Читать книгу Einführung in die Roman-Analyse - Jost Schneider - Страница 12

– ‚fiktional‘

Оглавление

‚Fiktional‘ ist nicht das Gegenteil von ‚real‘. Die neuere Literaturtheorie geht davon aus, dass literarische Fiktionen durch die Kombination von Fakten und freien Erfindungen entstehen, wobei formale Bildung und Weltwissen des Lesers seine Fähigkeit zur Identifikation von Fakten, Fiktionen und Erfindungen determinieren (vgl. Iser 1991; Berthold 1993). Da diese Strategien dem Individuum im Laufe seiner literarischen Sozialisation in Fleisch und Blut übergehen, vermag es in der Regel problemlos fiktionale von nichtfiktionalen Texten zu unterscheiden, ohne seine Kriterien hierzu explizit benennen zu können. Als Fiktionalitätssignale scheinen hierbei nicht nur solche Textstellen zu fungieren, die der Leser nach Maßgabe seines jeweiligen Weltbildes für phantastisch hält, sondern auch eine bis ins Unwahrscheinliche gesteigerte Detailliertheit in der Sachbeschreibung bzw. eine ebensolche Komplexität der Innenweltdarstellung (vgl. Schneider 2000, S. 11–13). Werden in einem Text mehr äußere Detailbeschreibungen und mehr Angaben über Gedanken und Gefühle von Figuren geliefert, als dies in lebensweltlich erfahrbaren Kontexten möglich und üblich wäre, so liest der Rezipient den Text also als fiktionales Werk. Dazu drei Beispielsätze:

(1) Am 24. Februar 1886 heiratete Edison seine zweite Frau Mina Miller.

(2) Die Glocken läuteten feierlich, als Edison am 24. Februar 1886 seine zweite Frau Mina Miller heiratete, die ihn aufrichtig liebte.

(3) Es war überraschend mild und die Glocken läuteten besonders feierlich, als Edison am 24. Februar 1886 seine zweite Frau Mina Miller heiratete, die ihn aufrichtig liebte und die zu diesem Anlass ein Seidenkleid mit vielen Rüschen trug, deren oberste sie beständig am Kinn kitzelte, was sie während der Zeremonie vergeblich zu ignorieren versuchte.

Käme in einer wissenschaftlichen Edison-Biographie ein einzelner Satz wie (3) vor, so würde der Leser dies vielleicht tolerieren. Würden derartige Detailbeschreibungen und Innenweltdarstellungen jedoch immer wieder auftreten, wie dies in Romanen und anderen literarischen Texten regelmäßig der Fall ist, würde der Leser irgendwann auf ‚Fiktion‘ umschalten (sofern nicht aus seiner Sicht phantastische Handlungselemente bzw. eine Gattungsangabe im Titel, ein Klappentext oder ähnliches ihm von vornherein signalisieren, dass er es mit fiktionaler Literatur zu tun hat).

Einführung in die Roman-Analyse

Подняться наверх