Читать книгу Die Stadt mit dem großen Herzen - Jørgen Gunnerud - Страница 7
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ОглавлениеAm nächsten Tag saß Moen mit Kamera und Laptop in einem Konferenzraum der Kripo. Astrid Bredeveien kam mit der »äußerst tüchtigen Mitarbeiterin« herein. Sie war hübsch, blond und ziemlich groß. Lächelnd ergriff sie seine Hand. Fast schien es, als wollte sie einen Knicks machen.
»Marit Gaasland, mein Name.«
Sie setzte sich und stellte ihre Handtasche auf den Tisch. Moen musterte sie. Hellgraues Kostüm, Bluse und Perlenkette – eine Zierde für jedes Vorzimmer in der freien Wirtschaft. Moen lächelte und kratzte sich verlegen an der Wange. Fragend blickte er zu Astrid Bredeveien, die nickte, woraufhin er begann.
Moen resümierte die Ergebnisse des gestrigen Tages. Nachdem er seine Hypothese noch einmal durchgegangen war, kristallisierte sich der wichtigste Punkt heraus – man hatte sie ganz sicher vom Tatort weggebracht. Da der Wagen unverschlossen war, musste man davon ausgehen, dass dies unfreiwillig geschehen war und man sie außerhalb der Reichweite von Suchtrupps gebracht hatte. Falls die betreffende Person oder die Personen sich am Tatort nicht sonderlich gut auskannten, hatten sie sie anschließend irgendwo auf der Straße wieder aus dem Wagen geworfen. Vielleicht an einer Stelle, die sie sich vorher ausgesucht hatten, vielleicht aber auch nicht, doch sehr wahrscheinlich an der Straße Richtung Oslo, am ehesten vor dem Zentrum von Bjørkelangen, irgendwo bevor das unbebaute Land endete.
Moen bat um Stellungnahmen zu seiner Hypothese bis hierher. Es gab keine Einwände.
»Sie haben mich gebeten, sie als Opfer eines Verbrechens zu betrachten. Andere Möglichkeiten habe ich außer Acht gelassen.«
»Fahren Sie fort«, erwiderte Astrid Bredeveien.
»Falls sie weggebracht wurde und sich zur Wehr gesetzt hat, denke ich, dass es mindestens zwei Täter beziehungsweise ein Täter und eine Täterin waren. Muss ich das näher begründen?«
Beide schüttelten den Kopf.
»Zunächst stellte ich mir vor, wie sie wahrscheinlich angehalten hätte, wenn da ein teurer Wagen und zwei attraktive Norweger gewartet hätten. Der Fernsehbeitrag deutet schließlich an, dass es da etwas gab, was die Aufmerksamkeit irgendwelcher Schläger erregte, doch deren Modus Operandi besteht ja für gewöhnlich aus Einschüchterungs- und Bestrafungsaktionen. So etwas kann selbstverständlich auch schiefgehen, aber ich verstehe nicht, wieso sie sich dann in Ytre Enfold auf die Lauer gelegt haben oder woher sie ihre Gewohnheiten so gut kannten. Wenn es also ein geplanter Überfall war, so muss jemand dahinterstecken, der ihr nahegestanden hat, nicht wahr?«
Die beiden Frauen nickten, und Moen fuhr fort:
»Die Alternative besteht in einem spontanen Überfall, und da es ganz klar nicht um Geld oder Wertsachen ging, ist es vielleicht am wahrscheinlichsten, dass wir es mit einem Sexualverbrechen zu tun haben. So denke ich mir das mittlerweile.« Moen lächelte. »Selbst auf die Gefahr hin, vorurteilsvoll zu klingen, ist unser Land dennoch voller alleinstehender Männer aus fremden Ländern. Handwerker aus Osteuropa, Asylsuchende aus dem Mittleren Osten, einige mit kriminellem Lebenslauf, andere mit Gewalt und Überfällen durchaus vertraut. Normalerweise haben sie wenig Geld. Einige schmuggeln Waren aus Schweden ein, die man dort für den halben Preis bekommt. Sie sehen eine Frau alleine auf einem Parkplatz stehen und halten an. Wahrscheinlich sozial eingestellt und kontaktfreudig, hat sie wie die meisten Journalisten keine Vorurteile oder Einwände gegen unsere neuen Landsleute.«
Moen ließ seine Darlegungen ausklingen und setzte ein schiefes Lächeln auf. Er hielt dieses Szenario für durchaus realistisch, dachte aber unmittelbar daran, was wohl geschähe, wenn er sich in der Öffentlichkeit derart äußerte. Astrid Bredeveien lächelte ebenfalls und schüttelte den Kopf.
»Ich bin froh, dass wir hier unter uns sind. Das Schlimmste ist allerdings, dass Sie womöglich recht haben.«
Marit Gaasland sagte nichts, doch das Lächeln lag hinter ihren hellblauen Augen versteckt.
