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II. Forschungsbericht

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Überblick

An Forschungsliteratur zur Theorie und Geschichte des Romanes herrscht kein Mangel. Aus der unübersichtlichen Fülle der wissenschaftlichen Studien greift dieses Kapitel die wichtigsten, die zu Standardwerken geworden sind, heraus, und stellt ihre zentralen Fragestellungen und Thesen in kompakter Form vor. Da in den letzten Jahrzehnten nicht nur in der Literaturwissenschaft im engeren Sinne, sondern auch in der Fiktionstheorie, der Leseforschung und der Kultursoziologie wichtige, für das Verständnis der Romanproduktion und -rezeption sehr aufschlussreiche Forschungen durchgeführt wurden, werden auch einige Hauptwerke aus diesen Wissenschaftsgebieten vorgestellt. Nach der Lektüre dieses Kapitels besitzen Sie einen Überblick über die wichtigsten Positionen der neueren Romanforschung.

Die deutsche Romanforschung hat in den letzten drei Jahrzehnten bedeutende Fortschritte erzielt. Dabei sind an erster Stelle gewiss die zahlreichen Einzelanalysen und -interpretationen zu den kanonisierten Klassikern dieses Genres zu nennen. Gattungstheoretische und -geschichtliche Fragen spielen in diesen Studien, die in den einschlägigen Bibliographien verzeichnet sind, jedoch in der Regel keine oder nur eine untergeordnete Rolle, weshalb sie hier nur in Einzelfällen berücksichtigt werden. Das gilt auch für die gesamte ältere Romanforschung, deren wichtigste Titel im bibliographischen Anhang zu dem von Helmut Koopmann herausgegebenen Handbuch des deutschen Romans (1983) verzeichnet sind, und für die nach wie vor recht seltenen Untersuchungen zum Trivial- und Unterhaltungsroman.

Romanpoetik

Fast schon übererforscht ist die deutsche Romanpoetik, die man als besonders vornehmen Gegenstand der Romanforschung bezeichnen kann, weil die diesbezüglichen Texte praktisch niemals den Trivial- oder Unterhaltungsroman betreffen. Bereits die zwei Sammelbände zur Romantheorie, die 1971 und 1975 von Eberhard Lämmert und anderen herausgegeben worden waren, hatten mehr als 700 Schriften verzeichnet und viele davon in Auszügen abgedruckt und kommentiert. Seither sind zahlreiche weitere Publikationen zu diesem Thema entstanden, von denen hier nur einige der einflussreichsten herausgehoben werden können. An erster Stelle ist dies der von Hartmut Steinecke verfasste Band Romanpoetik in Deutschland. Von Hegel bis Fontane (1984), der 65 Auszüge aus wichtigen gattungstheoretischen Texten abdruckt und der in einer instruktiven Überblicksdarstellung die Haupttendenzen der Romandiskussion im 19. Jahrhundert skizziert. Zusammen mit Fritz Wahrenburg veröffentlichte Steinecke 1999 die heute wohl am weitesten verbreitete Anthologie zu diesem Thema unter dem Titel Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Darin werden Auszüge aus 118 Klassikern der Romantheorie abgedruckt und kurz erläutert; für Philologiestudenten besonders nützlich ist die klug selektierende Auswahlbibliographie am Ende dieses Buches, in der alle wichtigen neueren Beiträge zur Theorie und Geschichte der Gattung verzeichnet sind. Keine Materialsammlung, sondern eine zusammenhängende Darstellung liefert die Monographie Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik (1990) von Viktor Žmegač. Die Studie setzt mit der Spätantike ein und behandelt auch den Roman des feudalistischen Zeitalters, erreicht jedoch schon nach knapp 50 Seiten das 18. Jahrhundert und widmet sich dann ganz ausführlich der Romantik, dem Realismus, dem Naturalismus und dem 20. Jahrhundert. Fast genauso strukturiert und ebenfalls ganz auf die kanonisierten Klassiker des Romans fokussiert ist die 1993 erschienene Arbeit von Bruno Hillebrand mit dem Titel Theorie des Romans. Erzählstrategien der Neuzeit. Wer nicht primär Einblicke in die Realität der literarischen Kommunikation gewinnen, sondern zunächst nur den Kanon der von Berufslesern geschätzten Meisterwerke kennenlernen will, wird bei Žmegač genauso fündig wie bei Hillebrand, der zwar de Sade, Dos Passos und Borges unerwähnt lässt, dafür aber die deutsche Romantradition ausführlicher behandelt als Žmegač. Wer die Lektüre der mit jeweils über 400 Seiten recht ausführlichen Darstellungen beider Autoren scheut, findet im zweiten Kapitel der Romantheorie von Matthias Bauer (1997) eine im Großen und Ganzen zuverlässige Kurzfassung, die nicht mehr als ein Sechstel dieses Umfangs erreicht und dennoch alle wesentlichen Aspekte berücksichtigt.

