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Moen spazierte durch den Ortskern von Bjørkelangen. Auf der Einkaufsstraße war kaum jemand unterwegs. Die Trostlosigkeit wurde von Bjørkelangen Buch & Papier unterstrichen, dessen geschlossene Geschäftsräume mit eingeschlagener Tür hinterlassen worden waren. Das Büro des Lensmanns lag hinter dem Rimi-Supermarkt gleich neben dem Romerike Medienhaus und teilte sich die Räume mit einer Zahnarztpraxis.

Der Lensmann begrüßte ihn am Empfang. Sie stellten einander vor, während der Lensmann ihn in sein Büro führte. Ein leicht mürrischer Zug lag auf dem Gesicht des Lensmanns, als er sich setzte und eine Akte öffnete.

»Zwei meiner Beamten haben mir erklärt, worauf Sie hinauswollen. Anfang der Woche haben die beiden Sie ja schon herumgefahren.« Er faltete eine Landkarte auseinander und nahm sie in Augenschein. »Es wäre wohl passender gewesen, wenn Sie sich direkt an mich gewandt hätten.«

Moen fühlte sich unwohl. Um weiterzukommen, war er auf die hiesige Dienststelle des Lensmanns angewiesen. Er erklärte die Umstände, die zu der Fahrt geführt hatten. Als Entschuldigung benutzte er den Ausdruck: »Mitgerissen werden«. Das Gesicht des Lensmanns von Bjørkelangen verdeutlichte, was er von Leuten hielt, die sich mitreißen ließen und den Dienstweg vernachlässigten.

Moen schwieg einen Augenblick und begriff schließlich, seine Initiative könnte als Kritik an der von der lokalen Polizei durchgeführten Suchaktion und als listiges Manöver verstanden werden, ihr hinter ihrem Rücken in die Karten zu schauen. Er versuchte es erneut.

»Ich weiß sehr genau, dass die Suche nach Linn Fostervoll nach allen Regeln der Kunst und nach aktuellem Kenntnisstand durchgeführt wurde, aber ich bin nun einmal abgestellt worden, um die ganze Sache noch mal zu durchdenken. Als Ihre Beamten auftauchten, war ich eigentlich schon auf dem Sprung zu Ihnen, aber dann konnte ich der Versuchung nicht widerstehen.« Moen hörte selbst, wie lahm das klang, und breitete die Arme aus.

»Zum ersten Mal in meiner Karriere wurde ich gebeten, ein Gedankenspiel durchzuführen. Möglicherweise ist es mir schwergefallen, die Aufgabe ernst zu nehmen. Das ist der eigentliche Grund für die nicht ganz korrekte Vorgehensweise. Ich habe gespielt, und ich bedaure es zutiefst, wenn Sie denken, ich würde ...«, Moen hielt einen Augenblick inne, »wenn Sie denken, dass ich Ihnen hinter Ihrem Rücken in die Karten schaue.« Abermals breitete er die Arme aus. »So, jetzt ist es gesagt.«

Der Lensmann lehnte sich zurück.

»Wir haben schon eine Menge Arbeit in diesen Fall investiert und sind auch nicht sonderlich darauf erpicht, alles noch mal durchzugehen, aber es wäre schon besser gewesen, wenn man uns von Anbeginn an dem ganzen Prozess beteiligt hätte.«

»Das verstehe ich gut, aber der ganze Auftrag war sozusagen inoffiziell.«

»Heute sind Sie hier, weil Sie um Unterstützung bitten möchten, nicht wahr? Es ist aber nicht so einfach, die Verwendung öffentlicher Mittel zu rechtfertigen, wenn der ganze Auftrag inoffiziell ist. Haben Sie Rückendeckung von der Kripo?«

Moen überlegte. Hatte er das? Er beschloss, Ja zu sagen.

Der Lensmann nickte und deutete auf die Karte.

»Ich kenne Ihre Überlegungen. Wir sind da oben schon gewesen und haben uns die Gegend angesehen. Hört sich wirklich nach einem Schuss ins Blaue an. Es kann schon so vonstattengegangen sein, wie Sie mutmaßen, aber bedenken Sie, dass es in der Kommune viele Kilometer einsamer Waldwege gibt. Meilenweit erstrecken sich vom Fundort des Wagens Sümpfe und Seen in alle Himmelsrichtungen. Wir suchen nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Daher muss ich auch fragen, wieso Sie nun ausgerechnet auf diesen Ort gekommen sind?« Moen zuckte mit den Schultern.

»Das ist nicht so leicht zu erklären. Es ist nur einfach dahin gekommen, dass ich jetzt wissen muss, ob sich Linn Fostervoll dort befindet oder nicht. Wenn Sie mir nicht helfen können oder wollen, muss ich mir andere Wege suchen.«

Der Lensmann setzte ein schiefes Grinsen auf.

