Читать книгу Bergdorf sucht... Lehrerin - Josie Hallbach - Страница 6
Kapitel 3:
ОглавлениеIn den kommenden Wochen bekam Paula immer mal wieder Zweifelanfälle, ob sie tatsächlich das Richtige tat. Bis vor einem viertel Jahr war sie nämlich noch der Überzeugung gewesen, sie hätte einen absoluten Traumjob ergattert. Die Mainzer Realschule besaß einen guten Ruf und das Kollegium hatte sie vor zwei Jahren als Neueinsteigerin herzlich aufgenommen. Außerdem war es ihr über Beziehungen sogar gelungen, eine süße, bezahlbare Wohnung in der Altstadt zu finden, fußläufig zur Arbeitsstelle, jeden Tag am Dom und den hübschen Fachwerkhäusern vorbei. Ihre Schüler mochten sie und sie unterrichtete mit viel Herzblut. Dazu war Mainz eine wirklich gemütliche Stadt, wenn man einmal vom Karneval absah, der die Bevölkerung für ein paar Tage in den Ausnahmezustand versetzte.
Und das alles wollte sie aufgeben wegen einer einzigen dummen Geschichte?
Aber genau an dieser Stelle ihrer Überlegungen kam jedes Mal Hannes ins Spiel. In seinem jungen Leben war schon eine Menge schiefgelaufen. In ihrem natürlich auch, aber die elf Jahre machten eben einen Unterschied.
Begonnen hatte es, als ihr Vater meinte, er müsse seine Karrierechancen nützen und sich im Auftrag seiner Firma nach Portugal versetzen ließ. Von da an tauchte er nur noch als Gast in ihrem Leben auf. Für einen fünfjährigen Jungen war es hart, plötzlich partiell vaterlos zu sein und Mutter hatte als Konsequenz daraus Depressionen bekommen. Sie war mit der Situation hoffnungslos überfordert gewesen, hatte sich aber keine Hilfe geholt, sondern sich immer weiter zurückgezogen. Kurz nach Paulas 18. Geburtstag kam dann der Tiefpunkt und sie setzte ihrem Elend mit einer Überdosis Schlaftabletten ein Ende.
Ein Siebenjähriger sollte seine Mutter nicht morgens tot im Bett vorfinden. Sein hysterisches Geschrei war in der halben Nachbarschaft zu hören gewesen. Der Totenschein hatte zum Glück unverbindlich auf Herzversagen gelautet, weil der herbeigerufene Arzt ihnen zusätzlichen Kummer ersparen wollte.
Hannes war anschließend psychologisch betreut und in ein Internat gesteckt worden, und Paula hatte brav ihr Abitur gemacht. Erst während des Studiums begann sie aus diesem Lebensalptraum zu erwachen. Ihr Vater hatte inzwischen eine Portugiesin geheiratet, mit der er ohnehin seit fünf Jahren liiert war und blieb vor Ort, in einem netten Bungalow an der Algarve. Natürlich durften seine Kinder ihn jederzeit besuchen. Aber nach den ersten zwei Probewochen in den Sommerferien hatten Hannes und sie freiwillig auf weitere Versuche verzichtet.
Dafür gelang es ihrem Bruder in den nächsten Jahren ein recht eigenwilliges Leben zu führen, während sie sich parallel dazu mit voller Kraft auf ihr Studium gestürzt hatte, um es in Rekordzeit zu beenden. Von ihrem Vater durfte sie, außer finanziellen Zuwendungen, mit wenig Unterstützung rechnen. Er entledigte sich kurzerhand seiner erzieherischen Pflichten und übergab die Beaufsichtigung seines Sohnes vertrauensvoll Paulas pädagogischer Kompetenz.