Gattungsgeschichte

Kann die – natürlich auch bei Bauer – festzustellende Fokussierung auf den anspruchsvollen, kanonisierten Roman im Falle der Romantheorie und Romanpoetik entschuldigt werden, weil die Verfasser und Erforscher von Trivial- und Unterhaltungsromanen so gut wie keine theoretischen Schriften zur Natur der von ihnen bevorzugten Gattung vorgelegt haben, so macht sich diese Horizontverengung im Falle gattungsgeschichtlicher Darstellungen erheblich deutlicher und schmerzlicher bemerkbar. Ulf Eiseles Studie Die Struktur des modernen deutschen Romans (1984) konzentriert sich z.B. auf fünf Romanklassiker von Broch, Musil, Thomas Mann, Brecht und Kafka, denen exemplarische Geltung zugesprochen wird und die gleichsam in idealtypischer Weise die fünf gültigen Antworten auf die Fragen der Moderne ausformuliert haben sollen. Dabei unterstellt Eisele, dass moderne Literatur durchgängig durch ihre Autoreferentialität geprägt sei, ja dass es geradezu naiv wäre, in der Kunst etwas anderes als Aussagen über die Kunst zu vermuten. Eisele arbeitet so rastlos wie vergeblich, um diese einseitige These wenigstens an den fünf von ihm selbst ausgewählten Beispieltexten dingfest machen zu können. Dass er den engagierten neorealistischen Roman nicht akzeptiert, versteht sich von selbst, ganz zu schweigen von den modernen deutschen Trivial- und Unterhaltungsromanen, die seine Modernitätskonzeption und sein Literaturverständnis sprengen.

Obwohl er 1985 in der Zeitschrift für deutsche Philologie eine kritische Rezension zu Eiseles Buch publizierte, hat Jürgen H. Petersen in seiner Studie Der deutsche Roman der Moderne (1991) nicht davor zurückgeschreckt, seinerseits eine Typologie der wichtigsten Romanformen zu entwickeln. Petersen unterscheidet erstens den die Deutungsfreiheit des Lesers maximierenden Roman, der auf alle Formen der Rezeptionslenkung verzichtet, zweitens den das Unbestimmte und Offene suchenden Roman, der die Wirklichkeit bloß als eine unter vielen Möglichkeiten auffasst, sowie schließlich drittens den fiktionsstörenden Roman, der mehrere Handlungsvarianten nebeneinander präsentiert oder explizit auf das Gemachte und Erfundene der Geschehnisse verweist. Obwohl auch dieses Raster recht eng ist und wenig Raum für gesellschaftskritisch-neorealistische Werke sowie für Trivial- und Unterhaltungsliteratur lässt, entgeht Petersen den schädlichen Konsequenzen einer derartigen Engführung dadurch bis zu einem gewissen Grade, dass er einerseits zwischen ‚fundamentaltypischen‘ Romanen ersten Ranges und ‚typus-kombinierenden‘ Mischromanen zweiten Ranges unterscheidet und andererseits seine Typologie mit einer gewissen Großzügigkeit auf die tatsächlich vorzufindenden Textbestände anwendet, so dass er auch den nach seiner Konzeption prima facie wenig modern wirkenden Romanen eines Heinrich Böll oder einer Gabriele Wohmann im Wesentlichen Gerechtigkeit angedeihen lassen kann. Petersens Buch ist im Moment die empfehlenswerteste, ausgewogenste, auch als Nachschlagewerk nutzbringendste Überblicksdarstellung zur Geschichte des (anspruchsvollen) deutschen Gegenwartsromans.

