Читать книгу Die Stadt mit dem großen Herzen - Jørgen Gunnerud - Страница 12
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ОглавлениеAls das Bergungsfahrzeug ans Ufer vorrückte, standen eine Einsatzmannschaft der Kripo und eine Ambulanz am Tatort bereit. Die Beamten des Lensmanns waren am Straßenrand postiert, um den Verkehr und die Schaulustigen im Auge zu behalten. Der Fahrer des Bergungswagens reichte den Haken an den Froschmann im Boot weiter, das dann langsam zurücktuckerte, während der Bergungsmann die Seilwinde abrollen ließ. Mit einem Platschen ließ der Taucher sich rückwärts ins Wasser fallen. Die Ringe breiteten sich im schwindenden Abendlicht über das Wasser aus. Als sie die Wasserlilien am Ufer erreichten, war die Atmosphäre fast märchenhaft, und niemand sagte ein Wort, bis der Taucher wieder oben war und den Daumen in die Luft reckte. Der Bergungsmann gab sich mit dem Daumen nicht zufrieden. Er wollte wissen, wo am Auto der Taucher das Drahtseil befestigt hatte, und bekam schließlich Bescheid, es sitze an der Hinterachse. Er nickte und hievte das Auto langsam und stückweise nach oben, während der Froschmann mit seiner Tauchermaske auf der Wasseroberfläche lag und die Aktion verfolgte. Plötzlich gab es einen Ruck, das Drahtseil gab ein klagendes Geräusch von sich, und der Bergungsmann hielt die Seilwinde an. Der Taucher schwamm ans Ufer und stieg aus dem Wasser.
»Drei, vier Meter weiter draußen ist eine Felskante, der Wagen hängt jetzt ungefähr in einem rechten Winkel am Seil. Wenn du ein Stückchen weiter einziehst, knallen die Hinterräder über die Kante. Das wird wohl nicht gutgehen, aber ich glaube kaum, dass der Besitzer protestiert.«
Der Mann an der Seilwinde kratzte sich am Kopf, setzte sich in sein Fahrzeug und manövrierte es so nah wie möglich ans Ufer, wodurch er die Strecke verkürzte. Dann schickte er alle weg, für den Fall, dass das Seil riss. Der Bergungsmann schloss einen Moment die Augen, als schickte er ein Gebet gen Himmel, und ließ es darauf ankommen.
Der Wagen durchbrach die Wasseroberfläche und rollte das letzte Stück ans Ufer. Moen fiel es nicht schwer, den Wagen als einen feuchten Traum aus der Jugendzeit zu identifizieren. Es war ein Jaguar E-Type Roadster aus den sechziger Jahren.
»Komische Farbe«, hörte er den Lensmann hinter sich sagen und wandte den Kopf um: »Wieso?«
»Das ist eine Cadillac-Farbe. Türkis.«
Augenblicklich zog Moen sein Notizbuch hervor und schrieb das Kennzeichen auf. Es begann mit KE. Der Wagen war also im Regierungsbezirk Buskerud registriert. Die Leute von der Spurensicherung in ihren weißen Schutzanzügen kamen hinzu und leuchteten ins Wageninnere. Moen schaute auf der Fahrerseite hinein. Der Wagen hatte das Lenkrad auf der linken Seite, und einer der Männer vom Einsatzteam der Kripo lief um den Wagen herum.
»Wir öffnen die Tür auf dieser Seite, dann bekommen wir das Wasser raus.«
Moen trat ein paar Schritte zurück, und der Kollege öffnete die Tür. Das Wasser strömte heraus, und Moen näherte sich vorsichtig. Der Beamte setzte sich an der Tür in die Hocke und leuchtete wieder in den Wagen, während Moen sich vorbeugte und ihm über die Schulter sah. Gegen die Tür auf der anderen Seite gepresst saß eine Frau – der Kopf ruhte auf dem Armaturenbrett, das Gesicht von den Haaren verdeckt. Moen richtete sich auf und ging zu seinem Wagen, um die Kamera zu holen. Als er zurückkam, sprachen die Männer des Einsatzteams miteinander und wandten sich dann an Moen.
»Soweit wir es beurteilen können, hat sie eine Weile im Wasser gelegen«, sagte der eine.
»Eine Frau?«, fragte Moen.
