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Kapitel 1:

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In Tannhauers Laden traf man sich zum samstagvormittäglichen Plausch. Der Ladeninhaber hatte, als die Bürgermeistersfrau und Tante Lieselotte nahezu zeitgleich zur Tür hereinströmten, unter einem Vorwand die Flucht ergriffen und das Feld seiner Frau überlassen.

Während jede der beiden Damen die notwendigen Lebensmittel zusammensuchte, blieb genug Gelegenheit, die wichtigsten Informationen auszutauschen. Deshalb benötigte man in Lämmerbach auch kein Mitteilungsblatt.

Georg und Josepha verbrachten die Pfingstferien bei Frau Baums Schwester in Innsbruck und würden am Samstag wieder heimkehren. Frau Vollmer war es wegen der nasskalten Witterung ins Kreuz gefahren. Der Büchler Robert hatte seit einer Woche Zahnschmerzen. Pfarrer Ebershäuser dachte über eine Kirchenrenovierung nach und Frau Tannhauer machte sich Sorgen, ob ihre Friedel die Abschlussprüfung schaffen würde, und das obwohl ihre Tochter in den letzten Tagen sogar Nachhilfe von Peter Schaup bekam.

Dann erörterte man natürlich das wundersame Zusammenfinden von Phillip Teichmann und Anne Martin.

„Ich freu mich natürlich für die Anne, aber eigentlich hab ich immer denkt, der Herr Teichmann wär was für unser Fräulein Müller“, meinte Tante Lieselotte etwas enttäuscht. „So a nettes Mädel sollt net allein bleibn.“

„Jaja, wo die Lieb hinfällt... Aber wer weiß, wenn a paar junge Lehrer mit dem Internat mitkommn. Vielleicht is da einer für sie dabei. Es wär sicher gut, wenn unser Fräulein Lehrerin bald unter die Haub kommn tät.“ Frau Baum sah das ganze praktischer. „Bsonders nach der Gschichte mit dem Dani.“

„Aber da is doch gar nix passiert“, mischte sich Frau Tannhauer ein, die offensichtlich mit dem Zusammenzählen der Preise nicht völlig ausgelastet war.

„Natürlich net, Elvira“, beschwichtigte Tante Lieselotte.

„Ich hoff halt bloß, dass irgendwann wieder normale Zuständ im Doktorhaus einkehrn. Des mit dene Leipold-Kinder und der Nicole geht auf Dauer net gut. Die Christine kann einem echt leid tun. Erst hat se die Mutter verlorn und jetzt sitzt der Vater im Gfängnis und die Heimat musst se wegn dem Bau vom Internat auch aufgebn.“ Sie seufzte mitleidig und wischte als Legitimation für die illegale Plauderstunde ein paar Staubflocken von den Regalen.

„Ja, und dann schwänzelt auch noch der Bruder von der Lehrerin dauernd um se rum. Was die an dem Kerl findet, versteh ein Mensch. Ich könnt euch Gschichtn über den erzähln…“ Frau Baum erkannte, dass sie in ihrem Mitteilungsbedürfnis wohl etwas zu weit gegangen war und schlug sich erschrocken mit der flachen Hand auf den Mund.

Aber da war die Neugier der anderen schon geweckt. Frau Tannhauer hörte abrupt mit dem Wischen auf und Tante Lieselotte stellte ihr neu erworbenes Hörgerät lauter. Dann beugten sich alle vereint über die Verkaufstheke und warteten auf den Bericht der Bürgermeistersfrau. Diese erzählte nach langem Herumdrucksen von der Drogeneskapade beim Herbstfest und dass Hannes sogar ihren Georg da mit reingezogen hätte.

Ein kollektiver, entsetzter Aufschrei war die Antwort ihrer Zuhörerinnen.

„Aber gell, dass ihr mir des ja net weitererzählt. Des muss unter uns bleibn. Mein Edwin wird sonst fuchsteufelswild und des schadet seim ohnehin schon hohn Blutdruck.“

„Von uns erfährt niemand was“, beteuerten die anderen wie aus einem Mund, wobei Tante Lieselotte gleichzeitig überlegte, ob sie es nicht vorher als Beichtgeheimnis dem Pfarrer mitteilen sollte. Es war sicher kein Fehler, für die schwarze Seele des jugendlichen Straftäters kompetent beten zu lassen. Und Frau Tannhauer nahm sich vor, ihre Tochter in Zukunft von dem Bruder der Lehrerin fernzuhalten. Sie würde die zwei nie mehr allein im Laden zurücklassen.

