Читать книгу Die Stadt mit dem großen Herzen - Jørgen Gunnerud - Страница 13

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Am nächsten Morgen parkte Moen seinen Wagen zwischen den Blocks A1 und A2 des Rikshospitals und stieg in die schneidende Morgenluft hinaus. Es war dicht bewölkt, und der Morgensonne gelang es nicht, sich Geltung zu verschaffen. Neben einem Wagen vom Bestattungsunternehmen Jolstad standen zwei Männer in Jackett und rauchten. Eine der italienischen Straßenbahnen kam auf dem Weg in die Stadt polternd auf ihn zugefahren. Erschöpft starrten drei Nachtschwestern aus einem der Fenster zu ihm herüber. Moen blieb stehen, holte eine Zigarette hervor und steckte sie an. Er versuchte, seinen Kopf von Gedanken und Gefühlen zu befreien, bevor er auf den Eingang an der Ecke zulief und die Zigarette austrat; die Glastüren öffneten sich, er befand sich in der Vorhalle des Rechtsmedizinischen Instituts.

Über eine Laufbrücke gelangte er zu einer weißen Doppeltür. Er drückte auf einen Knopf der Gegensprechanlage, wies sich aus und erklärte seine Absicht. Die Türen öffneten sich, und er wandte sich zur Rezeption, wo ihm gesagt wurde, seine Kollegin sei bereits eingetroffen und habe sich um die Formalitäten gekümmert. Er könne gleich nach unten gehen.

Auf der Treppe zum Untergeschoss dachte Moen über Marit Gaasland nach. Wie sich die Kollegin wohl zu Obduktionen stellte? Moens eigene Haltung war glasklar. Er vermied sie, um jeden Preis. Er betrat die Herrengarderobe, ging zum Pinkeln auf die Toilette und zog sich um. Der Kleiderständer war belegt. Moen hatte nur einen Haken zur Verfügung, schaffte es jedoch irgendwie, seine Sachen aufzuhängen. Er trat vor das Regal mit Wegwerfkleidung, zog sich ein gelbes Oberteil und eine grüne Hose über und wusch sich in einem der beiden Waschbecken sorgfältig die Hände. Seine Wahl fiel auf ein Paar Holzschuhe, und schließlich versorgte er sich mit Handschuhen, Kopfbedeckung und Mundschutz. Dann betrat er den großen Obduktionsraum, in dem einige Stahltische in Reih und Glied standen. Keiner der Tische wurde für ihren Vorgang benutzt.

Auf dem Fußboden vor ihm kniete ein Kollege und brachte Ordnung in die Kleider der Frau aus Bjørkelangen. Sie lagen auf dem Fußboden, bis dicht an die Wand. Zwei Türen führten vom großen Saal in zwei Nebenräume. Die erste öffnete Moen und betrat den sogenannten Polizeiraum, der spartanisch mit einem Bücherregal und einem Schreibtisch eingerichtet war. Marit Gaasland stand mit dem Rücken zu Moen und schaute durch die Tür in den angrenzenden Raum. Er ging zu seiner Kollegin und blickte ihr über die Schulter.

Sie sah in einen kleinen Raum mit einem einzigen Stahltisch, auf dem die Obduktion und Identifizierung stattfinden sollte. Mit einer Kamera in den Händen stand ein Beamter auf einer Trittleiter. Ein Blitz erhellte den Raum. Moen trat einen Schritt zur Seite und betrachtete den nackten Frauenkörper, der mit einer Nackenstütze unter dem Kopf auf dem Stahltisch lag. Soweit Moen es beurteilen konnte, war sie nach beinahe drei Monaten im Wasser in erstaunlich gutem Zustand. An der Leiche war nicht herumgenagt worden, doch war sie dermaßen aufgeschwollen und ledrig, dass Linn Fostervoll kaum wiederzuerkennen war, sollte es sich denn um sie handeln.

»Oh, hallo. Ziemlich spannend, das Ganze. Ich hab so was vorher noch nie mitgemacht.«

Marit Gaasland schien offenbar dem sportlichen Typus anzugehören. Moen blickte auf den Schreibtisch, während Marit Gaasland kommentierte:

»Da liegt alles zusammen, einschließlich Zahnarztbefund. Die diensthabende Zahnärztin vom Erkennungsdienst kommt in Kürze hierher. Auf dem Zettel da stehen Name und Telefonnummer eines Beamten aus Ringerike. Er hat versprochen, das Auto im Lauf des Tages genauer zu untersuchen.« Marit Gaasland zog ihren Mundschutz ein Stückchen herunter und blickte Moen mit flehenden Augen an. »Glauben Sie, Sie können sich um diese Dinge kümmern? Ich würde zu gerne verfolgen, was hier passiert. Sie haben das sicher schon öfter erlebt.«