»Das erinnert mich jetzt doch sehr an TV Norge. Haben Sie hellseherische Fähigkeiten?«

»Nein, aber manchmal setzen sich die Dinge einfach fest und verlangen nach Antwort.«

Der Lensmann nickte.

»Ich will mal nicht so ein Querkopf sein. Für Mittwoch und Donnerstag nächster Woche kann ich Mannschaften bekommen, auch Hunde.«

»Und was ist mit dem See?«

»Wir sind hier in einer kleinen Kommune. Die Feuerwehr arbeitet nur Teilzeit, Taucher haben wir auch keine. Aber wir arbeiten mit den Leuten in Nedre Romerike zusammen. Ich werd mich mal umhören.«

*

Moen saß mit einem halb aufgegessenen Brötchen und einer Tasse Kaffe in der örtlichen Bäckerei und wurde sich mit einem Mal darüber klar, dass sein Verhältnis zu anderen Menschen nicht mehr wie früher war. Noch vor zwei Jahren wäre er dem Lensmann gegenüber nicht so derart ungeschickt aufgetreten. Er dachte an Astrid Bredeveien, die ihm wohlgesinnt war, sich aber offenbar Sorgen machte, wie er sich innerhalb der Behörde verhielt. Er wusste nicht einmal mehr den Namen seiner neuen Kollegin in der Vermisstenabteilung. Moen erinnerte sich indessen deutlich an den Widerwillen, den er angesichts des Informationsflusses der jungen Frau verspürt hatte, Informationen, die wahrscheinlich nur wenig oder keine Relevanz für die Klärung der Sache hatten, Informationen, die sie mit Neugier, Eifer und der inneren Überzeugung, der Sache auf den Grund zu kommen, gesammelt hatte. Woran stieß er sich bloß? In Gedanken versetzte er sich auf den Stuhl beim Lensmann in Bjørkelangen zurück. Worin lag das Unbehagen? Die Antwort war ziemlich einleuchtend: Er hätte den Job am liebsten ganz allein gemacht. Er war es schlichtweg verdammt leid, jeden Schritt und jede Entscheidung zu erklären, begründen, dokumentieren, rechtfertigen, beantragen zu müssen, als dringend anerkannt zu bekommen oder einzufordern, obendrein meist Leuten gegenüber, die ganz andere und nicht selten auch geheime Absichten verfolgten. Abrupt stand er auf und verließ das Lokal. Er klemmte sich wieder hinter das Steuer des Volvos und blieb dort sitzen wie ein leerer Sack, bis sein Handy klingelte.

»Wo bist du?«, fragte seine Lebensgefährtin Gudny Leirvaag.

»Auf einem Parkplatz in Bjørkelangen«, erwiderte er.

»Denkst du auch daran, was ich dir aufgetragen habe?«

»Ja, und die Antwort ist Nein. Du solltest es doch besser wissen, als mich um so was zu bitten.«

Gudny Leirvaag fauchte ins Telefon.

»Ich hab dir doch erklärt, wie du es machen sollst. Du darfst siebenundzwanzig Liter Wein importieren. Neun Drei-Liter-Kartons. Wenn Zöllner an der Grenze stehen, was so gut wie nie der Fall ist, dann verzollst du ihn eben.«

Moen antwortete nicht.

»Bist du noch da?«

»Ja.« Er zögerte. »Du weißt, dass ich keine Lust habe, so was zu machen.«

»Weißt du was, Knut? Langsam nehm ich das persönlich. Es scheint fast, als ob dir unser Verhältnis nichts wert ist. Wie oft bitte ich dich schon mal um so was? Überleg’s dir«, sagte sie und legte auf.

*

Moen kam ihrer Bitte nach. Er überlegte es sich. Das abgekühlte Verhältnis zu seiner Lebensgefährtin war eine Tatsache. Moen hatte die ganze Zeit beabsichtigt, Ordnung in diese Beziehung zu bringen, jetzt wo er mehr zu Hause war. Doch tatsächlich war das Gegenteil passiert, und er wälzte die Schuld auf dieses trostlose Café in der Toftes Gate ab. Gudny Leirvaag wurde immer verzweifelter und nahm nun ihn unter Beschuss, anstatt zu begreifen, dass ihr Café keine Zukunft hatte. Was er nun erlebte, war außerdem ein deutliches Anzeichen dafür, dass seine Lebensgefährtin sich von jeglicher Rationalität und Vernunft verabschiedet hatte. So dachte er zumindest.

Auf der anderen Seite hatte er nicht viel getan, um sie zu unterstützen. Die Wahrheit war wohl eher in seiner Weigerung zu sehen, sich nicht für etwas engagieren zu wollen, das in seinen Augen vor dem Abgrund stand. Moen legte den Kopf auf das Lenkrad, bekam jedoch eine plötzliche Eingebung, richtete sich auf, drehte den Zündschlüssel um und fuhr los.

