Читать книгу Die Stadt mit dem großen Herzen - Jørgen Gunnerud - Страница 10
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ОглавлениеDas Wochenende verbrachte er auf dem Vår-Frelser-Friedhof. Stundenlang saß er in seiner Lieblingsecke, dort wo die Bethanienschwestern begraben lagen, und dachte über die Geschehnisse nach. Am Montag durchsuchte er alle Zeitungen, und mindestens drei Mal war er auf dem Weg zu Astrid Bredeveien, um die Karten auf den Tisch zu legen, doch jedes Mal machte er wieder kehrt und ging zurück in sein Büro. Als der Arbeitstag vorüber war, entschied er sich endgültig für die Vogel-Strauß-Politik und hoffte, seine Missetat würde in den Archiven des Zollwesens begraben werden.
Am Dienstagmorgen saß er erschöpft und kummervoll im Büro und hatte seine Hände über die Augen gelegt. Die Zeitungen hatte er bereits durchforstet.
»Zehn Øre für Ihre Gedanken!«
Moen nahm die Hände von den Augen und schreckte auf. Astrid Bredeveien beugte sich über den Schreibtisch.
»Vor zehn Minuten hat unsere Besprechung begonnen.«
Marit Gaasland grinste Moen breit an und blickte auf ihre Unterlagen.
»Am Sonntag haben Linn Fostervolls Eltern angerufen. Sie waren in Oslo. Sie hatten sich in ein Flugzeug gesetzt, um ihre Enkelin zu sehen, bevor der Winter richtig einsetzt. Wir haben uns gestern getroffen und lange unterhalten. Über zwei Stunden, um genau zu sein. Herr Fostervoll war sehr redselig.« Marit Gaaslands Lachfältchen kamen erneut zum Vorschein. »Ein Charmeur der alten Schule. Wir haben uns gut verstanden. Linns Mutter hat indessen nicht so viel geredet. Sie wirkte müde und etwas unglücklich. Das Verschwinden ihrer Tochter geht ihr wohl näher als ihrem Mann. Überraschend fand ich, dass sie, zwei Tage bevor sie zu ihrem Sohn Thomas nach Nesøy zogen, im Hotel ihres früheren Schwiegersohns, Sverre Midtsem jr., gewohnt haben.«
Marit Gaasland blätterte ein wenig in ihren Papieren. »Ich weiß nicht so recht, welche Relevanz das für Linns Verschwinden hat. Ihr Vater hat sich sehr für ihr Verhältnis zu ihrem ehemaligen Schwiegervater, Sverre Midtsem sr., interessiert. Er hat auch viel über die Beziehung zwischen Vater und Sohn Midtsem gesprochen.«
»Wie lautet die Kurzversion?«, fragte Astrid Bredeveien.
»Er zeichnet kein besonders rosiges Bild vom Schwiegervater seiner Tochter, einem Mann, der seinen Sohn vor allen möglichen Leuten gedemütigt hat. Linn hingegen war sein Augenstern. Ob das jetzt Teil des demütigenden Verhaltens oder ob Sverre sr. wirklich so begeistert von seiner Schwiegertochter war, ist nicht so wichtig. Herr Fostervoll hat seinen Schwiegersohn wie folgt beschrieben: ein kultivierter, angenehmer Mann und seinem Kind ein guter Vater, aber mit Linns Familie sind sie nie richtig warm geworden. Die ausführliche Fassung hab ich hier.« Marit Gaasland hob ihren Papierstapel an.
Astrid Bredeveien entgegnete:
»Lassen Sie Knut eine Kopie zum Lesen zukommen. Ich hab in einer Viertelstunde noch einen Termin. Wie sieht’s in Bjørkelangen aus?«
»Morgen geht’s los«, sagte Moen. Er skizzierte kurz seine Planungen mit dem Lensmann in Bjørkelangen, ließ jedoch die Unstimmigkeiten unter den Tisch fallen, die während der Unterredung aufgekommen waren.
Astrid Bredeveien nickte kurz und sagte dann:
»Könnten Sie bitte einen Moment rausgehen, Marit? Ich muss mit Knut kurz unter vier Augen reden, bevor ich gehe.«
Marit Gaasland erhob sich.
»Dann gehe ich in der Zwischenzeit Kaffee holen. Soll ich Ihnen auch was mitbringen, Knut?«
»Ja, danke«, erwiderte er, und sie verschwand.