Relativ ausgewogen wirkt auch die Behandlung des gleichen Gegenstandes in dem 1993 von David Midgley herausgegebenen Sammelband The German Novel in the Twentieth Century, der allerdings den bezeichnenden, sofort an Eisele erinnernden Nebentitel Beyond Realism trägt. Anders als Eisele konzentrieren sich die Verfasser der in diesem Buch versammelten Artikel jedoch nicht nur auf jene Varietäten des anspruchsvollen deutschsprachigen Gegenwartsromans, die sich einer anti-identifikatorischen Poetik des Spielens und Experimentierens verschrieben haben. Vielmehr wird am Beispiel von elf kanonisierten Klassikern der deutschsprachigen Romanliteratur des 20. Jahrhunderts gezeigt, wie bei Kafka, Musil, Grass, Wolf u.a. durch eine neuartige Wahrnehmungsweise sowie entweder durch eine Intensivierung oder durch eine mit poetologischen Selbstreflexionen einhergehende Abschwächung des Mimesisgedankens neuartige Romankonzepte entstehen, die den Realismus, für den hier Fontanes Effi Briest als Musterbeispiel einsteht, zu überbieten oder aber zurückzuweisen versuchen. Zwischen den Extremen des Super- und des Anti-Realismus eröffnet sich damit ein breites Spektrum theoretischer Positionen, das die elf behandelten Beispieltexte differenziert zu beschreiben und poetologisch präzise zu verorten erlaubt.

Bedeutend einseitiger fällt hingegen die Darstellung von Christian Schärf aus, dessen Buch Der Roman im 20. Jahrhundert (2001) besser die Überschrift ‚Avantgardistische Romanpoetik‘ tragen würde. Wie Eisele vernachlässigt auch Schärf die diversen Spielarten des Neorealismus, so dass z.B. Siegfried Lenz und Heinrich Böll mit wenigen kurzen Nebenbemerkungen abgefertigt werden. Die ‚Gegenseite‘ der Antirealisten kommt hingegen bedeutend ausführlicher zu Wort, obwohl auffällt, dass z.B. Max Frisch, Rainald Goetz, Helmut Krausser und Kuno Raeber keine Erwähnung finden und dass auch die Beispielanalysen vergleichsweise abstrakt und textfern bleiben. Um die Geschichte des Romans als eine Entwicklung von der Mimesis über die Konstruktion zum postmodernen Spiel bzw. von der Totalität über die Dezentrierung zur Totalitätsparodie darstellen zu können, muss Schärf wie zuvor Eisele seine Textbeispiele scharf selektieren, zielgerichtet interpretieren und in fast geistesgeschichtlich zu nennender, im Vergleich zu den behandelten Gegenständen jedenfalls erstaunlich konventioneller Manier in eine zusammenhängende Entwicklungslinie zwingen. Für die Darstellung von Petersen stellt die von Schärf damit keine Konkurrenz dar.

Eine handbuchartige, als Nachschlagewerk benutzbare Beschreibung der Gattungsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart enthält die über 800 Seiten starke, 2013 von Volker Meid herausgegebene Geschichte des deutschsprachigen Romans. Eine gut 200 Seiten umfassende, auch den ‚Gegenkanon‘ der tatsächlich gelesenen Romanbestseller berücksichtigende Übersichtsdarstellung liefert die von Benedikt Jeßing, Karin Kress und mir selbst verfasste Kleine Geschichte des deutschen Romans (2012).