»Sicher, sicher«, erwiderte Moen, »aber halten Sie sich im Hintergrund und kommen Sie dem Rechtsmediziner nicht in die Quere. Er ist hier der Chef.«

Moen saß am Schreibtisch des Polizeiraums und folgte mit einem Ohr den Ausführungen des Rechtsmediziners, während die inneren Organe der Verstorbenen nach und nach ans Tageslicht kamen. Irgendwann stand er auf, ging auf den Flur hinaus und rief die Telefonnummer in Ringerike an. Sie waren noch beschäftigt, erhielt er zur Antwort, man notierte Moens Nummer und versprach anzurufen, sobald der Auftrag durchgeführt war.

Als Moen zurückkam, war die Verstorbene bis zum Hals zugedeckt. Der Rechtsmediziner winkte Moen mit dem Finger zu sich. Marit Gaasland stand neben ihm. Der Arzt hob an der linken Schläfe der Leiche vorsichtig das Haar an und zeigte auf ein kleines Loch im spröden Knochen nahe ihrem Ohr.

»Sie ist nicht ertrunken. Sie war tot, bevor sie im Wasser landete. Da liegt vielleicht die Lösung.« Der Arzt sah sich ärgerlich um. »Ich mach jetzt Pause. Bevor die Zahnärztin ihre Bilder nicht gemacht hat, kümmere ich mich erst mal nicht um den Kopf. Wo bleibt die bloß?«

»Sie ist in der Garderobe«, sagte Marit Gaasland.

»Dann komme ich in einer halben Stunde zurück«, erwiderte der Arzt und ging.

Marit Gaasland verdrehte die Augen und murmelte irgendetwas über Ärzte und Arroganz. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Stehpult, an dem die Rechtsmediziner für gewöhnlich ihre Notizen machten, als eine weitere Mumie den Raum betrat, die sich als die Zahnärztin erwies. Sie stellten einander vor. Moen zeigte ihr den Zahnarztbefund, den sie mit einem vielsagenden Nicken bedachte.

»Das sollte nicht allzu schwierig sein. Diese Linn Fostervoll hat eine ganz charakteristische Krone auf einem Vorderzahn. Ich mache mal ein paar Fotos.«

Sie rollte ein Stativ mit einer Röntgenkamera herein. Die freundliche Dame begriff schnell, dass Marit Gaasland Interesse an der Prozedur zeigte, daher kommentierte sie fortwährend jeden Schritt des Vorgangs. Die Fachausdrücke wurden schnell und präzise erklärt.

»Können Sie mir etwas assistieren?«, fragte die Ärztin Marit Gaasland. »Wir müssen ihren Mund öffnen, um den Film anzubringen, doch dabei müssen wir vorsichtig sein. Die Zähne von Wasserleichen neigen dazu, sich zu lösen.«

Moen stand in der Türöffnung und beobachtete die beiden Frauen bei ihrer Arbeit mit der Toten. Sie erweckten den Anschein, nie etwas anderes gemacht zu haben. Ohne Zwischenfall konnten die Bilder gemacht werden, wobei die Zahnärztin jedes Mal, wenn eine Aufnahme gemacht wurde, alle aus dem Raum schickte. Zum Schluss wollte sie eine zusätzliche Frontalaufnahme der Vorderzähne machen, was ihr ebenfalls gelang. Sie blickte zu Moen auf.

»Ist sie ertrunken?«

»Das wissen wir noch nicht genau.«

»Die Zähne von Leuten, die ertrinken, werden aus irgendwelchen Gründen oft rot. Das ist hier nicht der Fall.«

Die Zahnärztin räumte ihre Sachen zusammen und sagte schließlich:

»Dann fahr ich mal ins Büro und entwickle die Bilder.«

»Wie?«, sagte Marit Gaasland. »Können Sie das nicht hier machen?«

»Nein, den Rest der Arbeit muss ich in meinem Büro erledigen.«

Marit Gaasland blickte zu Moen hinüber.

»Astrid Bredeveien meinte, wir hätten den ganzen Vorgang persönlich zu überwachen. Einer von uns sollte wohl mitfahren und abwarten, ob es sich um Linn Fostervoll handelt. Wollen Sie oder soll ich?«

»Sie möchten doch sicher hierbleiben«, erwiderte Moen. »Ich denke, Sie sind ganz gespannt auf die Todesursache?«

»Für Astrid ist die Identifizierung das Wichtigste, da sollten Sie wohl besser fahren«, sagte seine Kollegin diplomatisch.

