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Kapitel 3:

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Sie traf Daniel morgens beim Kirchgang wieder. Er setzte sich wie selbstverständlich neben sie. Zur Feier des Tages und als Zeichen ihrer Rebellion gegen angestaubte Strukturen trug sie die rote Bluse, mit der sie bei ihrem ersten Gottesdienst in Lämmerbach wie ein bunter Hund aufgefallen war und dazu offenes Haar, das sich heute Morgen auf wundersame Weise kaum gegen ihre Frisierversuche gesträubt hatte und nicht einmal irgendwelche Haarklemmen benötigte.

Anne und Phillip nahmen an ihrer anderen Seite Platz. Beide zwinkerten ihr verschwörerisch zu. Sie wussten also Bescheid. Sie hoffte bloß, dass Daniel nicht allzu detailliert vom Verlauf des gestrigen Abends berichtet hatte. Allein der Gedanke daran verschaffte ihr schon Hitzewallungen.

„Ich finde, rot steht dir gut, in vielerlei Hinsicht“, flüsterte Daniel in ihr rechtes Ohr. „Hoffentlich legt sich das nicht mit der Zeit. Es wäre jammerschade.“

Ihr blieb nichts anderes übrig, als dämlich vor sich hin zu lächeln. Verliebtheit musste eine Seuche sein. Die ganze Kirchenbank war schon infiziert. Hoffentlich nahm das in nächster Zeit nicht noch peinlichere Ausmaße an.


„Ach ja“, meinte ihr nagelneuer Freund im Anschluss an den Gottesdienst, als er die Lehrerin vor den Blicken sämtlicher Kirchgänger beim Arm nahm und zum Schulhaus begleitete. Dass sich einige Leute dabei fast die Hälse verrenkten, schien ihn nicht zu stören. „Wärst du bereit, mich zum Essen einzuladen?“ Er übte an seinem treuherzigen Augenaufschlag. „Hannes kann ja dafür bei Anne mitessen. Wenn Christine neben ihm sitzt, merkt er ohnehin nicht, was auf dem Teller liegt.“

„Ich fürchte, es ist ein großer Fehler, aber ich werde es trotzdem tun.“

Daniel lächelte wohlgefällig. „Ich könnte dir auch beim Kochen helfen“, schlug er hilfsbereit vor. „Außerdem möchte ich nebenher einige weitere Argumente für unsere Beziehung anbringen.“

Diese bestanden darin, dass, während sie in der Küche stand und Schnitzel anbriet, er von hinten versuchte, ihren Nacken und ihre Ohrläppchen anzuknabbern und ihr Haar in Aufruhr versetzte.

„So wird das nichts“, sagte sie irgendwann in strafendem Ton. Sie sah allmählich aus, als wäre sie in einen Tornado geraten und das Fleisch drohte anzubrennen.

„Also gut, Fräulein Lehrerin, dann warte ich eben damit bis nach dem Essen“, versprach er reumütig und deckte brav den Tisch.


„Was hältst du von einem Spaziergang zum Maiersberg? Ich nage noch an meiner letzten Abfuhr“, schlug er, kaum dass der letzte Bissen genussvoll in seinem Mund verschwunden war, vor.

Paula schaute ihn zweifelnd an. Sie sah im Geiste schon den Unterricht am nächsten Morgen und ihre feixende Schülerschaft.

„Wie schon gesagt, wenn ich erstmal von etwas überzeugt bin…. Übrigens, was ich noch sagen wollte, zu unserem Haushalt gehören inzwischen achtzehn Kühe.“

Sie runzelte unwillkürlich die Stirn. Was sollte nun das schon wieder? „Welche Kühe?“

„Na, die von Leipolds. Die Kühe gehören mehr oder weniger uns, weil sich doch Anne um die Kinder kümmert.“

„Ja und?“ Auf was wollte er hinaus?

