Читать книгу Bergdorf sucht... Lehrerin - Josie Hallbach - Страница 7
Kapitel 4:
ОглавлениеAm Montag, den 23. August morgens um acht ging es los. Ihr alter Golf war bis oben hin vollgestopft, vollgetankt und generalüberholt. Die Besorgnis der letzten Nacht hatte sich leider nicht in Luft aufgelöst. In Paula kribbelte die Nervosität wie ein Haufen Ameisen auf Beutezug. Aber sie wollte Hannes nichts davon merken lassen. Deshalb machte sie einen auf betont optimistisch. Sie sagte nicht einmal etwas zu seiner neuen Frisur, die aussah, als ob man den Lehrling zum ersten Mal auf einen Kunden losgelassen hätte. Lange und kurze Haare bildeten ausgefranste Koalitionen. Mit Gel hatte er dazuhin ein paar wahllose Strähnen nach oben betoniert. Löchrige Jeans, samt einem Shirt mit Totenkopf vervollkommneten sein Outfit. Den guten Ersteindruck konnten sie abschreiben.
Die dreihundert Kilometer auf der Autobahn lief zum Glück alles wie am Schnürchen. Von der Beifahrerseite kamen entweder Schnarch-Geräusche oder monotone Bassläufe aus dem MP3-Player.
Die Kilometer danach, durch unzählige Dörfer, waren da schon zäher. Aber die immer höher werdenden Gipfel sahen echt imposant aus. So nah war sie den Bergen noch nie gekommen, zumindest als Autofahrerin.
Nach einer kurzen Rast standen sie schließlich vor dem ersten wirklichen Problem. Die Anfahrtsbeschreibung, die ihr mit der Zusage auf ihre Bewerbung geschickt worden war, endete in einem Ort, der Lammfeld hieß. Weit und breit war kein weiteres Dorf zu sehen. Sie hatte auch auf keiner Straßenkarte ein wie auch immer geartetes „Lämmerbach“ entdecken können. Aber das teilte sie Hannes vorsichtshalber erst zu diesem Zeitpunkt mit. Sein Google Earth-Gespött mit dem weißen Flecken auf der Landkarte klang ihr noch unangenehm im Ohr.
„So sieht also das Ende der Zivilisation aus“, sagte er daraufhin und versagte jegliche Mitarbeit, indem er die Augen schloss und sich mit verschränkten Armen in seinen Autositz zurücklehnte.
Eine ältere Frau in einer blumigen Kittelschürze, die mit ihrem Besen am Straßenrand herumhantierte, erwies sich als hilfreicher. Sie kicherte auf Paulas Nachfrage. „Wo denkens hin? Lämmerbach en Ortsteil von Lammfeld. Nie im Leben. Gott sei‘s gedankt.“
Dies war Paulas Erstkontakt mit dem hiesigen Dialekt und außerdem nicht die Auskunft, die sie erwartet hatte.
Die Einheimische beugte sich trotzdem neugierig ins Autoinnere. „San Sie etwa die Lehrerin?“ Fast hätte man meinen können, ihr Tonfall bekäme einen mitleidigen Anstrich. Aber vielleicht reagierte Paula in diesem Punkt auch übersensibel. Die ungewohnte Aussprache kostete sie ohnehin reichlich Mühe, überhaupt etwas zu verstehen.
„Woher wissen Sie das?“, erkundigte sie sich höflich, nachdem sie die Überraschung halbwegs verdaut hatte.
„Ha. Des weiß jeder hier. Lämmerbach is schließlich unser Nachbargmeinde. Zu unserm großn Leidwesn“, fügte die Alte hinzu und bekreuzigte sich schnell. Plötzlich ließ sie den Besen fahren, griff durch das geöffnete Seitenfenster und packte Paula bei der Schulter. Diese derb schüttelnd, zischte sie: „Noch könnens umdrehn, junge Frau. Hörens?“
Hannes öffnete bei dieser Attacke tatsächlich die Augen und wirkte allein dadurch merklich wacher.
„Und warum sollte ich das tun?“ Paula versuchte die Krallenhand so dezent wie möglich von ihrer Schulter zu streifen. Hatten sie es hier etwa mit einer geistig Verwirrten zu tun?
