streckte sie ihr kurzentschlossen die Hand entgegen: „Irgendwie kommt mir das ‚Sie‘ blöd vor. Wenn Sie nichts dagegen haben: Ich heiße Anne.“
„Gern, Paula.“ Erleichtert drückte sie die ihr angebotene Hand.
„Dann begeben wir uns also in die Höhle des Löwen, Paula. Hier sind übrigens die Schlüssel für die Schule.“ Sie hielt einen ganzen Schlüsselbund in die Höhe. „Der ist für die Haustür, das Klassenzimmer, den Vorbereitungsraum, das Materiallager und das Schulklo. Ich besitze für die unteren Räume Ersatzschlüssel, falls mal einer verloren geht.“
Über die schmale Hintertreppe erreichten sie das Erdgeschoss. Anne schloss die erste Tür auf der rechten Seite auf.
Acht Schulbänke und fünfzehn Stühle standen in einem nicht gerade heimeligen, überdimensionalen Zimmer. Eine Tafel, ein Kartenhalter, ein Lehrerpult samt Stuhl, ein Waschbecken, ein Schrank und ein Papierkorb bildeten die Gesamtausstattung. Alles befand sich nicht mehr im allerbesten Zustand. In der Ecke blätterte sogar die Farbe von den Wänden.
„Das ist das Klassenzimmer“, erklärte Anne mit einem schrägen Lächeln.
Paula wurde zuerst flau im Magen, dann arbeitete ihr Gehirn. „Was heißt das Klassenzimmer? Wo sind die anderen?“
„Es gibt nur ein Klassenzimmer, weil es auch nur eine Lehrerin gibt, nämlich dich.“ Ihre Gesprächspartnerin redete nicht lange um den heißen Brei herum, das musste man ihr lassen.
Paula gaben die Beine nach. Sie fiel mehr oder weniger auf den am nächsten stehenden Stuhl. „Das ist nicht dein Ernst.“
Anne machte keine Anstalten zu lachen, sogar das Lächeln verschwand.
„Das heißt, ich werde allein hier unterrichten?“ Das konnte nur ein Scherz sein. Gesamtklassen gab es in Deutschland doch seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr, oder?
„Genau, aktuell sind es zwölf Kinder im Alter von sechs bis sechzehn. Die Lehrbücher findest du im Materialraum. Aber ich muss dich gleich vorwarnen, sie sind hoffnungslos veraltet. Wir hatten viele Jahre lang einen recht guten Lehrer, der dann aber nach der Pensionierung mit seiner Frau wegzog. Bis vor einem dreiviertel Jahr hat anschließend eine ehemalige Lehrerin unterrichtet, Fräulein Breithammer. Sie war eine gute Freundin von Tante Lieselotte und tat es aus reiner Gefälligkeit. Dann bekam sie allerdings einen Schlaganfall und verstarb innerhalb kurzer Zeit. Den Rest des Schuljahrs haben alle zusammen geholfen.“
„Was bedeutet zusammengeholfen?“ Paula nahm sich vor, sich über nichts mehr zu wundern. Es war wie beim Zahnarzt, lag man erst mal auf dem Stuhl, gab es kein Entrinnen mehr und dann galt nur noch Augen zu und durch.
„Ich habe Biologie, Englisch und Deutsch gegeben, der Pfarrer Reli und Musik, Herr Tannhauer, unser Gemischtwarenhändler und Elektriker Mathematik und Physik und Herr Schaup, der Vater eines unserer Schüler, Chemie, Geschichte und Erdkunde. Du kannst dir denken, dass nicht allzu viel dabei rauskam, und die meisten Kinder sind deswegen durch die Prüfung gefallen und müssen nun wiederholen.“
„Was für eine Prüfung?“ Sie kam sich vor wie ein ABC- Schütze am ersten Schultag, völliges Neuland wartete auf sie.