Astrid Bredeveien nahm ihre Brille ab und ließ sie am Seniorenband herabhängen. Sie war eine Frau in den Fünfzigern, konservativ gekleidet und mit hochgestecktem Haar. Bei der Kripo hatte man ihr den Spitznamen Frau Vermisste Personen verpasst. Sie blickte ihn ernst an.
»Ich habe Sie hier noch nicht mal richtig willkommen geheißen«, sagte sie. Moen wartete auf die Fortsetzung und wusste selbst nicht, was auf ihn zukam.
»Ist irgendwas nicht in Ordnung? Sie sehen furchtbar erschöpft aus. Geht es Ihnen nicht gut?«
»Ich hab nur ein paar Probleme an der Heimatfront«, entfuhr es ihm.
»Ernsthaft?«
»Ich weiß nicht. Wir werden sehen.«
»Ist es so schlimm, dass Sie deswegen möglichst wenig Verantwortung übernehmen möchten? Ich weiß ja nicht, wieso Sie hierher versetzt wurden.«
»Ich habe um einen Dienst ohne Reisen gebeten, um zu sehen, ob sich die Situation zu Hause verbessert.«
Astrid Bredeveien zog eine Grimasse. »Wissen Sie, momentan wächst mir der Verwaltungskram etwas über den Kopf. Ich hätte große Lust, Ihnen die Verantwortung für diesen Fall zu überlassen. Um es geradeheraus zu sagen: Wir stehen in dieser Fostervoll-Sache unter Druck. Präsidium und Ministerium rufen fast täglich an. Als ich das hier auf den Tisch bekam, habe ich meinen Augen und Ohren nicht getraut.« Sie blickte zur Tür, wo Marit Gaasland gesessen hatte. »Ich habe wirklich fleißige Leute hier in der Abteilung, aber alle, die weder eifersüchtig noch neidisch sind, wissen, dass Sie der beste Spürhund in Norwegen sind. ›Der Beste auf der Piste.‹ Haben Sie das nicht immer selbst gesagt?« Frau Bredeveien sah ihn flehend an. »Marit ist eine richtig tüchtige junge Frau, ich habe großes Vertrauen zu ihr. Ich hätte mir die Zeit nehmen müssen, ihre Unterlagen durchzulesen und ihr ein Feedback zu geben, aber zurzeit kriege ich keine Ruhe. Könnten Sie das übernehmen, oder wächst Ihnen das Leben gerade über den Kopf?«
»Ich werde mein Bestes tun.«
»Vielen Dank, da bin ich sehr beruhigt.«
*
Marit Gaasland verzog das Gesicht.
»Ich komme mir wie ein Trottel vor. Quatsche da über Linn Fostervolls Vater. Ich bin gar nicht zu den einzelnen Punkten gekommen, doch Astrid wirkt so ...« Sie zögerte. »Beinahe uninteressiert, auf jeden Fall ziemlich gestresst. Möchten Sie sich das jetzt durchlesen?«
Moen lächelte ihr aufmunternd zu. »Erzählen Sie mir erst mal von den einzelnen Punkten.«
»Der wichtigste Punkt von Herrn Fostervoll war, dass das Leben von Sverre Midtsem jr. nach dem Tod seines Vaters und dem Verschwinden seiner Exfrau so viel angenehmer wurde, dass das an sich schon beunruhigend war.«
Moen fragte, womit Linns Vater solch eine Ansicht begründete, und bekam zur Antwort:
»Linn Fostervoll hatte unmittelbar nach der Scheidung versucht, Sverre Midtsem jr. vor Gericht auf eine Million Schadensersatz zu verklagen. Ihre Begründung war, dass sie nun mit leeren Händen auf dem Immobilienmarkt dastünde, denn aufgrund der Tatsache, dass sie bei seinen Freunden, dem Geschwisterpaar Glad, zur Miete gewohnt hätten, hätten sie in der Ehe kein Wohnkapital erarbeitet. Linns Vater meinte, sein Sohn Thomas, also Linns Bruder, der als Anwalt für Immobilienangelegenheiten arbeitet, habe sie leider auch zu dieser Klage ermuntert. Sie hatte dann einen den ›Dachs‹ genannten Anwalt angeheuert, der dafür bekannt ist, zuzuschnappen und nicht eher lockerzulassen, bis die Knochen durchgebissen sind. Die Sache war natürlich hoffnungslos. Fostervoll war früher selbst Anwalt und hatte seiner Tochter von einer Klage abgeraten, doch ohne Erfolg. Das Gericht hat die ganze Sache abgewiesen, und Linn musste dem ›Dachs‹ ein ordentliches Honorar zahlen.