„Weil dort Leib und Seel in Gefahr sin.“
Hannes hatte so viel von dem Gespräch verstanden, dass seine Neugierde geweckt worden war. Er sagte zu Paula gewandt: „Klingt vernünftig, findest du nicht?“ Dann beugte er sich ein Stückchen an ihr vorbei, um die Sprecherin direkt in Augenschein zu nehmen. „Und was geht in diesem Lämmerbach denn so krass ab?“
Die Angesprochene fühlte sich geschmeichelt und kam der Informationsbitte ohne zu zögern nach. „Sie habet offensichtlich keu Ahnung. Anders kann ich mir net erklärn, warum Sie hier sin. Kein Mensch betritt freiwillig des Tal von dene Ketzer. Do drübn gehts scho lang nimmer mit rechte Dinge zu.“ Es folgte ein eigentümlich prüfender Blick. Aber wenigstens fuchtelte die Hand nicht mehr ihm Innenraum herum oder wurde übergriffig. „Lassens sich warnen. Niemand kann einen dort schützn und dabei herrschn teilweis Zuständ wie in Sodom und Gomorrha. Vielleicht fällt ja bald Feuer vom Himmel und vernichtet allesamt.“, beendete sie ihren Monolog und schlug erneut ein Kreuz vor ihrer Brust.
Paula mutmaßte inzwischen, dass diese debile Dorfbewohnerin normalerweise unter strengem Gewahrsam ihren Lebensabend verbrachte. Trotzdem hatte sie einiges zu verdauen. Geistesgestört hin oder her. Warum behauptet jemand solche schrecklichen Dinge? Sie musste schauen, dass sie hier wegkam, bevor Hannes eine Revolution probte. Er sah schon ganz danach aus. Deshalb kämpfte sie sich zu einem mühsamen Lächeln durch und meinte: „Von dem allem können wir uns ja bald selbst überzeugen. Ich müsste nur wissen, wie ich jetzt weiterfahren soll.“ Energisch griff sie ans Lenkrad, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen.
Die alte Frau wirkte von dieser Reaktion sichtlich enttäuscht. „Jo mei, no rennens halt in ihr Unglück, wenn Se sich absolut nix sagn lassn wolln… Der einzige Weg nach Lämmerbach führt übern Pass.“
„Über welchen Pass?“ Paula fürchtete, etwas falsch verstanden zu haben, aber als Antwort bekam sie nur ein stures Nicken. Als sie immer noch nicht begriff, zeigte die Hand der selbsternannten Prophetin nach Südwesten. Das Einzige was man in dieser Richtung erkennen konnte, war ein gewaltiger Berg, steil, felsig, unbewohnt und wenig einladend. „Und wo ist die Straße?“
„Sie fahret bis zum Ortsend, da befindet sich en großer Bretterzaun. An dem links und immer em Weg folgn. Pfiad euch Gott. Der is ohnehin der Einzige, der Ihnen noch helfn kann.“ Die kauzige Einheimische schlug ein letztes Kreuz, dieses Mal auf Paulas Stirn, bevor sie mitsamt ihrem Besen eilig in einem der Vorgärten verschwand.
„Du meine Güte, war die durchgeknallt“, stellte Hannes beeindruckt fest, als seine Schwester nach einem nervösen Fehlstart den richtigen Gang gefunden hatte und sich durch den Rest des Ortes vorarbeitete. „Vielleicht sind hier ja alle so.“
Sie verschwieg besser, was sie dachte und hoffte, dass Hannes von ihren Überlegungen nichts ahnte. Auf was hatte sie sich da bloß eingelassen?
Der Zaun war schnell entdeckt. Ein kleiner Pfeil mit dem Hinweis „Lämmerbach, 15 km“ wies den Weg. Die fünfzehn Kilometer konnten allerdings nur ein Irrtum sein. Dazu entpuppte sich die Straße bestenfalls als Feldweg.
„Stimmt es etwa doch, dass die Erde eine Scheibe ist und man durch einen großen Bretterzaun am Runterfallen gehindert wird? Ich hielt dieses Weltbild seit dem Mittelalter für überholt“, kommentierte ihr Beisitzer, erwartete aber keine Antwort, sondern zog, zum Zeichen der Ruhebedürftigkeit, die Kapuze seines Shirts über den frisurtechnisch verunstalteten Kopf.