„Du hast mir doch nach unserer gemeinsamen Schlittenfahrt gesagt, dass, selbst wenn ich der einzige Mann im Umkreis von hundert Kilometer wäre, keine zehn Kühe dich dazu bringen könnten, eine Beziehung mit mir anzufangen oder so ähnlich. Wären achtzehn genug? Ich würde sie dir bei Bedarf schenken. Ich bin eh nicht gut im Melken und habe bisher bei jedem Wettbewerb einen der hinteren Plätze belegt.“

Paula musste unwillkürlich lachen. Sie hätte nicht gedacht, dass sich Daniel noch an diesen Ausspruch erinnern konnte. Irgendwie waren ihre Zusammentreffen seither in den wenigstens Fällen harmonisch verlaufen. Ob sich das in Zukunft ändern würde?


Sie stiegen eine halbe Stunde später Hand in Hand den Berg hinauf. Paula beobachtete ihren attraktiven Begleiter dabei unauffällig von der Seite. Sie fühlte sich wie in einem Märchen, und dazu noch in der Rolle als Prinzessin. War das der gleiche Daniel, den sie zum ersten Mal auf dem Pass getroffen hatte und der ihr arrogant und oberflächlich erschienen war? Jemand, der sich gern in der Bewunderung schöner Frauen sonnte? Annes Bruder, der sich weigerte, Verantwortung zu übernehmen, bei aufkommenden Schwierigkeiten die Flucht ergriff und in erster Linie auf seinen eigenen Vorteil bedacht war?

Sie glaubte inzwischen einen völlig anderen Menschen neben sich zu haben. Einen Daniel, der immer schon parallel zu dem anderen existiert hatte und der seither nur die meiste Zeit unter einer rauen Oberfläche verborgen gelegen und darauf gewartet hatte, entdeckt zu werden. Einer, den sie als fürsorglichen Arzt schätzen gelernt hatte und den sie unwillkürlich bewunderte. Ein Mann, nach dessen Berührung sie sich sehnte.

Aber konnte das sein? War sie vorher ihm gegenüber bloß blind gewesen oder sah sie ihn jetzt durch ihre Verliebtheit zu idealistisch? Sie schüttelte unwillig den Kopf. Man musste Menschen die Chance geben, sich zu verändern. Es war nicht fair, andere in Schubladen zu stecken. Sie war in diesem Moment auf alle Fälle mehr als bereit, ihre diesbezügliche Einstellung neu zu überdenken. Daniel war keiner, der Wetten auf eine Frau abschloss und sie mit Gewalt in sein Bett zu zerren versuchte. Das hatte er mit Sicherheit nicht nötig.

„An was denkst du gerade?“, fragte ihr Begleiter und schaute sie ein wenig misstrauisch an.

Sie erschrak. Hoffentlich war an ihrem Gesicht nicht zu viel von ihren Gedankengängen abzulesen gewesen. Sie würde ihm natürlich irgendwann von ihren Erfahrungen mit Jörg erzählen, aber nicht jetzt. Jeder Gedanke an ihren Exfreund machte bloß die Stimmung kaputt. So sagte sie nur: „Nichts Besonderes.“ Anschließend verscheuchte sie energisch alle weiteren Überlegungen und rückte zur Bestätigung dichter an ihn heran.

Er legte als Antwort einen Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. „Bist du glücklich?“

„Ja sehr“, bestätigte sie eifrig.


Als sie bei der Waldhütte ankamen, drängte die Erinnerung an die besagte Sturmnacht wieder in ihr hoch. Wenn ihr damals jemand prophezeit hätte, dass sie zwei Monate später mit Daniel befreundet sein würde, wäre es ihr bestenfalls als geschmackloser Scherz erschienen.

Auch er befasste sich offensichtlich mit schwerwiegenden Gedanken, denn er brauchte ganz gegen seine Gewohnheit gleich mehrere Anläufe bis er endlich ansetzte: „Ich habe dich heute Mittag nicht ohne Absicht gefragt, ob wir ausgerechnet hierher gehen können. Ich möchte dir nämlich etwas gestehen.“

Paula dachte komischerweise an Petra Maier. Warum wusste sie selbst nicht genau. Vielleicht weil ihr diese Sache einfach nicht mehr aus dem Kopf ging. Ob ihr Daniel jetzt seine tragische Lovestory mit der damals siebzehnjährigen Industriellentochter beichten wollte? Genau an der Stelle, an der das Unglück vor zehn Jahren geschehen war?

