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Vom Nutzen des Lampenfiebers
ОглавлениеFast alle berühmten Schauspielerinnen, Musiker, Akrobatinnen, Clowns – die meisten Menschen, die auf irgendeine Weise vor Publikum aufgetreten sind, können vom Lampenfieber erzählen. Genauso gilt es für Rednerinnen in unterschiedlichsten Situationen. Sogar Menschen, die die Angst zu einem gewissen Grad überwunden haben, beteuern, dass ein Respekt für die Aufgabe notwendig sei. Dass sich dieser auch in Nervosität ausdrückt, gilt als normal.
Redeangst hat zwei Seiten. Zum einen bedeutet sie ein Hinfiebern auf die Konfrontation mit dem Publikum, also der Zustand vor der Rede. Zum anderen gibt es aber auch die Angst während der Rede. Die körperlichen Symptome – nervöses Zittern, kalte Hände, unkontrollierter Atem usw. – können weiter anhalten. In der Regel verschwinden sie aber in den ersten Minuten oder werden zumindest nicht mehr als bedrohlich empfunden. Die Furcht vor der Reaktion des Publikums, die Angst vor dem Versagen verschwindet nach einiger Zeit größtenteils.
Dass es ein „Fieber“ ist, wie die deutsche Sprache suggeriert35, lässt es als akute Erkrankung, als Belastung auffassen – wie es ein alter psychologischer Aufsatz drastisch schildert:
»Der Körper verspürt kalte Schauder in der Kreuzgegend. Er fühlt sich an, als ob ein Tausendfüßler sein Haar durchkämmte. Kalter Schweiß bricht aus und es fühlt sich an, als ob jemand in der Kniegegend die Muskeln durchtrennt hätte. Die Person würde am liebsten die Bühne so schnell wie möglich verlassen.«36
Claudia Spahn, die eine große Menge an Lampenfieber-Literatur verarbeitet hat, unterscheidet vier Gruppen von Merkmalen des Lampenfiebers:
körperliche: schneller und flacher Atem, trockener Mund, kalte und schweißige Hände usw.
emotionale: Angst und Panik, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, Scham usw.
kognitive: Konzentrationsstörungen, angstvolle Beschäftigung mit dem Publikum, Blackout usw.
das Verhalten betreffende: unkontrollierte Körperhaltungen und -bewegungen, stereotype Verhaltensweisen, sozialer Rückzug usw.37
Solche Beobachtungen haben dazu geführt, dass der Zustand der Rednerin seit jeher mit demjenigen eines Menschen verglichen wird, der mit einer Gefahr konfrontiert ist. Dieser spannt seine Muskeln an und hält nach Fluchtmöglichkeiten Ausschau – wie der Steinzeitmensch auf der Jagd nach dem Säbelzahntiger.38
Der englische Terminus stage fright – also „Bühnen-Angst“ – unterstreicht deutlich den Zusammenhang des Lampenfiebers mit der Distanz zum Publikum.39 Die Angst vor der Bühne trennt Rednerin und Publikum deutlich voneinander und betont so die Erwartungen an ein perfektes Auftreten, an einen Monolog. Dies lässt aber auch erkennen: Wer in der Lage ist, frühzeitig dialogische Elemente in den Vortrag einzubauen, hat ein wirksames Mittel gegen die Redeangst in der Hand.
Mark Twain berichtet, wie er den Monologcharakter bei seinem ersten öffentlichen Auftritt milderte, indem er eine Handvoll verlässlicher Freunde bat, sich im Publikum zu verteilen und auf lustige Stellen des Vortrags vernehmbar zu reagieren, so dass das Publikum einstimmte. Ein dialogisches Element war damit eingebaut, das den Redner mit Rückmeldungen sicherer machte.40
Dass Lampenfieber entstehen kann, liegt im Übrigen an einer banalen Tatsache des öffentlichen Redens: es ist vorbereitetes – meist auch explizit angekündigtes – Reden. Angst wird entwickelt, weil die Zeit vorhanden ist, Angst aufzubauen. Dies weist aber auch auf einen erleichternden Aspekt hin: Wer vor anderen reden soll, hat Zeit, um sich vorzubereiten.
Lampenfieber nutzen
In der Praxis geht es nicht darum, das Lampenfieber zu verlieren, sondern es zu nutzen, als Zeichen dafür, dass das Reden vor und mit dem Publikum eine dankbare Aufgabe und nicht eine lästige Pflicht wird. Claudia Spahn spricht denn auch nicht vom Bekämpfen, sondern vom Optimieren des Lampenfiebers.
Ein wichtiges Ziel, das sich mit unserem dialogischen Ansatz trifft, ist die Gestaltung einer positiven Beziehung zum Publikum.41 Für die Redepraxis bedeutet das nicht nur: „Ich habe den Zuhörenden etwas zu geben“, sondern auch: „Ich freue mich auf ihre Resonanz.“