„Vor den Sommerferien müssen alle Kinder ans Schulzentrum in die Kreisstadt und dort einen Leistungsnachweis in allen wichtigen Fächern erbringen. Erst dann dürfen sie in die nächste Klasse versetzt werden. Das ist seit einigen Jahren Gesetz und wurde von der Schulbehörde so verordnet. Wenn wir uns nicht darauf einlassen, bekommen wir unsere Schulzulassung aberkannt. Die ist ohnehin recht wackelig, weil wir inzwischen eine Rarität in diesem Land sind und bestenfalls geduldet werden: eine der wenigen noch existierenden Zwergschulen in Deutschland.“
„Aber so einfach werden sie diese Schule wohl kaum schließen können?“, wagte Paula einzuwenden.
„Sie können, das darfst du mir ohne weiteres glauben. Sie haben uns sogar schon mehrfach damit gedroht. Nach dem Tod von Fräulein Breithammer und den letzten Prüfungsergebnissen im Sommer war es eigentlich bereits beschlossene Sache. Lediglich deine Bewerbung hat uns den nötigen Aufschub verschafft.“
„Das heißt, wenn ihr keinen Lehrer gefunden hättet, würde es diese Schule jetzt nicht mehr geben?“
„Genau, du bist die Erhörung unserer Gebete, behauptet zumindest Pfarrer Ebershäuser.“ Anne lächelte schwach.
Paula schüttelte den Kopf. Sie konnte es kaum fassen: „Aber wie wäre es dann weitergegangen?“
„Die Kinder hätten in ein Internat gemusst, weil man unmöglich jeden Tag den Weg von hier ins nächste Dorf über den Pass machen kann, zumal keine Busse fahren und im Winter die Straße teilweise gesperrt werden muss.“
Paula ging langsam ein Licht auf, wahrscheinlich sogar gleich mehrere. „Also werde ich unter Umständen gleichzeitig Klasse 1-10 unterrichten, in allen vorgeschriebenen, versetzungspflichtigen Fächern?“ Sie konnte nicht verhindern, dass sich Gänsehaut über ihren ganzen Körper zog. Vermutlich wurde sie parallel dazu auch blass, zumindest fühlte es sich an, als würde jegliches Blut aus ihrem Kopf in den Magen sacken.
Ihre neue Bekannte wagte ein weiteres aufmunterndes Lächeln. „Das klingt schwierig, aber du wirst dich schon einarbeiten. Außerdem haben wir ein gutes System entwickelt. Wir unterrichten Grundschule und weiterführende Schule meist getrennt. Klasse 1-6 morgens und die weiterführenden Klassen nachmittags. In der Woche drauf wird dann gewechselt. Ich mache dir bis morgen eine Liste mit allen Schülern, dem Alter und der Klassenstufe.“
Es herrschte mindestens eine Minute lang Totenstille im Raum. Man hörte nur das Ticken der altmodischen Uhr.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich habe nur Deutsch, Geschichte und Englisch studiert. Und Englisch bloß als Nebenfach“, sagte Paula schließlich verzweifelt. Sie fühlte sich inzwischen beinahe krank. Sie fror, so als ob sie gleich Fieber bekäme.
„Du wirst da bestimmt reinwachsen.“ Anne klopfte ihr mitfühlend auf die Schulter.
Der frischgebackenen Lehrerin von Lämmerbach wurde allmählich klar, wie naiv sie sich auf diese Sache eingelassen hatte. Man brach nicht einfach die Zelte hinter sich ab ohne zu wissen, was auf einen zukam. Julia hatte vollkommen Recht gehabt. Der einzige Trost war, dass die Leute wirklich nett zu sein schienen. Außerdem wurde sie ganz offensichtlich an diesem Platz dringend gebraucht.
„Lebst du schon immer hier?“, fragte sie, als sie merkte, dass schon wieder eine längere Pause entstanden war, die ihre Gesprächspartnerin wohl höflichkeitshalber nicht zu unterbrechen wagte.
„Nein, nicht direkt. Aber das ist eine längere Geschichte.“
„Ich glaube, ich würde nach diesem Schock ganz gern eine lange Geschichte hören. Aber natürlich nur, wenn du erzählen magst.“
Sie saßen inzwischen beide in den Schulbänken, den Blick nach vorne auf die leicht schief hängende Tafel gerichtet, wie zwei befreundete Klassenkameradinnen.
