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Prolog: Das Überschreiten der Schwelle
ОглавлениеMit ihren Vorlesungen über Radioaktivität hat Marie Curie Geschichte geschrieben. Sie war die erste Frau auf einem Lehrstuhl einer französischen Universität, und was sie dozierte, waren Ergebnisse aus der Spitzenforschung einer Nobelpreisträgerin. Dennoch kostete es sie jedes Mal Überwindung, vor den Studierenden oder vor einer größeren Öffentlichkeit zu sprechen. Ihr liebstes Medium waren die privaten Gespräche mit ihrem Ehemann Pierre, mit den Studierenden und ihren Kollegen. Die biografischen Quellen lassen es leicht rekonstruieren: Marie Curie war in ihrem Element, wenn im kleinen Kreis ein aktuelles Thema diskutiert wurde – und noch mehr, wenn sie mit ihrem Gatten Pierre zu zweit über „ihr geliebtes Radium“ plauderte. Aber dieselben Gedanken zu präsentieren, bedeutete für sie Stress.
So wie es ihr ging, geht es vielen. Ob es sich als Lampenfieber ausdrückt oder einfach als erhöhte Konzentration – wer auch immer sich an ein Publikum wendet, spürt den Unterschied zwischen dem alltäglichen Gespräch und der öffentlichen Rede.
Marie Curie war zwar eine gute Rednerin; schon in ihrem zweiten Jahr an der École Normale Supérieure de Sèvres hatte sie sich zu einer sehr beliebten Dozentin entwickelt. Aber sie spürte den Schritt zur öffentlichen Präsentation jedes Mal als große Herausforderung, wie ihre Tochter Eve Curie erzählt:
»Montag und Mittwoch ist Marie vom frühesten Morgen an nervös und aufgeregt. Um fünf Uhr hat sie Vorlesung. Nach Tisch schließt sie sich in dem Arbeitszimmer ihrer Wohnung ein. Sie bereitet die Vorlesung vor, notiert sich die einzelnen Abschnitte des Vortrags. Gegen halb fünf Uhr fährt sie ins Laboratorium und schließt sich wieder in dem kleinen Ruheraum ein. Sie ist unruhig, gespannt, unzugänglich. Seit nunmehr fünfundzwanzig Jahren liest Marie. Und doch hat sie unweigerlich jedes Mal Lampenfieber, wenn sie vor ihren zwanzig oder dreißig Schülern in dem kleinen Vortragssaal erscheinen soll.«1
Wer vor Publikum spricht, überschreitet spürbar eine Schwelle. Er verlässt die Kommunikationsformen des alltäglichen Gesprächs und betritt einen Bereich, in dem andere Regeln gelten. Die Anforderungen an Sprache, Sprechweise und Körpersprache sind grundlegend anders, sobald man sich an eine Gruppe wendet: Es wird eine aufrechte Haltung erwartet, eine deutliche Aussprache, eine strukturierte Rede, bei der man nicht unterbrochen wird – und das sind nur einige Besonderheiten dieser Art des Redens. Sie ergeben sich aus der einfachen Tatsache, dass die Rollen der Beteiligten klar aufgeteilt sind, in einen Sprecher und eine Gruppe von Zuhörenden.
Die „Öffentlichkeit“, vor der Marie Curie Respekt hatte, bestand nicht nur in der Gruppe von zwanzig bis dreißig Studierenden, die sich „alle zusammen erhoben, wenn sie den Hörsaal betrat,“2 und die ihr kritisch folgten. Es kam der universitäre Rahmen dazu, der ihre Vorlesungen ermöglichte. Was sie sagte, wurde beobachtet und weiterverbreitet, weit über die Hochschule hinaus. Sie wusste, dass ihr Wort in der ganzen wissenschaftlichen Welt – und darüber hinaus – Aufmerksamkeit fand. Auch dies trug dazu bei, dass ihr der ganz konkrete Schritt vom Labor in den Hörsaal, vom Gespräch zur Vorlesung, schwerfiel.
Es ist dieser Übergang von der nichtöffentlichen zur öffentlichen Kommunikation, der die Faszination, aber auch die Schwierigkeiten des Redens ausmacht. Menschen, die sich in der persönlichen Begegnung problemlos behaupten, müssen große Hürden überwinden, sobald sie vor einer Gruppe von Zuhörenden stehen, weil sie fürchten, den Anforderungen, die da an sie gestellt werden, nicht zu genügen. Dieses Buch behandelt dieses Thema in zwei Teilen. Der erste beschreibt die Bedingungen und Herausforderungen des öffentlichen Redens. Der zweite Teil zeigt, wie damit praktisch umgegangen werden kann und dass bessere Resultate erzielt werden, wenn das Reden vor Publikum als Dialog verstanden wird.