Astrid Bredeveien sah die beiden bekümmert an. »Sie meinen also, dass nach ihrem Verschwinden gewissermaßen an der falschen Stelle gesucht wurde?«
Moen zuckte mit den Schultern.
»Diese Suchaktion ist ja Grundlage meiner Spekulationen. Wenn man etwas weiterdenken würde, müsste man die Suche vielleicht ausweiten, aber das Rennen ist wohl gelaufen, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Auf dieser Grundlage kommt es überhaupt nicht infrage, den ganzen Apparat wieder in Gang zu setzen. Das ist ja wohl einleuchtend.« Astrid Bredeveien blickte ihn unsicher an. »Haben Sie eine Idee?«
Moen zögerte etwas, sagte dann:
»An der Landstraße 170 zwischen Setten und Bjørkelangen habe ich ein paar Untersuchungen durchgeführt. Ich erkläre Ihnen mal, was ich denke.«
Moen schaltete das Laptop ein und zeigte einige Bilder.
»Dieser Weg oder besser gesagt dieser Pfad führt ein paar hundert Meter vom Parkplatz entfernt in nördlicher Richtung an diesem See entlang. In einer kleinen Bucht, die man vom Weg aus nicht sieht, gibt es an einer Lichtung im Wald eine Art Angel- oder Feuerplatz. Dieser Platz liegt ganz ungestört und ist von keiner Stelle aus richtig einsehbar. Im Notfall, denke ich, könnte man einen guten Wagen, zumindest einen Wagen mit Allradantrieb, von der Straßenabzweigung aus dorthin manövrieren. Sogar die Abzweigung ist von der Straße aus leicht zu übersehen. Es gibt wahrscheinlich viele solcher Stellen, aber diese habe ich auf Anhieb gefunden, ohne mich in der Gegend gut auszukennen.« Moen blickte verstohlen zu Astrid Bredeveien hinüber und schnitt eine Grimasse. Dann lächelte er entwaffnend. »Ein Schuss ins Blaue. Ich weiß, aber ...«
»Aber was?«, fragte seine Chefin.
»Wahrscheinlich habe ich diesen alten Film über den See der Toten zu oft gesehen, wie auch immer. Auf alle Fälle hätte ich Lust, mir das Ganze mal näher anzuschauen.«
»Alleine?«
»Ich hab eine Verabredung mit dem Lensmann in Bjørkelangen und würde das mit ihm gerne durchsprechen.«
»Wann?«
»Um eins. In der Mittagspause muss ich los.«
Astrid Bredeveien sah auf die Uhr. Es war halb elf. Sie wandte sich an Marit Gaasland.
»Was haben Sie herausgefunden?«
»Fürs Erste würde ich es gerne mit einer kleinen Übersicht versuchen. Ich bin von Linn Fostervolls kleiner Welt ausgegangen, um es mal so auszudrücken. Ganz am Ende des Parkveien liegt das kleine Familienhotel der Midtsems, das Sverre jr. die letzten zehn Jahre im Auftrag seiner Eltern geführt hat. Nachdem der Vater sich umgebracht hat, lebt die Mutter heute als Witwe mit dem Nachlass. Sie hat die Wohnung an der Leangbukta verkauft und wohnt jetzt in einem kleinen Apartment im Hotel. Sie ist nicht bereit, über die Geschehnisse zu sprechen. Ihr Mann hat sich das Leben genommen, und ihr Sohn ist über jeden Verdacht erhaben. Das hat ihr die Polizei versichert.«
»Und sein Alibi?«, fragte Bredeveien.
»Darauf komme ich noch zurück«, erwiderte Gaasland. »Die Mutter streitet die Behauptung der Fernsehsendung Faktor über den geplanten Kauf ebenfalls ab. Ohne ihre Einwilligung hätte ihr Mann seine Aktien nicht verkaufen können. Ursprünglich waren sie und ihre Familie Eigentümer des Hotels, ihr Sohn sollte das Erbe weiterführen. Übrigens hat sich der Familienanwalt um diese Dinge gekümmert. Seinen Namen habe ich.
Dann möchte ich gerne zu Monica Midtsem kommen, der neuen Frau des Sohns. Ich habe die starke Vermutung, dass sie diejenige ist, die das Hotel führt. Sie hat eine Ausbildung im Hotelfach und wirkt sehr ehrgeizig. Sverre Midtsem jr. hat vor einigen Jahren seinen Master in Kunstgeschichte gemacht und betreibt ein Antiquitätengeschäft, zusammen mit seinem alten Freund und Nachbarn John Glad. Er arbeitet zwar auch ein paar Schichten im Hotel, doch es hat den Anschein, als hielte seine Frau das Ruder fest in der Hand. Die Tochter wohnt jetzt mit dem Vater und der Stiefmutter in einer Wohnung im Parkveien, gleich gegenüber dem Hotel. Monica Midtsem ist die Eigentümerin der Wohnung.
