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4Normen von Kultur und Gesellschaft

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Antoine de Saint-Exupéry berichtet in seiner Geschichte vom Kleinen Prinzen über die Entdeckung des Planeten, von dem er stammt. Ein türkischer Astronom habe ihn als erster erspäht. Als dieser aber seine Entdeckung beim internationalen Astronomen-Kongress bekannt machte, habe ihm niemand geglaubt, „und zwar ganz einfach seines Anzuges wegen“.


Abb. 4: Antoine de Saint-Exupéry: Der Astronom in traditioneller Kleidung.

Es dauerte elf Jahre, bis die wissenschaftliche Community den Mann ernst nahm. Dazwischen lagen die Gesellschaftsreformen unter Atatürk, und als der Astronom seinen Vortrag wiederholte, trug er einen Anzug nach westlicher Mode. „Und diesmal gaben sie ihm alle recht“25, berichtet Saint-Exupéry.


Abb. 5: Antoine de Saint-Exupéry: Der Astronom elf Jahre später.

Die Geschichte erinnert daran, dass Verhaltensnormen sich von Kultur zu Kultur unterscheiden – und dass diese auch für Voraussetzungen des öffentlichen Redens, seiner Organisation und seiner Funktion gilt. Die Vertreter einer vermeintlich überlegenen Kultur verlangten die Unterwerfung unter ihre Normen, um den Redner überhaupt als solchen anzuerkennen.

Das Redeverhalten wird oft als Kriterium der Beurteilung der Persönlichkeit missbraucht. Am 6. Dezember, abends, wenn es dunkel war, besuchte uns der Nikolaus. Er hatte einen Sack mit Nüssen, Äpfeln und Lebkuchen bei sich und war ein Vorbote der Bescherung zu Weihnachten. Nur stellte er uns Kinder auch vor eine Aufgabe, die nicht allen leichtfiel. Wir mussten in den Tagen zuvor ein kurzes Verslein auswendig lernen. Am Nikolausabend galt es dann, vor diesem Mann, den wir als ziemlich bedrohlich empfanden, und vor der ganzen versammelten Familie dieses Verslein vorzutragen.

Wer dies gut hinter sich brachte, wurde als „brav“ gelobt. Nun hat zwar brav zu sein, nichts mit der Fähigkeit zu tun, ein Gedicht auswendig zu sprechen. Aber es ist nicht ganz untypisch dafür, wie im Alltag mit Sprachnormen umgegangen wird. Eine persönliche Eigenschaft, die damit nichts zu tun hat, wird damit verknüpft, wie sich jemand sprachlich äußert. Uns wurde damals mit der Pflichtübung vor dem Nikolaus eingebläut, dass öffentliches Reden etwas Besonderes ist.

Was für den kleinen Jungen im Vorschulalter galt, gilt für ihn auch im späteren Leben. Eine rednerische Aufgabe ist zu lösen und das Resultat wird dazu genutzt, den Redner als Gesamtpaket zu beurteilen. Das Reden – die Sprachverwendung überhaupt – dient als Indiz für Charaktermerkmale und Fähigkeiten, die damit wenig zu tun haben. Die rednerische Brillanz oder das rednerische Ungeschick überdeckt alle anderen, wichtigeren Fähigkeiten.

Derartige Voraussetzungen lassen sich nicht durch einen einzigen Auftritt torpedieren. Das Spiel muss im Rahmen seiner Regeln gespielt werden. Aber es lässt sich sanft in einer Richtung korrigieren, die es sowohl dem Redner leichter macht als auch die Informationsvermittlung verbessert: in Richtung Dialog. Die Schwerpunkte im praktischen Teil dieses Buchs haben genau dies zum Ziel.

Konstruktive Rhetorik

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