„Setz dich!“ Er klopfte einladend neben sich auf die morsche Holzstufe vor der Hütte, auf der er gerade selbst Platz genommen hatte. „Ich möchte dir nämlich eine ziemlich ungewöhnliche Liebesgeschichte erzählen. Sie handelt von einem jungen Arzt und einer kleinen, dunkelhaarigen Dorflehrerin.“

Paula wurde automatisch warm ums Herz. Petra Maier verschwand in den Tiefen des Waldes. Warum sollte sie Hirngespinsten nachhängen, wenn neben ihr das Leben verheißungsvoll pulsierte.

„Du wirst es kaum glauben“, begann ihr Freund. „Aber hier oben habe ich begriffen, dass ich dich mag. Doch bis es dazu kam, brauchte es ziemlich lange.“

Das konnte sie gut nachvollziehen. Bei ihr hatte es auch lange gedauert, bis sie sich ihre Gefühle einzugestehen wagte.

Sein Blick wanderte in die Ferne zu den Bergen, fast als sähe er dort einen Film ablaufen. „Als ich dich zum ersten Mal traf, dort oben auf dem Pass, dachte ich bloß: Du liebe Zeit, schon wieder eine dieser spröden Emanzen.“

Er unterbrach seinen Redefluss und schaute seine Nebensitzerin von der Seite an. „Wie schon gesagt, es ist eine lange Geschichte. Möchtest du sie wirklich hören?“

„Jedes einzelne Wort.“ Sie wusste nichts auf der ganzen Welt, was sie lieber wollte. In ihrem Leben hatte es bisher kaum Liebeserklärungen gegeben.

„Also gut, aber beschwer dich hinterher nicht, wenn ich dich langweile.“ Er stupste sie neckend in die Seite. „Richtig schlimm wurde es nämlich, als ich merkte, dass mein Vater mich ernsthaft mit dir verkuppeln wollte. Am liebsten hätte ich daraufhin Lämmerbach seinem Schicksal überlassen. Doch dann war da die Drogen-Geschichte mit deinem Bruder. Du wirktest einerseits hilflos und andererseits unheimlich tapfer. Das hat mich völlig irritiert und mein Bild von dir etwas ins Wanken gebracht. Ich spürte zumindest, dass ich hier gebraucht werde, ob ich es wollte oder nicht.“ Er machte wieder eine Pause und Paula überlegte, welche ihrer vielen unangenehmen Begegnungen denn nun an die Reihe käme, denn vom Happy End waren sie noch meilenweit entfernt, das war sonnenklar. Er ließ sie nicht lange im Zweifel darüber.

„Und dann kam deine Freundin Julia und dieser blödsinnige Schlittenwettbewerb. Ich weiß auch nicht, was mich an diesem Tag geritten hat, aber ich war sauer und du kamst mir dabei in die Quere. Es tut mir leid, dass du den Ärger aushalten musstest, den eigentlich die anderen verdient hatten. Ich verspreche dir, dass nichts von dem, was ich über dich gesagt habe, so gemeint war. Im Gegenteil, du hast mir mit deinem Mut sogar imponiert.“

Für Paula heilte damit im Nachhinein eine Wunde, die sie viele Monate lang mit sich herumgeschleppt hatte. „Danke“ sagte sie deshalb schlicht. Daniel schaute sie verwundert an, fuhr aber ohne eine Rückfrage fort. „Als du mich nach meinem missglückten Entschuldigungsversuch an diesem Abend mitten auf der Straße stehen hast lassen, war ich zuerst völlig verdattert. So etwas war mir noch nie zuvor im Leben passiert. Nachdem ich mich allerdings etwas von meinem Schock erholt hatte, wurde ich wütend. Ich redete mir ein, du wärst arrogant und besserwisserisch. Das gab mir die Berechtigung, mich dir gegenüber wie ein Arschloch aufzuführen. Außerdem konnte ich damit Anne ärgern.