„Vielleicht is des erst der Anfang“, murmelte Frau Baum düster, jetzt wo ihr die Aufmerksamkeit der anderen sicher war. „Wenn des Internat kommt, werdn mir alle unser blaues Wunder erlebn.“

Die Ladenbesitzerin strich ihr ohnehin gestrafftes Haar noch etwas glatter an den Kopf, rückte ihr Schürze gerade, nahm ihren ganzen Mut zusammen und sagte: „Nix für ungut, Hilde, aber ich find a bissel mehr Lebn könnt unser Ort ganz gut vertragn. Des sagt mein Helmut auch immer.“

Frau Baum war Widerspruch normalerweise nicht gewohnt, deshalb blickte sie im ersten Moment etwas erstaunt drein, dann schnaubte sie verächtlich. „Du meinst wohl Umsatz für eurn Ladn. Wenn da plötzlich fünfzig Leut mehr einkaufn, kann des euch nur Recht sei.“

„Es kann uns alle Recht sei. Wir müssn an unser Zukunft denkn“, schloss sich Tante Lieselotte Frau Tannhauer an. „Unser Doktor Martin hat all die Jahr dafür betet, dass sich was ändert und jetzt wo’s so weit is, solltn ma dankbar sei und net rumstänkern. Den Fortschritt kann ma net aufhaltn. Ich trau Gott auf alle Fälle zu, dass er was Guts draus macht.“

Frau Baum hatte es mit einem Mal eilig nach Hause zu kommen. Ihre offizielle Erklärung lautete, dass ihr Edwin um Punkt Zwölf seinen Braten auf dem Tisch haben müsse.


Kaum war die Bürgermeistersfrau unter Beobachtung der andern zwei in Richtung „Roter Baum“ gerauscht, schüttelte Tante Lieselotte nachdenklich den Kopf. „Denkst du, die Hilde weiß mehr als mir?“

„Ach, die macht sich nur gern wichtig. Fraun in de Wechseljahr sind manchmal komisch. Sei froh Lieselotte, dass du des hinter dir hast.“ Doch eigentlich brannte ihr ein völlig anderes Thema auf der Seele. Elvira Tannhauer überlegte gerade, ob sie ihrer älteren Freundin ein Geheimnis anvertrauen sollte. Außer ihnen beiden war im Laden niemand zugegen und sie hatte seit gestern Abend das dringende Bedürfnis mit jemandem zu reden. Zu sehr hatte sie das unerwartete Telefonat erschüttert. Mehrfach hatte sie zwar Helmut gegenüber angesetzt, aber immer war etwas dazwischengekommen, er hatte etwas Wichtiges tun müssen oder Friedel war urplötzlich auf der Bildfläche erschienen. Sollte sie diese Gelegenheit beim Schopfe packen? Lieselotte war zwar manchmal etwas gesprächig, aber die Krämersfrau hatte ihr dennoch schon öfter das Herz ausgeschüttet.

Doch dieses Mal lag die Sache schwieriger. Eigentlich durfte sie gar nicht darüber reden. Sie hatte also keine Ahnung, wie andere auf diese Mitteilung reagieren würden. Und trotzdem war es geschehen und sie war sogar insgeheim dankbar dafür. All die Jahre hatte sie es sich immer gewünscht.