»Soviel immerhin steht fest«, gab der andere zurück. »Die Straßenwacht überführt den Wagen samt Leiche direkt in die Rechtsmedizin. Da können wir das Ganze viel einfacher hantieren. Einer von uns begleitet den Fahrer.«
»Kann ich ein paar Bilder machen, bevor Sie fahren?«
»Natürlich. Wir müssen auch noch ein paar Aufnahmen machen.«
Die Tür stand offen. Moen hatte freie Sicht und richtete seine Taschenlampe auf die Leiche. Noch einmal ging er durch, woran er sich erinnerte: enge Jeans, geblümte Tunika? Kurze dunkle Lederjacke. Flache braune, halbhohe Stiefel. Er richtete sich auf, schüttelte den Kopf und grinste von einem Ohr zum anderen, ohne einen Gedanken an die Situation. Dann bemerkte er den Lensmann, der ihn mit hochgezogenen Augenbrauen und zerfurchter Stirn von der Seite begutachtete.
»Was hat das Lächeln zu bedeuten?«, fragte der Lensmann.
»Sie wollen doch nicht sagen, dass es die ist, nach der wir suchen?«
»Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber es besteht durchaus die Möglichkeit. Ich bin einfach nur ein bisschen überrascht.«
Moen machte eine Serie von Bildern. Als er fertig war, fotografierte das Einsatzteam die Tote, den Wagen und die Umgebung, danach wurde das Autowrack auf das Bergungsfahrzeug gehievt. Der Lensmann nahm seine Mütze ab, als die mutmaßliche Linn Fostervoll mit Einsatzwagen und Ambulanz im Schlepptau ihre letzte Reise antrat.
Seine Mitarbeiter folgten dem Beispiel ihres Chefs. Moen trug keine Mütze, hielt jedoch eine Hand in der anderen, wie Kirchgänger es für gewöhnlich taten.
*
Knut Moen saß in der Kantine des Polizeireviers von Asker und Bærum und kaute auf einem Schinkenbrötchen. Der Lensmann saß in seinem Büro und war mit der Kfz-Meldestelle beschäftigt. Nach dem langen Tag war Moen durchgefroren. Als er jetzt aufzutauen begann und wieder etwas Wärme in den Körper bekam, nickte er kurz ein. Moen erwachte, als der Lensmann sich an die andere Seite des Esstischs setzte.
»Ein bisschen seltsam, das Ganze«, sagte er. »Der Wagen ist auf jemanden registriert, der vor zwei Jahren verstorben ist.«
Moen schüttelte vorsichtig den Kopf. »Wissen Sie mehr über ihn?«
»In der Tat. Eine ganze Reihe von Oldtimern war auf ihn zugelassen, über zehn. Zwei der Fahrzeuge waren nicht alt genug, um dem Fiskus zu entgehen, und sollten aus dem Verkehr gezogen werden, weil die Steuer nicht bezahlt wurde. Keines der Autos, auch nicht der Jaguar, war als gestohlen gemeldet.«
»Wo wohnte der Halter?«
»In Ringerike. Ich hab den Namen des Besitzers im Telefonbuch gefunden und ihn angerufen.« Der Lensmann lächelte.
»Seine Witwe hat abgenommen. Der Anschluss läuft immer noch auf den Namen des Ehemanns. Alle Autos stehen in einem Gebäude, das der Verstorbene extra errichten ließ, um seine Autosammlung unterzubringen. Seitdem der Mann tot ist, hat die Witwe dort keinen Fuß mehr reingesetzt. Sie beabsichtigt, den Sohn alles regeln zu lassen, wenn ihr Nachlass eines Tages auf ihn übergeht. Soweit sie wusste, hatte sich der Sohn niemals sonderlich für das Hobby seines Vaters interessiert, aber wenn wir irgendwas in Verbindung mit den Autos wissen wollten, sollten wir ihn fragen.«
»Haben Sie alle Namen?«, fragte Moen vornübergebeugt.
Der Lensmann schob einen Zettel über den Tisch.
Moen nahm ihn und prüfte die Namen. Die Autos waren auf Erling Krokfoss zugelassen. Er verzog keine Miene, obwohl die Erkenntnisse aufsehenerregend waren.
Der Lensmann bemerkte nichts und fuhr fort:
»Ich hab das andere Nummernschild überprüft, wie Sie mich gebeten haben. Range Rover. Schwarz. Neuestes Modell. Der ist auf einen Mann namens Geir Ove Frisk angemeldet. Adresse ist Munkedamsveien in Oslo. Drei Punkte wegen zu hoher Geschwindigkeit. Achtunddreißig Jahre alt. Der Führerschein wurde seinerzeit in Hammerfest ausgestellt.«
Dieser Name sagte Moen nichts. Er notierte sich die Auskünfte und trank einen Schluck Kaffee. Dann sah er auf die Uhr und griff nach seinem Handy, das im selben Moment klingelte.