Der Tod meines Vaters hat mich dann vollends von der Rolle gebracht. Irgendwie hatte ich bei allen vorhandenen Vorzeichen nicht damit gerechnet, dass er sterben könnte. Ich stand somit vor echten Schwierigkeiten. Ich hätte am liebsten Lämmerbach und all seine Probleme für immer hinter mir gelassen, aber ich konnte es nicht. Egal wo ich auch war, ein Teil meines Ichs kam einfach nicht von hier los, so sehr ich mich auch dagegen wehrte. Und was noch schlimmer war, die meisten Frauen in meinem Bekanntenkreis ödeten mich inzwischen an. Frauen, die ich vor kurzem noch aufregend und attraktiv gefunden hatte, waren mir plötzlich völlig gleichgültig. Ich machte mir ernsthafte Sorgen um meinen Zustand.“

Diese Stelle in seinem Bericht mochte sie besonders. Hieß das etwa, dass er schon seit einiger Zeit keine intime Freundin mehr gehabt hatte? Das klang fast zu schön, um wahr zu sein.

Es gab nun erneut eine kurze Pause, die Daniel dazu nutzte, seine Begleiterin ausgiebig zu betrachten. Was sah er dabei in ihr? Etwas, von dem sie selbst vielleicht gar keine Ahnung hatte? Sie hoffte zumindest, dass er mehr als eine unscheinbare, junge Frau entdeckte, die sich nach Zärtlichkeit und Verständnis sehnte.

„Zu diesem Zeitpunkt war ich übrigens fest davon überzeugt, dass du mich hasst oder zumindest verachtest.“

Paula erschrak. Wie kam er denn darauf? Hatte sie etwa so auf ihn gewirkt? Das war ja schrecklich. „Ich habe dich niemals gehasst. Ich war nur die meiste Zeit unsicher, wie ich mich dir gegenüber verhalten sollte. Du hast dich ständig über mich lustig gemacht und manchmal warst du auch mit Absicht verletzend“, versuchte sie zu erklären, merkte dann aber, dass das nur eine Seite der Geschichte war und sie ehrlichkeitshalber auch die andere Seite erzählen sollte. Sie gab sich also einen Ruck und bekannte: „Ich war damals schon in dich verliebt, wollte mir das aber nicht eingestehen und dachte, es wäre ohnehin hoffnungslos.“

Statt einer Antwort legte Daniel den Arm um sie und zog sie an sich. Mit deutlich mehr Nähe führte er seine Geschichte nun fort. „Christines Fehlgeburt und die ganze Situation drum herum hat mich ziemlich geschockt. Ich spürte, dass ich mich meiner Verantwortung stellen musste. Und dann warst du plötzlich am Tag danach verschwunden. Ich machte mir natürlich Sorgen, so wie alle anderen Lämmerbacher auch. Ein derartiger Hagelsturm ist kein Pappenstil und du wärst nicht die Erste gewesen, die eine solche Wettersituation falsch eingeschätzt hätte. Als Anne mir jedoch unterstellte, dass bei mir mehr dranwäre, wollte ich das nicht wahrhaben. Ich ärgerte mich. Dummerweise hatte ich gleichzeitig den Eindruck, dir gegenüber etwas gut machen zu müssen. Schließlich war ich in den vergangenen Monaten ziemlich ekelhaft gewesen. Deshalb kämpfte ich mich also mit Vollmers Hund durch Matsch und Kälte, rechnete bereits mit dem Schlimmsten und wurde hier oben von der besagten Auserkorenen körperlich intakt und nicht sonderlich freudig empfangen. Irgendwie hast du den Eindruck gemacht, als würdest du lieber von jemand anderem gerettet werden. Das glich in ungefähr einer kalten Dusche. Ich stellte mir die Sache mit dem Schlafsack deshalb als kleinen Racheakt vor. Natürlich hätte ich für mehr Holz sorgen oder dir meinen Schlafsack allein überlassen können. Das hatte ich ursprünglich sogar vor. Aber ich wollte sehen, wie weit du mit deiner Ablehnung gehen würdest und ob deine Distanz bei kühlen Temperaturen irgendwann endet.“

Ihr stand diese Szene deutlich vor Augen. Wie könnte sie diese Nacht auch je wieder vergessen?