Der erwähnte John Glad und seine Schwester Merete sind die Erben eines recht bekannten Mannes aus Oslo, der in den sechziger und siebziger Jahren als Bauunternehmer tätig war. Das Erbe besteht aus einem großen Eckhaus im Bauhaus-Stil neben dem Hotel. Die Wohnungen sind vermietet, und die beiden beziehen daraus wohl ihr Einkommen. Sverre Midtsem kennt sie seit der Kindheit. Merete Glad und Linn Fostervoll befreundeten sich auf der Oberschule, und so lernten sich Sverre und Linn kennen. Als sie sich trennten, arbeitete Monica Midtsem bereits im Hotel. Linn behielt die Wohnung des Paares im Eckhaus sowie das gemeinsame Kind. Ihre Wohnung hatten sie also von ihren Freunden gemietet, dem Geschwisterpaar. Sverre Midtsem zog schließlich zu seiner neuen Frau Monica.« Marit Gaasland blickte unsicher zu Astrid Bredeveien. »Bin ich zu ausführlich? Ich versuche nur zu zeigen, wie diese Menschen alle miteinander verbunden sind. Alle, mit denen ich gesprochen habe, sagen außerdem, dass Merete Glad die einzige Freundin war, zu der Linn Fostervoll eine längerfristige Beziehung unterhielt.«
»Was ist mit Sverre Midtsems Alibi?«, fragte Moen. »Ich interessiere mich natürlich sehr für ihn und seinen Kumpel.«
»Zum Zeitpunkt von Linns Verschwinden haben Sverre Midtsem und John Glad einen Nachlass abtransportiert. Das war im Gimleveien in Frogner. Der Auftraggeber und sein Sohn haben sie auf Bildern wiedererkannt, und für den Zeitpunkt des Abtransports haben wir mit der Rechnung einen schriftlichen Beleg. Midtsems Tochter war am selben Tag während ihrer großen Pause im Hotel und hat mit Oma und Stiefmutter gesprochen. Alle waren also an Ort und Stelle in der Stadt, weshalb ich der Meinung bin, wir müssen uns woanders umsehen. Dazu würde ich auch gerne noch etwas sagen.«
»Sollte Moen also recht haben?«, murmelte Astrid Bredeveien. Sie sah mutlos aus, doch dann lächelte sie. »Endlose Wälder und Sümpfe auf der einen Seite und hieb- und stichfeste Alibis auf der anderen. Vielleicht haben wir uns zu viel zugemutet? Aber entschuldigen Sie, Marit. Was wollten Sie sagen?«
»Linn Fostervoll hatte ja auch noch eine eigene Familie. Die Eltern haben vor einigen Jahren ihre Wohnung in Skillebekk verkauft und sind nach Spanien gezogen. Ich werde später noch mit ihnen telefonieren. Wenn sie nach Norwegen kommen, wohnen sie bei ihrem Sohn, der ein großes Haus auf Nesøy hat. Er ist Anwalt und verwaltet die Hinterlassenschaften seiner Schwester treuhänderisch für deren Tochter.« Marit Gaasland blickte von ihren Unterlagen auf. »Und hier möchte ich gerne ein bisschen mehr erfahren. Ich bin dem Vater des Kindes, Sverre Midtsem, etwas auf den Pelz gerückt, was die Million auf Linns Konto betrifft. Das hat er ja in der Fernsehsendung behauptet. Dabei habe ich erfahren, dass der Onkel des Mädchens, also Linns Bruder, der Nachlassverwalter ist. Das Mädchen hatte ihn sagen hören, die Mutter habe ihr eine größere Geldsumme vermacht, und das hat sie dann gleich ihrem Vater erzählt. Sie glaubte, es sei eine Million. Ich habe Linns Bruder angerufen, aber er war nicht bereit, darüber zu sprechen. Ich brauche wohl noch etwas Zeit, um der Sache auf den Grund zu kommen. Ich habe auch ein Treffen mit den Leuten von der Brennpunkt-Redaktion im NRK vereinbart, aber das findet nicht vor Montag statt.«
»Welchen Eindruck hatten Sie von den Leuten, mit denen Sie gesprochen haben, mal abgesehen davon, dass sie sich alle nahestanden?« Astrid Bredeveien blickte wieder auf die Uhr, und Marit Gaasland verstand den Wink. Sie fasste sich kurz:
»Der Exmann war sehr nett. Mit ihm konnte ich ganz gut reden. Mit seinem Kompagnon John Glad war es allerdings ein wenig unangenehm. Diese Antiquitätenhändler sind ja ohnehin meist etwas schlampig, doch Glad war für den vornehmen Osloer Westen erst recht ein bisschen zu ungepflegt. Monica Midtsem ist Hotelfrau durch und durch, glatt wie Teflon. Von ihr kriegt man nichts umsonst. Merete Glad wirkt sportlich und durchtrainiert. Etwas zynisch.«
Astrid Bredeveien stand auf.
»Dann treffen wir uns hier am Dienstagmorgen wieder und entscheiden dann, wie weit wir diesen Fall noch weiter verfolgen. Und Ihnen beiden wünsche ich ein schönes Wochenende.«