Fiktionstheorie

Nach der Poetikgeschichte und der Gattungsgeschichte sind nun noch drei Arbeitsgebiete der Literaturwissenschaft in den Blick zu nehmen, denen die Romanforschung der letzten Jahrzehnte bedeutende Anregungen verdankt, und zwar die Fiktionstheorie, die Leseforschung und die Kultursoziologie. Im Bereich der Fiktionstheorie ist besonders die 1993 von Christian Berthold vorgelegte Studie Fiktion und Vieldeutigkeit zu nennen, in der die Kategorie der Fiktionalität einer Historisierung unterzogen und soziologisch relativiert wird. Wie Berthold zeigen kann, ist die fiktionale Lektüre „kein Können, über das man einfach verfügt oder nicht, sondern eine komplizierte Kompetenz, die immer weiter verfeinert werden kann“ (ebd., S. 179). Dies gilt sowohl in ontogenetischer als auch in phylogenetischer Perspektive. Von Epoche zu Epoche verändert sich die Wirklichkeitsauffassung und damit die Definition der Grenze zwischen Erfundenem und Nicht-Erfundenem. Ferner hängt es vom Bildungsstand und von den Lektüreerfahrungen eines Individuums ab, ob es den zu seiner Zeit bestehenden Verlauf dieser Grenze realisiert oder hinter dem in dieser Hinsicht erreichten Standard zurückbleibt. Und darüber hinaus reagiert auch der Roman selbst auf derartige Grenzverlagerungen, indem er – je nach Epoche und Leserzielgruppe – mit einfacheren oder raffinierteren Formen der Illusionserzeugung oder Illusionszerstörung arbeitet. Diese Feststellungen ermöglichen es, die in der Romanrezeption immer wieder anzutreffende ‚Verwechslung‘ von Fiktion und Wirklichkeit anders als in Jürgen H. Petersens Studie Fiktionalität und Ästhetik (1996) nicht einfach als intellektuelle Fehlleistung oder ‚Rezeptionsunfall‘, sondern als durchaus normalen, poetologisch kalkulierbaren und verwertbaren Kommunikationseffekt zu begreifen. So wäre es z.B. sinnvoll, den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts nicht als naive Wirklichkeitsabbildung oder – wie inzwischen fast die Regel – umgekehrt als selbstreflektierte Wirklichkeitskonstruktion aufzufassen, sondern von einer Vielzahl möglicher Wirkungseffekte auszugehen, die zwischen diesen Extremen liegen können. Für eine neue, funktionsanalytisch orientierte Literaturgeschichtsschreibung liefert Bertholds Buch sehr wichtige Anregungen.

Leseforschung

Was die Leseforschung betrifft, so ist vor allem auf Erich Schöns Studie Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers (1987) hinzuweisen, in der dargestellt wird, dass die stille, einsame Lektüre gedruckter Schriften erst um 1800 zum Normalfall der Literaturrezeption wird. Zuvor war diese Rezeptionspraxis nur in gebildeteren Kreisen allgemein üblich gewesen, und selbst dort gab es Phänomene wie z.B. das Vorlesenlassen in geselliger Runde, das laute Sich-selbst-Vorlesen oder das Lesen im Freien, die eine erheblich größere Spannweite in den Formen des Leseverhaltens bezeugen, als sie heute der Normalfall ist. Der Aufstieg des Romans ab 1800 geht also Hand in Hand mit der Durchsetzung einer Lektürepraxis, die körperliche, emotionale und soziale zugunsten intellektueller und privat-individueller Textwirkungen unterdrückt. Am Ende dieser Entwicklung steht der immobilisierte Leser, der keinerlei Anzeichen von innerer und äußerer Bewegung zeigt, während vor seinem inneren Auge unerhörte Katastrophen, Abenteuer und Romanzen ablaufen. Es entstand Bedarf an detailliert ausgemalten, zur Versenkung in die Illusion einladenden fiktionalen Welten, wie sie besonders der Roman bereitstellen konnte. Und die identifikatorische Lektüre wurde in breiten Bevölkerungskreisen zu einem routiniert gehandhabten Instrument der als unterhaltsam erlebten Identitätsfindung und der seelischen Stabilisierung.


Abb. 2 Anselm Feuerbach: Paolo und Francesca (1864, München, Schack-Galerie). Das Gemälde bezieht sich auf eine Episode aus Dantes Göttlicher Komödie uni präsentiert die gemeinschaftliche Lektüre als Medium der Selbstfindung und der Liebesbegegnung.

Wie Norbert Groeben und Peter Vorderer 1988 in ihrer Studie Leserpsychologie. Lesemotivation – Lektürewirkung darlegten, wäre es unzeitgemäß, diese psychohistorisch sowie kultur-, mentalitäts- und zivilisationsgeschichtlich bedeutsamen Vorgänge aus der Literaturgeschichtsschreibung auszuklammern (ebd., S. 202–220).