Dadurch blieb der ohnehin klägliche Rest ihres Privatlebens auf der Strecke. Die Tage bestanden aus Vorlesungen, Lernen, Jobben und regelmäßigen Besuchen bei ihrem kleinen Bruder, die allerdings auf wenig Gegenliebe stießen. Studentenpartys, Freundschaften, nächtliche Diskussionen, Flirten und all die Dinge, die normalerweise ein Studentenleben auszeichneten, lernte sie nur aus zweiter Hand kennen. Das Leben ihrer Mitstudenten schien sich in einer anderen Welt abzuspielen, zu der sie keinen Zutritt bekam. Sie war eine Außenseiterin und wurde auch so behandelt. Paula, die stets Vernünftige und Strebsame, von der man sich bestenfalls mal irgendwelche Unterlagen auslieh.
Kaum hatte sie ihr Referendariat beendet, flog Hannes wegen mehrerer Delikte, unter anderem Drogenkonsums, vor einem halben Jahr hochkant aus dem Internat. Sie holte ihn zu sich und meldete ihn als Schüler in ihrer Arbeitsstätte an. Hannes zeigte sich dafür jedoch keineswegs dankbar. Im Prinzip zeigte er sich überhaupt nicht. Nur zu bald gingen ihr die Entschuldigungen aus. Alle Versuche, Kontakt zu ihm aufzubauen, prallten wie an einer Wand ab. Deshalb musste sie dringend von hier weg.
Am letzten Schultag schenkte ihr Julia zwei Heimatromane. Einen unter der Rubrik „Der Bergdoktor-Teil 3“. Der andere trug den Titel „Alpenglühen – Die Sennerin vom Silberwald.“ Auf den Titelbildern waren fotogene, glückliche Menschen in Trachtenmode zu erkennen, außer dem attraktiven Bergdoktor natürlich. Der trug einen weißen Kittel und das unvermeidliche Stethoskop um den Hals.
„Ein bisschen Insiderwissen kann nicht schaden. Zum Lokalkolorit schnuppern. Das ist sicher fast so gut wie ein Reiseführer. Alles Gute.“ Ein paar Umarmungen, ein Blumenstrauß von den Kollegen und vorbei war es.
Die restlichen Wochen vergingen mit dem Ausräumen und Renovieren der Wohnung. Hannes verlegte sich sogar aufs Mithelfen. Allerdings hatte sich seine Redseligkeit mit dem einen Abend gründlich erschöpft. So kam Paula wieder vermehrt in den Genuss seines Schweigens, wenn er nicht gerade ihren PC blockierte, um im Internet zu surfen, zu chatten oder sich irgendwelchen Ballerspielen hinzugeben. Aber wenigstens boykottierte er nicht mehr die Abreise. Offensichtlich legte er keinen Wert auf weitere Besuche.
Einen Teil ihrer Möbel verkauften sie bei Ebay, ein anderer Teil blieb für die Nachmieterin in der Wohnung zurück. Lediglich ein paar kleinere Stücke, die in den zur Ladefläche umfunktionierten Rückraum ihres Golfs passten, sollten mit ihnen die Reise nach Lämmerbach antreten.
In der letzten Nacht vor ihrer Abfahrt überfiel Paula ein Alptraum. Sie sah sich an einem Abgrund stehen, unter ihr die totale Leere. Sie hatte Todesangst. Plötzlich tauchte Jörg neben ihr auf. Er blickte sie abschätzend an, lachte höhnisch und meinte: „Du traust dich ja eh nicht. Du bist nichts weiter als eine verklemmte, graue Maus.“
Der Schmerz über diese Worte war plötzlich größer als ihre Angst. Ohne weiter nachzudenken nahm sie Anlauf und sprang. Das Letzte, was sie wahrnahm, war etwas Rotes, das mit rasender Geschwindigkeit auf sie zukam.
Paula erwachte schweißgebadet und wusste, dass dieser Traum mehr gewesen war als ein bloßes Hirngespinst. Er hatte etwas Prophetisches gehabt und war Ausdruck ihrer momentanen Situation.