Kaum hatte Paula das Auto auf die holprige, enge Straße gelenkt, endete allerdings seine gespielte Gelassenheit. „Hey, pass doch auf“, brummte er genervt, nachdem er ein paarmal durchgeschüttelt worden war und öffnete widerwillig die Augen. Den Rest der Fahrt blieben diese weit offen.
Nach ungefähr einem Kilometer begann sich der Weg in Serpentinen den Berg hoch zu winden und wurde, falls das überhaupt möglich war, noch schmaler. Dazu wies er reichlich Schlaglöcher auf. Das konnte doch unmöglich eine reguläre Straße für Autos sein. Paula hatte Mühe, die nächsten Kurven in einem Schwung zu nehmen und musste notgedrungen zurücksetzen.
„Eine kurze Frage.“ Hannes klemmte inzwischen knapp hinter der Windschutzscheibe. „Was machst du eigentlich, wenn hier Gegenverkehr kommt?“
„Vielleicht ist das eine Einbahnstraße?“, wagte die Chauffeurin zu hoffen.
Hannes schüttelte mitleidig den Kopf. Als ihnen auf halber Höhe ein Motorroller entgegenbrummte, erübrigte sich diese Frage sowieso.
Der Abgrund hinter jeder Kehre wurde tiefer und das flaue Gefühl in Paulas Magen wuchs. Sie war keine routinierte Autofahrerin und in den letzten Jahren selten dazu gekommen, in der Gegend herumzufahren. Diese Straße übertraf alle Alpträume, die sie je in Bezug auf den Straßenverkehr gehabt hatte. Nicht einmal eine Leitplanke hinderte den freien Blick in den Abgrund. An manchen Stellen war lediglich ein dicker Draht gespannt, der wohl als psychologische Begrenzung dienen sollte.
„Was ist eigentlich Sodom und das andere Wort Camorra oder so. Eine Geheimorganisation?“, fragte Hannes plötzlich.
Paula hatte zwar genug mit dem Autofahren zu tun und keinen Kopf, um sich auf heikle Fragen zu konzentrieren, aber etwas theologische Bildung konnte bei ihrem Bruder kaum schaden. Außerdem war er selten so gesprächig. „Sodom und Gomorrha heißt das. Es waren zwei Städte im Alten Testament. Sie wurden von Gott durch Feuer vernichtet.“
„Warum?“
„Sie lebten nicht nach Gottes Willen.“ Diese Antwort war äußerst unpräzise, aber mit einem Abgrund von mehreren hundert Metern vor Augen, fühlte sich Paula einer Diskussion zum Thema sexuelle Perversion einfach nicht gewachsen. Vermutlich hätte sie die auf der Ebene zwar genauso wenig heil überstanden, doch glücklicherweise fragte Hannes nicht weiter.
Fünf Minuten später, auf der Spitze des Berges, machten sie Halt. Eine Ausbuchtung ermöglichte das gefahrenfreie Abstellen des Autos. Mit wackeligen Knien stieg Paula aus und atmete erst einmal tief durch. Den ersten Teil des Passes hatten sie überlebt. Jetzt musste sie nur wieder auf der anderen Seite hinunter. Schlimmer konnte es kaum mehr werden. Von spätsommerlichen Temperaturen war hier oben leider keine Rede mehr. Der Wind zerrte an ihrer Bluse, zerzauste in Nullkommanix ihre Kurzhaarfrisur und ließ sie bis auf die Knochen frösteln.
Sie widerstand dem Wunsch, ins Auto zurück zu flüchten. Ihre volle Blase würde garantiert keine weiteren Schlaglöcher mehr durchstehen und ob sie in der nächsten Stunde in die Nähe einer Toilette kamen, war fraglich.
Hier oben gab es leider keine Bäume, nur nackte Felsen und ein paar Flechten und Gräser, die sich überlebenswillig bei diesem unwirtlichen Klima an die Hänge klammerten. Die Wolken hingen zudem so tief, dass keine Weitblicke möglich waren. Fast schien es, als habe der Rest der Welt aufgehört zu existieren. Wenn man mit dem Auto auf dieser Straße liegenblieb, durfte man mit keiner schnellen Hilfe rechnen.
Hinter einem Sichtschutz-Steinhaufen kauerte sich Paula schließlich nieder, versuchte auf dem abschüssigen Gelände Bodenhaftung zu behalten und gleichzeitig gegen den Wind anzupinkeln. Nicht, dass sie in dieser einsamen Gegend mit Voyeuren gerechnet hätte, schlimmstenfalls tauchte vielleicht ein Murmeltier oder eine Bergziege auf. Und von Hannes ging auch keine Spanner-Gefahr aus. Der hatte sich hinter seinen MP3-Player verkrochen und spielte mal wieder den Unbeteiligten.