Am Anfang, nachdem sie den Hörer aufgenommen hatte, hatte sie eine ganze Weile gebraucht, um zu begreifen, wer der Anrufer war und was er wollte. „Hallo Mutti, ich bin es, Markus“, hatte er in reinstem Hochdeutsch gesagt. „Ich wollte dir nur mitteilen, dass es mir gut geht.“

Der erste Anruf nach zehn Jahren, einfach so ohne Vorwarnung. Wie oft hatte sie an ihn gedacht, für ihn gebetet, sich wegen ihm in den Schlaf geweint. Aber kein Lebenszeichen hatte ihr Leid gemildert. Monate vergingen, Jahre,… Auch Helmut litt, aber anders als sie, männlicher. Er redete nicht gerne darüber. Nur einmal hatte er ihr gesagt, er glaube, Markus wäre nach Australien ausgewandert, zumindest habe er das bei seinen heimlichen Recherchen herausbekommen. Als Krämersfrau, die Zeit ihres Lebens nie weit aus diesem Tal herausgekommen war, stellte Australien das andere Ende einer Galaxie dar, unerreichbar, gefährlich und unvorstellbar.

Und nun war da plötzlich seine Stimme gewesen, direkt an ihrem Ohr. Sie hatte im ersten Moment gar nicht gewusst, was sie sagen sollte, nur ein trockenes Schluchzen war aus ihrem Mund gekommenen. Da hatte er einfach erzählt. Dass er inzwischen in Frankfurt lebe, einen guten Job und einen Mann fürs Leben gefunden habe, mit dem er nun zusammenwohne.

An dieser Stelle war Elvira Tannhauer das Zuhören schwergefallen, aber sie hatte trotzdem geschwiegen, obwohl ihr eine Menge Dinge auf der Zunge gelegen hatten. Er war und blieb ihr Junge, daran konnte nichts auf der Welt etwas ändern. Es war egal, was die anderen sagten. Sie hatte seit beinahe dreißig Jahren einen Sohn und dieser lebte.

Und dann war er mit einem Vorschlag gekommen. Er wünsche sich zum Geburtstag, seine Familie zu sehen und würde sich freuen, wenn sie alle, seine Eltern und Friedel ihn in Frankfurt in den Weihnachtsferien besuchen kämen. Es gäbe genug Platz in der Wohnung und sein Freund Kai würde sich freuen, endlich seine Angehörigen kennenzulernen.

„Ich weiß net“, hatte da Elvira Tannhauer gestammelt. „Ich muss des erst mal mit em Vatter besprechn und…“

„Lass dir Zeit. Ich habe auch Zeit gebraucht, um alles zu verarbeiten, aber nun bin ich da angekommen, wo ich wollte und habe meinen Platz gefunden.“

Dann fragte er, wie es ihnen ginge, ihr, seinem Vater und Friedel. Die anderen Lämmerbacher erwähnte er nicht. Diesen Teil der Geschichte wollten vermutlich alle gern aus der Erinnerung löschen. Zum Schluss hatte er ihr noch seine Telefonnummer und die Adresse gegeben und sie gebeten, doch mal anzurufen oder zu schreiben. Schließlich hatte er aufgelegt. Es war kein langes Telefonat gewesen, aber es hatte sie bis ins Innerste aufgewühlt. Sie war daraufhin die halbe Nacht wach gelegen, während Helmut neben ihr vor sich hingeschnarcht hatte. Aber er wusste ja auch von nichts. Er hatte abends so müde ausgesehen, dass sie ihn lieber zu Bett gehen ließ. Doch wie würde er auf diese Mitteilung reagieren?

Tante Lieselotte fiel plötzlich ein, dass sie ja vor dem Essen noch unbedingt beim Pfarrer vorbeimüsse, schon wegen der aktuellen Gebetsanliegen und einigen anderen eher praktisch ausgerichteten Dingen. Sie hatte es deshalb eilig mit dem Bezahlen und Elvira Tannhauer beschloss, das Geheimnis noch ein paar Minuten länger für sich zu behalten.

Wenn in der nächsten halben Stunde niemand mehr kam, konnte sie ohnehin den Laden fürs Wochenende schließen. Irgendwann würde sich eine gute Gelegenheit ergeben, Helmut von der Auferstehung seines Sohnes zu erzählen. Aber die Vorstellung, wie sie ihm beibringen sollte, dass Markus mit einem anderen Mann zusammenlebte und dies als völlig normal empfand, ging momentan über ihre Kraft.

Vielleicht war es doch besser, die anderen Lämmerbacher glaubten noch ein bisschen länger an die beruhigende Nichtexistenz von Markus Tannhauer.


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