„Ich war fünf Jahre als meine Eltern herzogen. Mein Vater hatte während eines Wanderurlaubs dieses Tal entdeckt, vom Medizinernotstand erfahren und ließ sich kurzerhand als Arzt hier nieder. Es gab fortan für ihn keinen Feierabend mehr und ich weiß bis heute nicht, von was er wirklich lebt, denn die wenigsten Patienten kann er regulär über die Krankenkasse abrechnen. Am Anfang wohnten knapp dreihundert Leute in Lämmerbach, wenn man die Almen mitrechnet. Inzwischen sind es nur noch etwas über hundert. Die meisten haben aufgegeben, sind weggezogen oder starben.
Mein kleiner Bruder wurde kurz darauf geboren. Irgendwann hielt es meine Mutter jedoch nicht mehr aus, sie wollte in die Stadt zurück und trennte sich von uns. Meinen Bruder nahm sie mit und ich blieb bei meinem Vater. Dieses Tal war inzwischen meine Heimat geworden. Bei Paps ging diese Liebe sogar so weit, dass er bereit war, dafür seine Familie zu opfern.
Bald darauf bekam meine Mutter Krebs und mein Bruder kehrte wieder zu uns zurück. Ich hatte ihn einige Jahre wenig zu Gesicht bekriegt und… na ja.“ Anne seufzte unwillkürlich. „Wir sind sehr unterschiedlich.“
Die Geschichte begann Paula an ihre eigene zu erinnern und sie hörte mit wachsendem Interesse zu.
„Mit sechzehn schaffte ich die Mittlere Reife. Weil ich unbedingt weitermachen wollte, musste ich in die nächste Stadt aufs Gymnasium. Ich wohnte so lange in einem Internat. Meine Mutter starb in dieser Zeit.“ Sie machte eine kurze Pause, als müsse sie überlegen, ob sie überhaupt weitererzählen sollte. Dabei wich ihr Blick in Richtung Fenster ab, als gäbe es draußen eine wichtige Entdeckung zu machen. Als sie fortfuhr, klang ihre Stimme leiser. „Ihr Tod ließ mich ziemlich kalt. Sie war für mich fast eine Fremde, der ich nur schwer vergeben konnte, dass sie Paps und mich damals einfach verlassen hatte.“
Das konnte Paula durch ihre eigenen Erlebnisse bedingt, gut nachvollziehen. Sie empfand ebenfalls eine Art Gleichgültigkeit ihrem Vater gegenüber. Er hatte sich vor vielen Jahren freiwillig aus ihrem Leben verabschiedet und sie würde ihm nicht mehr ohne weiteres gestatten, dorthin zurückzukehren. Vergebung war ein schwieriges Thema. Paula wurde klar, dass neben ihr eine Leidensgefährtin saß. Sie entdeckte in Annes Leben immer mehr Parallelen zu ihrem eigenen und fühlte sich allein schon deshalb zu ihr hingezogen. Konnte es sein, dass sie in diesem einsamen Bergdorf endlich eine Freundin finden würde?
Annes nächste Worte holten sie allerdings erst einmal auf den Erdboden zurück. „An die beiden Jahre, die dann kamen, denke ich nur ungern zurück. Ich war völlig abgedreht, wollte von dem ganzen Dorfrummel nichts mehr wissen und verschaffte meinem Vater einige graue Haare. Meine Träume platzen, als ich schwanger wurde. Ich hatte wirklich gedacht, diesen Mann zu lieben. Er war leider verheiratet und wollte nichts daran ändern. Ich schaffte gerade noch mein Abitur. Weil ich nicht wusste, was ich anderes hätte tun sollen, kehrte ich heim und bekam meine Tochter. Ledige Mütter stehen in dieser Gegend allerdings nicht gerade hoch im Kurs.“
Anne schloss mit bitterer Miene. Kurz sah es so aus, als wolle sie noch mehr zu diesem Thema sagen, sie öffnete sogar den Mund, aber dann schluckte sie bloß, drehte sich um und sah Paula an. „Na, was hältst du davon? Bist du jetzt geschockt?“
„Ich denke, du hast es nicht einfach gehabt.“ Paula versuchte möglichst gelassen auszusehen, obwohl ihre heilen Weltvorstellungen, zumindest was die Bergwelt anbelangte, gerade einen Sprung bekommen hatten.