Daniel schaute sie währenddessen erneut nachdenklich an und überlegte, ob er ihr den Rest auch erzählen oder besser gleich zum Ende überwechseln sollte. Er fühlte sich in Paulas Gegenwart manchmal mindestens genauso unsicher, wie sie es in Bezug auf ihn beschrieben hatte. Dieses für ihn zugegebenermaßen ziemlich ungewohnte Empfinden machte aber, wenn er ehrlich war, den eigentümlichen Reiz ihrer Person aus. Das, was er Phillip gegenüber gesagt hatte, stimmte. Paula war anders als alle Frauen, die er in seinem Leben näher kennengelernt hatte. Sie war durch und durch anständig. Sie versuchte nicht nur so zu wirken, nein, sie war es einfach, tief aus sich heraus. Sie verabscheute zweideutige Ausdrücke, flirtete nie und war erschreckend ehrlich, verlässlich und konsequent. Eigentlich in allem das genaue Gegenteil von ihm. Und genau das forderte ihn heraus. Er hatte zwar in den letzten Monaten die meiste Zeit damit verbracht, sich über sie aufzuregen, aber vielleicht war genau dies der Grund, weshalb er sie im Vergleich zu vielen anderen Frauen von Anfang an nie als langweilig empfunden hatte. Im Gegenteil, sie besaß die seltene Fähigkeit, ihn zu überraschen. So auch jetzt.

„Und wie ging es dann weiter?“, wollte sie wissen. Dabei stand ihr echtes Interesse ins Gesicht geschrieben. Sie musste unwillkürlich an den um sie geschlungenen Arm denken, als sie morgens gemeinsam mit ihm im Schlafsack aufgewacht war. Vielleicht hatte Daniel in dieser Nacht ja doch nicht von ehemaligen Freundinnen geträumt?

Er setzte zu einem schiefen Lächeln an und beschloss einen tapferen Vorstoß in Richtung Aufklärung zu wagen. Unter Paulas bieder wirkendem Äußeren schlummerte möglicherweise ein kleiner Vulkan, der nur darauf wartete, ausbrechen zu können. Temperament besaß sie genügend, daran gab es keine Zweifel und im Lauf der letzten - zumindest für sie beziehungsfreien - Monate sollten sich eigentlich genug Zärtlichkeitsdefizite angesammelt haben. Es würde folglich ein besonderes Vergnügen sein, bei diesem Ausbruch dabei zu sein. „Na ja, während du zu nächtlicher Stunde neben mir herumgezittert hast, überkamen mich urplötzlich einige wenig jugendfreie Vorstellungen, die mich genauso erschreckten wie dich, falls du etwas davon mitbekommen hättest, meine ich. Vermutlich wärst du mit irgendeiner Nagelfeile auf mich losgegangen oder so.“ Er schaute betont unschuldig drein, aber seine Mundwinkel zuckten unübersehbar. Die Geschichte ihrer standardmäßigen Selbstverteidigungsmaßnahmen hatte also auch ihn erreicht.

Paula rollte in gespielter Verzweiflung mit den Augen, sagte aber vorsichtshalber nichts dazu. Das war auch nicht nötig.

„Ich begann in dieser Nacht ernsthaft an meinem Verstand zu zweifeln: Die Situation war keineswegs romantisch, du in diesem Moment ungefähr so attraktiv wie eine tiefgekühlte Tante Lieselotte, aber in mir kochten trotzdem munter die Hormone. Da wusste ich, dass ich entweder eine Hormonbehandlung brauchte oder ernsthaft in Gefahr stand, mich in dich zu verlieben.“

Damit endete seine Geschichte. Es war eindeutig die seltsamste Liebeserklärung gewesen, die Paula je bekommen hatte und ehrlich gesagt auch die einzige. Jörgs wohldosierte Lügenmärchen zählten nicht.

Sie zeigte sich weit weniger geschockt vom Ende, als der Erzähler befürchtet hatte. Er registrierte dies mit einer gewissen Erleichterung und sah sich in seiner Hoffnung bestätigt. Der Rest des Nachmittags war gerettet und sein Programm stand eigentlich schon fest. Und nicht nur das….