Kultursoziologie

Ein dritter wichtiger Impuls kam von Seiten der Kultursoziologie, deren Neubegründer, Pierre Bourdieu, 1979 in seiner Studie La distinction (dt. 1982 u. d.T. Die feinen Unterschiede) die enge Korrelation zwischen sozialer Position und Geschmack erforscht hatte. Dabei lassen sich vier Hauptformen unterscheiden, nämlich erstens der ‚natürlich‘-souveräne Geschmack der in einer kultivierten Umgebung aufgewachsenen Oberschichten, der ängstliche mittlere Geschmack der alles Unverständliche und ‚Anormale‘ zurückweisenden Mittelschichten, der grob-sinnliche Geschmack der Unterschichten und schließlich der ‚reine‘ Geschmack der mit interesselosem Wohlgefallen und reflexiver Distanz an die Kunst herantretenden Intellektuellen. Da das Individuum seine Position im sozialen Raum in der flexibilisierten Gegenwartsgesellschaft nur selten bis an sein Lebensende beibehält, werden diese vier Hauptformen kaum jemals in Reinkultur verwirklicht. Aber die – natürlich auch vorhandenen – individuellen Vorlieben und Abneigungen werden fast immer sehr deutlich von schichtenspezifischen Geschmacksdispositionen überformt, so dass für bestimmte Kunstwerke recht zuverlässig bestimmte Zielgruppen auszumachen sind. Dem Künstler selbst und auch dem Rezipienten ist dies im Allgemeinen weniger bewusst als dem Lektor oder dem Buchhändler, der davon lebt und leben kann, Zielgruppen einzugrenzen und die Texte mit Hilfe der Einbandgestaltung, der Plakatwerbung, der Formulierung des Klappentextes etc. ‚an den (richtigen) Mann zu bringen‘. Die Aufgabe der wissenschaftlichen Literaturgeschichtsschreibung kann sich vor diesem Hintergrund nicht darin erschöpfen, das eine oder andere der vier Geschmacksideale zu übernehmen und zu verteidigen. Vielmehr ist im Sinne einer funktionsgeschichtlichen Gesamtdarstellung mit größtmöglicher Neutralität das Zusammenspiel zwischen sozialen Positionen, Bildungsidealen, Lektüreanforderungen und Mediennutzungsgewohnheiten zu analysieren, und zwar sowohl im Zentrum als auch an der Peripherie des sozialen Raumes. Dabei geht es nicht um eine ideologiekritische Relativierung der anspruchsvolleren und auch nicht um eine sozialpolitisch motivierte Aufwertung der anspruchsloseren literarischen Kulturen, die in einer Gesellschaft nebeneinander existieren, sondern um eine wissenschaftliche Gesamtgeschichte der literarischen Kommunikation in allen ihren Spielarten.

Gesamtgeschichte der literarischen Kommunikation

Anders als bei der Ode, der Elegie und ähnlich exklusiven Gattungen erfordert dieses Postulat im Falle des seit dem 19. Jahrhunderts in allen sozialen Schichten verbreiteten Romans eine Weitwinkeloptik. Die folgende, einem kultursoziologisch-funktionsanalytischen Ansatz verpflichtete Darstellung berücksichtigt deshalb auch Werke wie die Bibliographie zum Kolportageroman von Günter Kosch und Manfred Nagl (1993), die Monographie über den Bestsellerautor August Lafontaine von Dirk Sangmeister (1998) oder die Studie über den Feuilletonroman von Norbert Bachleitner (1999).

Auf einen Blick

1. Worauf könnte es zurückzuführen sein, dass die Romanpoetik so intensiv erforscht ist, während es zur Geschichte des Unterhaltungsromanes nur vergleichsweise wenige Studien gibt?

2. Nach welchen Kriterien könnte und sollte eine Gattungsgeschichte des Romanes in Unterkapitel eingeteilt werden? Sollten alle Unterkapitel gleich lang sein?

3. Sollte eine Gattungsgeschichte die aus heutiger Sicht wichtigsten (‚kanonfähigen‘) oder die zu ihrer Zeit tatsächlich gelesenen Romane vorstellen?

4. Was bedeutet es für eine moderne Literaturdidaktik, wenn sich die Fiktionserkennungskompetenz der Leser, wie Berthold behauptet, im Laufe der Jahrhunderte immer mehr verfeinert hat?

5. Konterkariert der aktuelle Hörbuch-Boom den von Schön konstatierten Prozess einer allmählichen Entsinnlichung der Lektüre?

6. Wenn Sie Literaturagent wären und ein Autor Sie bitten würde, sein Romanmanuskript bei einem passenden Verlag unterzubringen: Woran würden Sie erkennen, ob Sie das Buch eher Suhrkamp oder eher Bastei Lübbe anbieten sollten?

Einführung in die Roman-Analyse

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