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III. Selbstbestimmungsrecht

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Das Recht zur individuellen Selbstbestimmung gemäss Art. 2 Abs. 1 GG ist Ausdruck der menschlichen Würde und bezieht sich auf die Eigenverantwortlichkeit in Lebensentscheidungen und den Kern individueller Selbstdarstellung des Einzelnen nach aussen.[25] Die selbstbestimmte Ausgestaltung des Lebens umfasst auch das Recht auf ein selbstbestimmtes natürliches Sterben.[26] Daraus kann jedoch kein Recht abgeleitet werden, von einer anderen Person Hilfe beim Suizid einfordern zu können, da es sich um ein Abwehr- und nicht um ein Leistungsrecht handelt.[27] Obwohl der Staat somit nicht verpflichtet ist, Sterbehilfe selbst zu gewähren, ist es ihm aber verwehrt, bestehende Hilfsmöglichkeiten unverhältnismässig einzuschränken – dies wäre etwa der Fall, wenn die Hilfe zu einem freiverantwortlichen Suizid pauschal unter Strafe gestellt würde.[28] In Extremfällen kann ein Recht auf eine tödlich wirkende Dosis einer Arznei zum schmerzlosen Suizid bestehen.[29]

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Bei der Frage, ob lebensverlängernde Massnahmen eingeleitet oder fortgesetzt werden sollen, ist der ernsthafte, gegebenenfalls auch antizipiert erklärte Patientenwille unbedingt zu respektieren.[30] Daraus folgt, dass die passive Sterbehilfe somit nicht nur erlaubt, sondern auch geboten ist, sofern der Patient eine Weiterbehandlung nicht wünscht – dies auch gestützt auf die Garantie der körperlichen Unversehrtheit, welche durch jede ärztliche Heilbehandlung beeinträchtigt wird.[31] Diesbezüglich setzt sich die individuelle Autonomie gegen einen verabsolutierten Lebensschutz durch.[32] Die palliativ-medizinische Behandlung zielt ebenfalls auf die Wahrung der körperlichen Unversehrtheit ab, weshalb bei der indirekten Sterbehilfe ungeachtet der rechtlichen Einordnung als Form der aktiven Sterbehilfe kein verfassungsrechtlich relevanter Eingriff in das Lebensrecht vorliegt, somit das Recht auf physische Integrität im Sinne der Freiheit von Schmerzen Vorrang geniesst.[33] Die h.M. lehnt hingegen die Einwilligung eines Sterbewilligen in die aktive Sterbehilfe durch einen Dritten mit Hinweis auf die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Tötungstabus, die Vorbeugung gegen Missbrauchsgefahr und die Verhinderung von sozialem Druck auf Patienten und Ärzte ab.[34] Auf verfassungsrechtlicher Ebene wird argumentiert, dass Art. 2 Abs. 2, Art. 1 Abs. 3 GG einen Auftrag zum Schutz des Lebens und daher die Berechtigung zum Verbot der aktiven Sterbehilfe enthalte.[35] Das Rechtsgut Leben nehme in der Werteordnung der Verfassung insofern einen vorrangigen Platz ein.[36] Dem wird entgegengehalten, dass diese Konstruktion einer hierarchisch gestaffelten Werteordnung nicht nur auf verfassungsdogmatische Bedenken stösst, sondern gerade für das Strafrecht zu vereinfachend sei: Die Zulässigkeit der indirekten und passiven Sterbehilfe verdeutlicht, dass Ärzte keineswegs einem absoluten oder vorrangigen Lebensschutz verpflichtet sind, sondern andere medizinethische Prinzipien wie die Leidminderung oder Patientenautonomie zu berücksichtigen haben.[37] Das Verbot aktiver Sterbehilfe ist verfassungsrechtlich somit nicht geboten, sofern der Patient sie bei vollem Bewusstsein verlangt.[38] Im Hinblick auf die anerkannte Zulässigkeit der indirekten Sterbehilfe und deren Begründung erscheint ein absolutes verfassungsrechtliches Verbot der aktiven Sterbehilfe zudem im Ergebnis inkonsequent, da mit der Begründung des Verbots der aktiven Sterbehilfe, das Leben sei stets der höchste Verfassungswert und müsse absolut geschützt werden, selbst die Zulassung der indirekten Sterbehilfe nicht zu vereinbaren wäre.[39] Insbesondere in Fällen, in welchen dem Einzelnen aufgrund besonderer Umstände ein Weiterleben unerträglich ist, so etwa, wenn ein Schwerstkranker an unerträglichen Schmerzen leidet, welchen auch mit palliativmedizinischer Behandlung nicht adäquat begegnet werden kann, und er zum Tod von „eigener Hand“ objektiv nicht mehr in der Lage ist, kann das in § 216 StGB verankerte abstrakt-generelle Verbot der aktiven Sterbehilfe im Einzelfall zu unzumutbaren Härten führen.[40] In solchen Extremfällen kann der Zwang, weiterleben zu müssen, unverhältnismässig und somit grundrechtswidrig sein; vorgeschlagen wird deshalb etwa eine strafrechtsdogmatische Lösung auf der Rechtfertigungs- oder Verschuldensebene oder die Schaffung eines Ausnahmetatbestandes in § 216 StGB, wonach unter bestimmten materiellen, mindestens abstrakt formulierten Voraussetzungen die aktive direkte Sterbehilfe nicht strafbar oder sogar bereits nicht rechtswidrig wäre.[41]

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Das Selbstbestimmungsrecht ergibt sich zudem aus Art. 8 EMRK sowie Art. 17 Uno-Pakt II; nach der Rechtsprechung des EGMR garantiert Art. 8 EMRK auch ein Menschenrecht auf selbstbestimmtes Sterben, welches jedoch von den Konventionsstaaten eingeschränkt werden kann.[42] Das Recht eines Menschen zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben zu Ende gehen soll, ist demnach einer der Aspekte des Rechts auf Achtung seines Privatlebens.[43] Eine Einstellung der Behandlung wird dann als angezeigt erachtet, wenn der Patient eine Weiterbehandlung ablehnt.[44] Eine ärztliche Behandlung gegen den Willen des Patienten verletzt auch dann seine Rechte aus Art. 8 EMRK, wenn er durch den Behandlungsverzicht dem Sterben überlassen wird.[45] Gemäss Urteil des EGMR liegt in solchen Konstellationen im Behandlungsverzicht keine gezielte Lebensbeendigung, sondern lediglich der Abbruch von Massnahmen zur künstlichen Lebenserhaltung.[46] Durch die Möglichkeit des Behandlungsverzichts wird deshalb keine staatliche Schutzpflicht aus Art. 2 EMRK verletzt.[47]

1. Abschnitt: Schutz von Leib und Leben§ 2 Sterbehilfe › B. Beginn und Ende des Lebens

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