„Das stimmt. Trotzdem würde ich Nicole für nichts in der Welt eintauschen.“ Anne klang beinahe trotzig. „Das war vor fast vierzehn Jahren. Irgendwann überredete mich mein Vater dazu, einen Beruf zu erlernen. Also ging ich nach Tübingen zur Hebammenschule. Es war immer mein Wunschtraum gewesen, als Hebamme zu arbeiten. Ich hatte Paps schon bei einigen Geburten assistiert und selbst ein Kind entbunden. Mein Vater und Tante Lieselotte kümmerten sich während meiner Abwesenheit um Nicole. Nachdem ich endlich meine Prüfung in der Tasche hatte, kam ich zurück. Die meiste Zeit wohne ich nun hier. Allerdings wurden in den letzten Jahren in Lämmerbach nicht gerade viele Kinder geboren und so arbeite ich nebenher als Aushilfshebamme im Kreiskrankenhaus. Ich mache Krankheits- und Urlaubsvertretungen. Damit verdiene ich den Lebensunterhalt für mich und meine Tochter. Außerdem spiele ich Sprechstundenhilfe und Assistentin für meinen Vater.“
„Oder eben Lehrerin“, ergänzte Paula.
„Und Schriftführerin im Kirchengemeinderat und im Gemeinderat und noch ein paar andere attraktive Jobs.“ Anne atmete erleichtert aus. „So, das ist in ungefähr meine Lebensgeschichte, mehr Leichen habe ich nicht im Keller.“
„Was ist aus deinem Bruder geworden?“, fragte Paula. Die Frage war ihr herausgerutscht, bevor sie recht darüber nachgedacht hatte und ihr im gleichen Moment peinlich. Anne dachte jetzt vielleicht, sie wäre neugierig. „Du musst das natürlich nicht beantworten“, ergänzte sie sofort und versuchte zu erklären: „Es ist nur so, dass ich mich mit meinem eigenen Bruder gerade schwertue. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee war, ihn mitzubringen. Aber mir fiel nichts Besseres ein.“
„Keine Bange. Frag nur. Ich sag dir dann ehrlich, wenn ich über etwas nicht reden möchte. Ich schätze Offenheit.“
„Ich auch“, stimmte Paula zu.
„Gut, dann hätte ich gleich was. Warum hast du dich ausgerechnet nach Lämmerbach beworben? Ich habe deine Abschlusszeugnisse gesehen. Mit diesen Noten könntest du nahezu überall einen Job bekommen und mir ist klar, dass dies hier kein sonderlich begehrter Arbeitsplatz ist.“
Paula überlegte kurz, wie viel sie von sich preisgeben sollte. Aber Anne war ehrlich zu ihr gewesen, da mochte sie nicht dahinter zurückstehen. „Es gibt eine ganz einfache Erklärung dazu. Ich wollte so schnell wie möglich von meiner Stelle weg. Es gab da eine unangenehme Geschichte mit einem Kollegen.“ Und dann sprudelte es förmlich aus ihr heraus. Sie erzählte von Jörg, ihrer aktuellen Familiensituation und dem Studium. Sie verheimlichte allerdings die Todesursache ihrer Mutter. Außerdem ließ sie von Hannes und seinem Scheitern im Internat nur das Nötigste durchblicken. Hier im Ort hielt man sicher nicht viel von Drogen und Kleinkriminellen. Außerdem wollte sie ihrem Bruder damit die Chance geben, neu anzufangen, ohne dass jemand um seine einschlägige Vergangenheit wusste.