Sie hatten selbst auch ein paar Probleme mit Linn. Als sie das Haus in Norwegen verkauften und nach Spanien zogen, hatte Linn um einen Vorschuss auf das Erbe gebeten. Die Eltern hingegen meinten, dass sie in einer guten Gegend billig zur Miete wohnte, und erwähnten ihre Unterstützung bei der Renovierung von Küche und Bad. Der Vater hatte gemeint, sie möge doch warten, bis die Zeit für das Erbe ›reif sei‹, wie er sich ausdrückte.« Marit Gaasland entwarf also über den Vater das wenig schmeichelhafte Bild einer Frau, die mit ihren Verwandten nicht zimperlich umging, um sich deren Geld anzueignen.
An dieser Stelle der Darlegungen von Linn Fostervolls Vater fiel der Verdacht auf den Schwiegersohn. Sverre Midtsem sr. hatte jahrelang lauthals verkündet, er würde gern das ganze Hotel über den Kopf seines Sohnes hinweg verkaufen, sofern ihm dies freistünde, um dann das Geld so zu verteilen, dass Linn und sein Enkelkind ihren Unterhalt dadurch gut bestreiten könnten. Allein wegen seiner Frau, Sverres Mutter, stand es ihm nicht frei, da sie die Hälfte der Aktien kontrollierte, die gemäß den Bestimmungen der Gesellschaft nicht ohne Einwilligung des anderen Aktieninhabers verkauft werden durften. Linns Vater war der Ansicht, das Verhältnis seiner Tochter zu ihrem Schwiegervater sei fast schon unnatürlich gewesen, so dass Sverre Midtsem jr. die Situation als bedrohlich auffassen musste. Was schließlich würde geschehen, wenn die Mutter von Sverre jr. starb und der Vater mit dem Gesamtvermögen dasaß? So dachte Linn Fostervolls Vater. Er stellte seinem Schwiegersohn demnach ein gutes Zeugnis als Mensch aus, war jedoch der Ansicht, Sverre Midtsem jr. hätte gute Gründe gehabt, sich seiner Exfrau Linn zu entledigen.
Moen lächelte. Ihm war zwar durchaus bekannt, dass viele Menschen beim Tod anderer Erleichterung verspürten und auch nicht schlecht daran verdienten, doch wusste er ebenfalls, dass es nicht nur tabu war, Derartiges zu sagen, sondern auch, so zu denken oder zu fühlen. Daher überraschte ihn nicht, dass Fostervoll das »Glück« seines Schwiegersohns in Verbindung mit dem Tod seines Vaters und seiner Exfrau mit Misstrauen betrachtete, denn Moen zweifelte keine Sekunde daran, dass Linn Fostervoll in die Geschichte eingegangen war. Er glaubte nicht an ihr plötzliches Auftauchen in Dubai, doch ihr Exmann hatte ein hieb- und stichfestes Alibi. Daran gab es nichts zu rütteln. Knut Moen war allerdings an der Geldsumme interessiert, die in den Hinterlassenschaften von Linn Fostervoll gefunden worden war.
»Haben Sie Thomas Fostervoll vernommen?«
»Der war nicht so leicht zu bezirzen«, erwiderte Marit Gaasland und ließ ihre Lachfältchen wieder aufscheinen. »Im Gegensatz zum Vater. Ich habe ihn in seinem Büro am Fridtjof Nansens Plass aufgesucht. Da hat er die Karten erstmals auf den Tisch gelegt. Thomas Fostervoll hat ein Konto in der Schweiz entdeckt, das auf den Namen seiner Schwester läuft und nicht nur eine, sondern fast zwei Millionen norwegische Kronen führt. Da hat er zunächst überlegt, wie er die Summe aus dem offiziellen Nachlass heraushalten kann. Alle warten ja auf eine Änderung der Erbschaftssteuer in nächster Zeit. Deswegen sitzt auch Sverre Juniors Mutter bis heute mit den Aktien im Hotel.« Marit Gaasland zuckte mit den Schultern. »Der einzige Grund für diese Aufrichtigkeit ist die Tatsache, dass das Geld in der Fernsehsendung erwähnt wurde. Die Tochter hatte ihrem Vater schließlich erzählt, dass der Onkel das Geld in der Hinterlassenschaft gefunden hatte. Darüber hinaus hatte Thomas Fostervoll kaum etwas über seine Schwester und deren Vorhaben zu berichten. Als ich versuchte, ihn über das Geld und die Geschäfte seiner Schwester auszufragen, wurde er zum arroganten Anwalt. Er wisse nicht mehr als das, was er in den Hinterlassenschaften gefunden habe, und in fünf Minuten sei bereits der nächste Termin. Das war alles.«
Moen trommelte auf die Tischplatte.