Paula spöttelte ahnungslos: „Du Ärmster, ich sah an dem Morgen wie eine Vogelscheuche aus. Ich bin über mein eigenes Spiegelbild erschrocken.“

„Sehen wir es mal positiv. Schlimmer kann es die nächsten vierzig Jahre vermutlich nicht mehr werden. Und wenn ich mich selbst in so einem Augenblick in dich verlieben kann, brauchst du dir über den Rest eigentlich keine Sorgen mehr zu machen.“ Durch ihre lockere Stimmung mutig geworden, zog er sie noch ein Stückchen näher an sich und küsste sie zärtlich und durchaus überzeugend. Bevor er jedoch überzeugungstechnisch und in aufklärendem Sinne weiter ins Detail gehen konnte, und er schien durchaus gewillt, das war nun deutlich erkennbar, wurden sie durch nahende Stimmen abgelenkt.


Paula war insgeheim dankbar für die Unterbrechung. Daniels Tempo, Freundschaften körperlich konkret anzugehen, überforderte und beunruhigte sie gleichzeitig.

Ihr Partner zeigte sich über die Störung weit weniger erbaut und brummte: „Himmel noch mal. Nicht einmal hier hat man in diesem Kaff seine Ruhe.“

Ihr blieb gerade noch genug Zeit, Kleidung und Unterbekleidung in den Originalzustand zu bringen, als die komplette Familie Zauner vor ihren Augen hinter der nächsten Wegbiegung auftauchte.

„Ja so a Überraschung“, meinte Volker und seine Frau winkte dem im Entstehen begriffenen Liebespaar freudig zu.

Die beiden jüngeren Mädchen sprangen unerschrocken zu Paula rüber und begrüßten sie, während Fritz etwas unbehaglich neben einem Baum stehen blieb. Sein Gewissen war selten rein, was die Schule betraf. Auch Anna, die Älteste und mit Abstand Vernünftigste, zog die Nähe ihrer Eltern vor und wirkte sichtlich verlegen. Sie wagte nicht einmal in ihre Richtung zu schauen.

„Mir dachtn, mir guckn uns mal an, wo im nächstn Herbst die Bäum wegmüssn“, erklärte Volker, während seine Frau ergänzte: „Außerdem is des an netter Spaziergang hier rauf.“

Unter einem netten Familienspaziergang hätte Paula seither etwas anderes als eine halbstündige Klettertour durch unwegsames Gelände verstanden. Aber die Vorstellungen mochten da auseinanderklaffen.

Die Familie zeigte keinerlei Absicht, demnächst wieder zu verschwinden, so dass Daniel den Gedanken an eine Fortführung des Schäferstündchens aufgeben musste und dafür eine verfrühte Heimkehr in Betracht zog.

Zu ihrer Überraschung schloss sich die Familie Zauner sofort dieser Idee an. Volker hatte ohnehin ein paar Dinge mit Daniel zu besprechen und Frau Zauner und ihre Töchter redeten währenddessen munter auf Paula ein.

So erreichten sie im Familiengroßverband den Ort.


Weil Daniel am nächsten Morgen Frühdienst hatte, stand kurz darauf der offizielle Abschied an. Er nahm mit einem Blick auf die zahlreichen Spaziergänger, die sich spontan dazu eingefunden hatten, die Lehrerin in den Arm und drückte ihr vor laufendem Publikum einen Kuss auf die Wange.

„Ich hoffe, bei meinem nächsten Besuch in zwei Wochen etwas weniger neugierige Mitmenschen um uns herum vorzufinden“, flüsterte er abschließend in ihr Ohr und ließ dabei bedeutsam seine Hand über ihren Rücken nach unten wandern. Sie bekam unwillkürlich eine Gänsehaut und konnte es nicht verhindern, ein weiteres Mal farblich passend zur Bluse anzulaufen.

Unter den Blicken der interessierten Dorfbewohner beeilte sie sich, ihr schützendes Schulhaus aufzusuchen.

Dieses Wochenende, so viel war klar, würde für alle Beteiligten ein Nachspiel haben.


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