Anne hatte schweigend und mit verständnisvoller Miene zugehört. „Du hast vorhin nach meinem Bruder gefragt“, sagte sie, als Paula ihre Lebensbeichte beendet hatte. „Das ist ein schwieriges Thema. Daniel ging weg, nachdem ich als Hebamme angefangen habe. Er machte sein Abitur, studierte und ließ ein paar verwundete Herzen zurück. Mein Bruder hatte leider schon von klein auf den Hang zum Bergcasanova. Er wusste, wie man Omas um den kleinen Finger wickelte und erbettelte sich von ihnen Süßigkeiten. Später, als die Frauen dann jünger und er älter wurde und es nicht mehr um Süßigkeiten ging, mehrte sich der Unmut. Die wenigsten Männer und Väter waren über seinen Wegzug wirklich unglücklich. Nur Paps stellte sich allen Gerüchten gegenüber taub. Seither hofft er unbeirrbar, dass Daniel irgendwann als sein Nachfolger nach Lämmerbach zurückkehrt und alles gut wird, die moderne Variante der Geschichte vom verlorenen Sohn sozusagen. Inzwischen ist mein Vater allerdings siebzig und müsste seinen Beruf längst an den Nagel hängen. Er hat Rheumatismus und auf eine der Almen schafft er es schon lange nicht mehr.“ Eine neue Pause entstand. Anne knetete dabei eifrig ihre Hände. Das Thema ging ihr sichtlich an die Nerven. „Mein Bruderherz kommt zwar hin und wieder zu Besuch, aber seine Freundinnen passen nicht in dieses Tal. Inzwischen ist er 29, arbeitet in einem großen Krankenhaus, möchte vor allem viel Geld verdienen und Karriere machen. Das deckt sich nicht gerade mit Lämmerbach. Paps bricht es zwar fast das Herz, aber er weigert sich stur, seinen Traum aufzugeben.“
Paula schaute sie betroffen an. Annes Bitterkeit war unüberhörbar. Sie tat ihr unwillkürlich leid. Aber Mitleid war offensichtlich das letzte, was diese wollte. Sie schüttelte energisch den Kopf und sagte: „Na ja, vielleicht finden wir irgendwann einen anderen Arzt. Lämmerbach scheint mir das reinste Eldorado für Mediziner. Du entdeckst hier Krankheiten, die anderswo längst ausgestorben sind. Die Leute gehen nämlich erst dann zum Doktor, wenn keine Hausmittel mehr helfen oder sich die Symptome nicht länger ignorieren lassen.“ Anne gab sich betont zuversichtlich und grinste tapfer. „Wir freuen uns auf alle Fälle, dass du als Lehrerin hier bist und für frisches Blut in unseren Reihen sorgst.“
„Ich hoffe, man erwartet nicht, dass ich demnächst heirate und die Bewohnerzahl aktiv beeinflusse.“ Paula schaffte es, auf den leichten Tonfall einzugehen. Offensichtlich kehrte auch ihr Sinn für Ironie wieder zurück. Sie hatte zwischenzeitlich befürchtet, er wäre, durch die Hiobsbotschaften am Morgen bedingt, über den Pass geflüchtet.
„Dagegen hätte sicher niemand etwas einzuwenden, allerdings solltest du dir deinen Mann dann schon selbst besorgen. Es gibt momentan nur einen heiratsfähigen Junggesellen und der ist knapp vierzig, lebt bei seiner Mutter und hat einen IQ von achtzig, bestenfalls. Aber wenn du nicht wählerisch bist. Melken und Holzfällen kann er wie kein zweiter…“
Paula winkte ab: „Vielen Dank, aber mein aktueller Männerbedarf ist mit meinem Bruder ausreichend gedeckt.“ Auf weitere Jörgs in ihrem Leben verzichtete sie freiwillig.
In diesem Moment sprang Anne erschrocken hoch. „Du liebe Zeit, es ist bereits kurz vor zwölf. Jetzt haben wir doch tatsächlich den halben Vormittag verschwatzt. Schnell, wir müssen los, Tante Lieselotte legt großen Wert auf Pünktlichkeit.“
Es gelang ihnen zwar den schlecht aufgelegten Hannes aus dem Bett, aber nicht weiter als bis zu Paulas Computer zu schaffen. Dort ließ er sich mit einer weiteren Tüte Chips nieder.
„Gesunde Ernährungsweise, muss ich schon sagen“, kommentierte Anne.
Hannes gab nur ein tiefes Brummen von sich, das entfernt an einen gereizten Bären erinnerte, den man aus seinem Winterschlaf geweckt hatte.