»Falls er etwas gewusst hat, das mit dem Verschwinden seiner Schwester in Zusammenhang stehen könnte, dann hätte er doch wohl mit uns zusammengearbeitet, oder was glauben Sie?«
Marit Gaasland blickte zu Moen auf und verzog den Mund.
»Ich hab ja nicht Ihre Erfahrung, aber nachdem er alle Fakten über das Konto in der Schweiz offengelegt hat, schien er mir immer noch sehr auf der Hut zu sein. Er hat es ja erst verschwiegen, und obwohl er deswegen nicht gerügt wurde und die Sache aus der Welt war, konnte ich keine Erleichterung bei ihm verspüren.«
»Das behalte ich mal im Hinterkopf. Was hat sich beim NRK ergeben?«
»Im Prinzip nichts Neues, aber alles etwas genauer dokumentiert. Die Freundin aus der Redaktion war in der Tat mit dabei auf dem Fest in der Wohnung an der Aker Brygge, die auch tatsächlich dem sogenannten medienscheuen Finanzmann gehört. Aus dieser Wohnung wurde ja auch die Waffe gestohlen, mit der Sverre Midtsem sr. sich umgebracht hat. Außerdem hat sie Linn Fostervoll im Gespräch mit ebenjenem Mann beobachtet, irgendwo in einem Lokal in Oslo-West, wo sich die Prominenten treffen. Das wurde dann mit Sverre Midtsems Aussage in Verbindung gebracht, dass der ›Medienscheue‹ ein Angebot zum Kauf des Hotels vorgelegt habe. Eine Wahrheit mit Abweichungen, wie sich zeigte.« Marit Gaasland blätterte in ihren Papiere und las:
»Sverre Midtsem jr. fand in den hinterlassenen Papieren seines Vaters wirklich ein Angebot zum Kauf des Hotels, doch war das von Fred Morgan Henriksen unterschrieben, einem bekannten Wirtschaftsanwalt.«
»Wie heißt denn dieser sogenannte Finanztycoon?«
»Halvdan Hohle Krokfoss.«
Moen hob den Kopf. Der Name weckte seine Neugier, und er fragte, wie dieser Krokfoss mit dem Angebot in Verbindung gebracht werden könnte.
»Fred Morgan Henriksen kümmert sich um viele seiner Angelegenheiten, den Untersuchungen der Faktor-Redaktion nach zu urteilen. Interessant ist auch, dass weder Sverre Midtsem jr., noch seine Mutter, noch der Familienanwalt etwas von dieser Anfrage wussten.«
»Wer behauptet das?«, fragte Moen und bemerkte gleich seinen krassen Tonfall. »Die haben doch wohl nicht mit der Mutter oder dem Familienanwalt gesprochen, soweit ich mich erinnere?«
Marit Gaasland errötete. »Sie erinnern sich wohl nicht, dass ich das mit seiner Mutter geklärt hatte. Mittlerweile habe ich auch mit dem Anwalt der Familie geredet, der Juniors Darstellung ebenfalls bestätigt.« Marit Gaasland sah Moen beschämt an. »Ich versuche nur, die tatsächlichen Erkenntnisse oder einen Mangel an solchen aufzuzeigen, die den Spekulationen von Faktor zugrunde liegen.«
Moen hob abwehrend die Hände. »Wenn ich ungehalten klinge, dann bezieht sich das auf den NRK. Tut mir leid.«
Marit Gaasland war noch nicht völlig überzeugt. »Ich habe Angst, dass Sie glauben, ich beschäftige mich hier mit Dingen, die keine Relevanz für den Fall haben. Dass Sie denken, ich laufe hier in eine Sackgasse.«
Moen breitete die Hände aus. »Liebe Marit. Folgen Sie einfach Ihrem Instinkt. Niemand weiß derzeit, was relevant ist und was nicht.«
Marit Gaasland wirkte nicht besonders glücklich, als sie auseinandergingen.