Trotzdem war sie erleichtert, diese Aktion unbeschadet überstanden zu haben. Mit entspannter Blase fühlte man sich gleich deutlich besser. Sie wagte sich sogar um die nächste Ecke und dort todesmutig bis an die Kante vor, um einen ersten Blick auf ihre zukünftige Heimat werfen zu können. Auf der Südseite des Kammes waberte die Wolkenwand weniger dicht und ließ Gucklöcher frei.
Unter ihr öffnete sich ein grünes Tal. Umrahmt von hohen Bergwipfeln wirkte es fast, als wäre dieser Ort vor tausenden von Jahren einfach dort vergessen worden. Waren es die Bemerkungen der verrückten Frau gewesen oder die letzten Kilometer Fahrt? Paula bekam plötzlich Beklemmungsgefühle.
In genau diesem Augenblick stahl sich jedoch ein einziger Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und zog einen hellen Streifen mitten durch diesen abgelegenen Winkel. Es verlieh diesem Anblick etwas Verwunschenes, Unwirkliches, so als wäre es ein Bild aus einem Fantasyfilm, bei dem jeden Moment magische Gestalten auftauchen konnten. In Paulas Vorstellung sah es allerdings aus, als würde Gott mit seinem Finger auf dieses Tal zeigen und sie hielt unwillkürlich den Atem an.
Direkt unten in der Senke konnte man eine kleine Ansammlung von vielleicht fünfzig Häusern ausmachen, die den Dorfkern bildeten, die meisten davon aus grauem Stein erbaut und selbst aus der Ferne betrachtet ziemlich baufällig. Die dominante Kirche am Ortsrand war ebenfalls gut erkennbar. An den Hängen der umliegenden Berge waren verstreut weitere Stein- oder Holzhäuser zu entdecken, offensichtlich bewirtschaftete Almen, erkennbar an den vielen Punkten auf den grünen Wiesen, die sich bei genauerer Betrachtung sicher als Kühe oder Schafe entpuppen würden. Ein kleines Gewässer bahnte sich seinen Weg von dem höchsten Gipfel herunter und vereinigte sich mit ein paar weiteren Rinnsalen zu einem größeren Bachlauf, der dann aufgestaut und verbreitert in der Nähe des Dorfkerns vorbeifloss.
Beeindruckt kehrte Paula zu ihrem Bruder zurück, um ihn auf dieses besondere Bild aufmerksam zu machen. Aber Hannes war zu sehr damit beschäftigt, eine SMS zu verschicken, als dass er einen Blick auf seine künftige Umgebung hätte investieren mögen. Er murmelte nur unwillig: „Ich weiß wie Bäume und Gras aussehen, vielen Dank.“
Nachdem die Sonne wieder hinter den Wolken verschwunden war und alles nun einheitlich trist und leider wenig einladend aussah, kletterte Paula durchgefroren ins Auto zurück. Ein letzter Blick zurück in die Zivilisation, dann begab sie sich mit einem Stoßgebet auf die Fahrt ins Tal und hoffte, dass ihre Bremsen durchhielten.
„Hurra, es scheint immerhin Strom zu geben.“, verkündete ihr Bruder nach den ersten beiden Kehren, als er der wenig dekorativen Strommasten ansichtig wurde, die sich durch das ganze Gelände zogen und wenig Idylle aufkommen ließen. Die grauen Holzpfähle mit den darüber gespannten dicken Leitungen wirkten wie Fremdkörper in der Landschaft.
Nach drei weiteren Kurven wurde vom Beifahrersitz jedoch ein unterdrückter Fluch abgeschickt. „Sch…Das darf ja wohl nicht wahr sein. Ich habe keinen Empfang mehr.“ Er starrte wie hypnotisiert auf sein Handy. Aber alles Klopfen, Schütteln und aus dem Fenster halten nützte nichts.
Eine halbe Stunde später erreichten sie immer noch mobilnetzlos die ersten Häuser von Lämmerbach. Ersatzweise empfing sie dafür Kuhstallgeruch und eine bunte Menschenmenge, die die Dorfstraße versperrte.