»Hier ist Astrid. Ich hab was läuten hören und warte auf Ihren Bericht. Warum rufen Sie nicht an?«
»Ich habe auf ein paar Auskünfte gewartet, die eben reingekommen sind. Ich wollte gerade mit Ihnen telefonieren«, sagte Moen.
Am anderen Ende der Leitung war es für einen Augenblick still.
»Ist es möglich, dass es sich um Linn Fostervoll handelt?«
»Lässt sich nicht ausschließen. Es ist eine Frau, und die Kleidung deutet zumindest darauf hin, aber zum momentanen Zeitpunkt weiß ich noch nicht so viel. Der Wagen ist mit der Leiche auf dem Weg in die Rechtsmedizin.«
»Das ist ja wirklich unfassbar. Der Chef wird einen Purzelbaum schlagen, wenn sie es ist.«
Moen massierte sich die Stirn und sah zum Lensmann hinüber, der dem Gespräch aufmerksam folgte. Astrid Bredeveien sprach so laut, dass Moen den Hörer ein wenig vom Ohr weghalten musste.
»Sie wissen, wie belastend diese Sache für uns hier gewesen ist. Die Presse, oder die Öffentlichkeit, wie sie sich gerne bezeichnet, verfolgt uns seit ihrem Verschwinden auf Schritt und Tritt. Die sind ja völlig hemmungslos, wenn es um ihre eigenen Leute geht. Sollten Sie sie tatsächlich gefunden haben, werde ich Ihnen höchstpersönlich einen Orden anheften. Wissen Sie schon irgendwas über den Wagen?«
Der Lensmann lächelte. Er hatte jedes Wort verstanden. Moen machte eine kleine Kunstpause, bevor er sich äußerte.
»Er ist unter dem Namen Erling Krokfoss registriert. Ein Oldtimer, soweit wir es beurteilen können, und der Besitzer ist tot. Seine Witwe Lillemor ist jetzt formal gesehen die Eigentümerin.«
»Sagten Sie Krokfoss? Gibt es da irgendeine Verbindung zu Halvdan Krokfoss?«
»Erling war sein Vater, die Witwe ist seine Mutter.«
»Sind Sie ganz sicher?« Frau Bredeveien war im ganzen Raum zu hören.
Moen runzelte die Stirn und sah den Lensmann fragend an, der zweimal nachdrücklich nickte.
»Mein Kollege ist sich ganz sicher. Er hat mit der Witwe gesprochen, die ihn an den Sohn weiterverwiesen hat. Halvdan Hohle Krokfoss.«
»Du meine Güte, jetzt muss ich überlegen. Morgen früh fliege ich nach Genf. Eine weitere EU-Konvention. Ich rufe Sie in einer halben Stunde wieder an. Verhalten Sie sich solange ruhig.«
Eine Stunde verging, und der Abend war gekommen.
»Ich habe Marit Gaasland instruiert«, sagte Astrid Bredeveien am Telefon. »Sie treffen Sie morgen früh um neun in der Rechtsmedizin, dann bekommen Sie das weitere Briefing. Schicken Sie mir eine SMS, wenn die Identifikation positiv ist.«
Mehr hatte sie nicht zu sagen. Moen stand auf, dankte dem Lensmann für die Zusammenarbeit und ging zu seinem Wagen. Von dort aus rief er seine Lebensgefährtin an. Sie nahm sofort ab, und Moen hörte Stimmen und Fernsehgeräusche im Hintergrund.
»Warte mal«, sagte sie und zog sich offenbar vor dem Lärmpegel zurück.
»Ich bin bei Grete in Lillestrøm. Ich bleib bis morgen hier. Wie geht’s dir?«
Moen erklärte, wie sich die Sache entwickelt hatte.
»Alles beim Alten, ich verstehe. Knut Moen macht das, was er am besten kann.« Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Wie sieht’s denn morgen aus? Soll ich mit dem Essen auf dich warten?«
»Ich fürchte, es wird sehr spät«, erwiderte Moen.
Sie lachte.
»Wieder mal die alte Leier. Du kannst dich selbst um dein Essen kümmern. Das Haus ist leer. Wiederhören.«
Moen stieg aus dem Auto und blickte sich um. Er zündete sich eine Zigarette an und machte sich auf in Richtung Rimi-Supermarkt in Bjørkelangen.