Als er sich auf der Straße nach Kongsvinger in der Nähe von Skotterud befand, fegte auf einem langen geraden, doch schmalen Abschnitt ein großer schwarzer Range Rover mit getönten Scheiben an ihm vorbei und wich mit knapper Not einem Traktor aus, der auf der linken Seite auf die Landstraße einbog. Dies brachte Moen vollends zurück zu seiner Ermittlung. Auf dem ganzen Weg bis nach Morukulien kreisten seine Gedanken um die Arbeit, bis sich die Bedenken – oder Skrupel – wieder meldeten. Noch immer hatte er einen Job zu erledigen, und die leicht unbesonnene Stimmung aus Bjørkelangen hatte sich etwas gelegt. Immerhin sah es so aus, als hätten sich die Zollbeamten beider Länder schon zur Ruhe begeben, und er raste weiter bis zum Charlottenberg Shoppingcenter.

Es war Freitagnachmittag, viele Leute waren da. Er mühte sich verzweifelt ab, eine schwedische Münze für den Einkaufswagen zu ergattern, doch eine ältere Norwegerin erbarmte sich seiner. Gegen eine norwegische Zehnkronenmünze bekam er ihren Wagen. Für sie war das ganz klar ein Geschäft. Sie grinste über das ganze Gesicht. Moen manövrierte sich durch den Menschenstrom im Laden des Alkoholmonopols, bis er Rotwein in Kartons fand, die selbstverständlich ganz hinten im Laden standen. Vor einem Wein, der für seine Begriffe extrem billig war, blieb er stehen und nahm drei Neun-Liter-Kartons aus dem Regal. Das war ein Kompromiss. Fünf Minuten später war er auf dem Weg zurück zum Auto und blickte sich verstohlen um. Augenscheinlich waren alle um ihn herum mit sich selbst beschäftigt. Als er die Heckklappe des Volvos öffnete, stand er vor seinem ersten Dilemma. Sollte er die Kartons in das Fach unterhalb des Kofferraumbodens legen? Nein. Er würde sie verzollen. Die Einkaufstüten sollten offen sichtbar sein. Frustriert schüttelte er den Kopf und spürte, wie er unter den Armen und auf der Stirn schwitzte.

Nach einer Minute befand er sich wieder auf der Hauptstraße mit den beiden Kreisverkehren und fuhr zurück in Richtung Norwegen. Im Rückspiegel entdeckte er wieder den schwarzen Range Rover, drei Autos hinter ihm. Eine Minute später hatte er unmittelbar hinter ihm aufgeschlossen. Sie rasten an einem Schild vorbei, das rechts in den dunklen Wald deutete und »Shabby Chic 700 m« verkündete, bis sie schließlich zum letzten Straßenabschnitt vor dem Grenzübergang kamen. Dort vollzog der Range Rover ein weiteres gefährliches Überholmanöver. Dieses Mal war es ein norwegisches Rentnerpaar, das mit dem Schrecken davonkam, und Moen notierte sich das Kennzeichen, bevor der Range Rover in der Ferne verschwand und die Grenze sich näherte. Moen fuhr rechts über die rot markierte Spur, hielt an und stieg aus.

Auf beiden Seiten der Grenze gab es kein Lebenszeichen. Am unbesetzten Abfertigungsschalter des norwegischen Zolls waren die Fenster dunkel. Die Situation auf der schwedischen Seite war die gleiche. Nach einer Zigarette und einem Moment des Zögerns resignierte er. Seine Landsleute rasten mit vollgepackten Autos über die Grenze und schauten neugierig zu dem Mann hinüber, der dort stand. Knut Moen resümierte, dass er zwar versucht hatte, seine Waren zu verzollen, ihm das aber nicht gelungen war. Zwischen zwei Autos zwängte er sich auf die Straße zurück und fuhr mit fünfzig Stundenkilometern in einer endlos langen Schlange von Norwegern zurück in die Heimat und dem Wochenende entgegen.

Plötzlich wurde scharf gebremst. Die beiden Autos vor ihm fuhren an die Seite, dann tauchte ein Zöllner mit Stoppschild auf und winkte ihn an den Straßenrand. Den beiden Autos hinter ihm widerfuhr dasselbe Schicksal. Jetzt standen alle an der Abzweigung zum ersten Café auf norwegischer Seite. Bevor er wusste, wie ihm geschah, traten Zollbeamte rechts und links neben die fünf Wagen und spähten zum Fenster herein. Die anderen Autos durften weiterfahren, doch Moen wurde weiter in die Weggabelung hineindirigiert und hievte sich mit weichen Knien aus dem Wagen.

Die Stadt mit dem großen Herzen

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