»Abgemacht«, sagte Moen. »Haben Sie einen Wagen?«

Die Zahnärztin nickte. »Ich fahre.«

»Können Sie mir sagen, wo es hingeht?«

*

Moen stand auf der Rückseite der amerikanischen Botschaft und rauchte eine Zigarette. Hinter der Sicherheitsabsperrung, neben einem Container, stand ein Wachtposten mit Maschinenpistole und blickte argwöhnisch zu ihm herüber. Moen erwiderte seinen Blick. Er sah die Zahnärztin auf der anderen Seite des Løkkeveien über die Hansteens Gate kommen und ging ihr entgegen. Sie klingelte, der Türöffner summte, und sie zog die Tür auf und ließ Moen mit einem Lächeln den Vortritt.

Ein paar Minuten später saßen sie in einem engen Verschlag, der als Personalraum diente. Die Zahnärztin machte zwei Tassen Kaffee, während ein Assistent die Bilder entwickelte.

»Dauert das lange?«

Die Zahnärztin stand auf und zog sich ihren weißen Kittel über.

»Normalerweise nicht, aber es hängt ein bisschen von der Form des Gebisses ab. Wenn es perfekt ist, habe ich mehr Arbeit.«

Moen lächelte schwach. Er bemerkte den leichten Anflug eines Akzents aus Oppland oder Hedmark und folgte ihr durch die engen Räume in ihr Büro. Ein Assistent reichte ihr die fertigen Bilder. Sie nahm ihre Lesebrille, legte sie nach einer kurzen Begutachtung wieder weg und öffnete die Mappe mit Linn Fostervolls Zahnarztbefund. Draußen auf der Straße stellte eine Politesse der Osloer Kommune ein Knöllchen aus und befestigte es an der Windschutzscheibe eines heruntergekommenen japanischen Lieferwagens. Im selben Moment tauchten zwei Männer in weißen, verdreckten Maureranzügen auf. Die Politesse wollte gerade weitergehen, als einer der beiden sie an der Schulter fasste. Sie drehte sich ruckartig um und trat einen Schritt zurück.

Moen folgte dem Drama dort draußen. Einer der beiden Handwerker war anscheinend nicht bereit, sich dem Schicksal zu ergeben. Es schloss sich ein kurzer, heftiger Wortwechsel an, doch da es ihm offenbar an passenden Worten mangelte – zweifellos war er Pole –, hob er die Faust. Moen klopfte mit dem Knöchel heftig ans Fenster und hielt seinen Dienstausweis hoch. Die beiden Polen erstarrten, und die Situation löste sich auf. Der Erfüllung ihrer Quote einen Schritt näher, zog die Politesse ihres Wegs. Der wütende Handwerker riss das Strafmandat von der Scheibe, zerfetzte es in zwei Teile und warf es auf den Boden. Er zeigte Moen einen Finger, setzte sich dann hinters Steuer und fuhr weg.

Moen holte tief Luft. Er hatte einen stillen Hass gegen diese spezielle amerikanische Unart entwickelt, die sich wie Unkraut vermehrte. Eine schmutzige Geste, die von der beleidigten Person immer aus sicherem Abstand ausgeführt wurde.

»Was war denn?« Die Zahnärztin sah ihn über ihre Brille hinweg an.

Moen schüttelte den Kopf. Die aufgekommene Wut hatte ihn gänzlich von seinem Fall hier vor Ort abgelenkt – nicht gerade ein gesundes Zeichen. Er atmete aus.

»Tut mir leid. Es gab da bloß so ein Durcheinander auf der Straße. Wie weit sind Sie denn?«

»Ich habe mir die Ante-mortem-Bilder von Linn Fostervolls Zähnen angesehen. Sie hat eine Porzellankrone auf einem Vorderzahn. Etwas ungewöhnlich bei einer jüngeren Frau. Laut Bericht war ein Sportunfall die Ursache. Handball, um genau zu sein. Schauen Sie mal.« Sie zeigte ihm die Aufnahme. »Hier ist die Aufnahme post mortem aus dem Rechtsmedizinischen Institut.« Ärztin hielt beide Aufnahmen an den Leuchtkasten.

Sogar Moen konnte die Übereinstimmung erkennen.

»Was ist Ihre Schlussfolgerung?«

»Es handelt sich hier in der Tat um eine sichere Identifikation. Die Verstorbene ist Linn Fostervoll. Ausgeschlossen, dass sich irgendwo ein so identisches Merkmal noch einmal findet. Der Form halber werde ich ein paar weitere Dinge untersuchen, bevor ich den Bericht abschicke.«

»Dauert das lange?«

Sie lächelte. »Geben Sie mir zwei Minuten.«

Die Stadt mit dem großen Herzen

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