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1. Begriffsgeschichte

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Der Roman gehört zu den erstaunlichsten Phänomenen der neueren Literaturgeschichte. Welcher anderen literarischen Gattung könnte man attestieren, über mehr als zwei Jahrhunderte hinweg ein Massenpublikum fasziniert, ja überhaupt erst für die freiwillige Teilhabe an der schriftlichen literarischen Kommunikation gewonnen zu haben?

Breitenwirkung

Sowohl im Buchhandel als auch in privaten und öffentlichen Buchsammlungen ist der Roman heute allgegenwärtig. Und fast alle großen und populären Schriftsteller waren auch Romanverfasser. Goethe verdankte seinen internationalen Ruhm dem Werther. Fontane schrieb mehr als 2000 Gedichte, wurde aber erst durch seine späten Gesellschaftsromane populär. Thomas Mann, Hesse, Böll, Grass und natürlich fast alle Autoren von Unterhaltungs- und Trivialliteratur schrieben Romane. Wenn jemals eine literarische Gattung Breitenwirkung erzielt hat, dann ist es der Roman.

Interdisziplinarität

Die wissenschaftliche Analyse von Romanen ist deshalb nicht bloß eine interne Angelegenheit der Philologie. Vielmehr erfordert diese Aufgabe eine interdisziplinäre Herangehensweise, die auch auf Fragestellungen der Mentalitätsgeschichte, der Medienwirkungsforschung, der Lesepsychologie, der Kulturwissenschaft und anderer Forschungszweige eingeht. Nachfolgend werden deshalb nicht nur die geistes- und poetikgeschichtlichen Aspekte des Themas aufgegriffen und nicht nur die kanonisierten Klassiker der offiziellen Literaturgeschichtsschreibung, sondern auch die populären Unterarten der Romangattung wie z.B. der Kriminal-, der Liebes- und der Räuberroman berücksichtigt. Auch auf einige Probleme der Intermedialitätsforschung wird einzugehen sein. Denn der Roman ist die einzige literarische Gattung, die trotz des immensen Konkurrenzdrucks der elektronischen Medien im 20. Jahrhundert ein Massenpublikum an sich binden konnte. Und darüber hinaus basiert ein Großteil nicht nur der Kinofilme, sondern auch z.B. der TV-Serien, der Video- und der Computerspiele auf literarischen Vorlagen, die zuerst als Romane erschienen oder wenigstens romanhafte Züge tragen.

Worauf beruht aber der erstaunliche Erfolg des Romans, der vom Groschenroman bis zum Experimentalroman und vom Kinderroman bis zum pornographischen Roman sämtliche Gesellschaftsgruppen, Bildungsschichten und Altersstufen anzusprechen vermag? Lässt sich angesichts der sehr unterschiedlichen Erscheinungsformen des Romans überhaupt von einer einheitlichen Gattung sprechen? Mit Hilfe welcher Analysekategorien und -instrumentarien kann man den Aufstieg der Gattung erklären, den inneren Aufbau eines einzelnen Romans verstehen und seine Qualität sachlich beurteilen? Wie kann man schließlich seine Wirkungspotentiale abschätzen und seine tatsächlichen Wirkungen messen?

Begriffsgeschichte

Das vorliegende Buch will diese Fragen dem neuesten Stand der literatur- und allgemein der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung gemäß zu beantworten versuchen. Dabei empfiehlt es sich, zuerst einen Blick auf die Geschichte des Begriffs ‚Roman‘, die wichtige erste Einblicke in das Wesen der Gattung eröffnet, zu werfen. Der Ausdruck ‚romanz‘ begegnet uns zum ersten Mal im Frankreich des 12. Jahrhunderts (vgl. Vossler 1927, S. 1–3). Er bezeichnete dort ein nicht in lateinischer Sprache, sondern in der lingua romana abgefasstes Werk in Versen oder Prosa. Solche Werke stellten eher die Ausnahme als die Regel dar, weil die Teilhabe an der schriftlichen literarischen Kommunikation zu dieser Zeit das Privileg einer winzigen Minderheit von Gelehrten, Adeligen und Patriziern war, deren Bildungsideal in erster Linie eine gründliche Kenntnis der lateinischen Klassiker vorsah. Literarische Werke in der altfranzösischen Vulgärsprache trugen demnach das Stigma der Ungelehrtheit, auch wenn sie, anders als die Epen, nicht mündlich vorgetragen, sondern in Buchform verbreitet wurden. Ausgehend von Nordfrankreich fand bis ins 16. Jahrhundert eine allmähliche Begriffsverengung statt, so dass der Ausdruck ‚roman‘ schon recht genau das bezeichnete, was man heute einen „Roman“ nennt, als er im 17. Jahrhundert als Fremdwort ins Deutsche übernommen wurde, nämlich eine schriftlich fixierte, erfundene, längere Erzählung in Prosa, die nicht in der lateinischen Gelehrtensprache, sondern in der jeweiligen Landessprache abgefasst war. Die Begriffsgeschichte zeigt den Roman in seinen Ursprüngen demnach als eine Zwittergattung, deren Lektüre einerseits keine höhere Gelehrsamkeit erfordert, die aber andererseits aufgrund ihrer Länge und ihrer Schriftlichkeit der Bevölkerungsmehrheit vorenthalten blieb. Erst im 19. Jahrhundert erlangen die Arbeiterschaft und das Kleinbürgertum eine Wirtschaftskraft und einen Bildungsstand, die es ihnen ermöglichen, Bücher zu erwerben, zu lesen und zu verstehen. Bis dahin bleibt die Teilhabe an der schriftlichen literarischen Kommunikation auf die kleinen Bildungseliten des Adels und des höheren Bürgertums beschränkt.

Einführung in die Roman-Analyse

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