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Es gab einen Grund, weshalb er so dachte. Zwei Tage zuvor war er zu seinem Abteilungsleiter gegangen und hatte um einen Aufgabenbereich gebeten, der nicht so viele Reisen erforderte. Moens Verhältnis zum Abteilungsleiter war nicht besonders gut, und da seine Aversion allgemein bekannt war, hätte er die Reaktion, die darauf gefolgt war, vielleicht vorhersehen müssen.

Jetzt saß er hier, leicht verwirrt und in eine andere Abteilung versetzt, und fragte sich, ob er eine Dummheit begangen hatte, schob den Gedanken aber zur Seite. Mit einem etwas vagen Auftrag hatte man ihn weggeschickt: Er sollte die durchgeführte Ermittlung in der Fostervoll-Sache evaluieren. Im Zuge dessen war die Rede von Qualitätssicherung gewesen und, dass er der richtige Mann für diese Aufgabe sei. Moen dachte einen Augenblick an seinen alten Job, resignierte jedoch und machte sich über den Papierberg her.

Der erste Schritt der Ermittler hatte darin bestanden, einen Zeitpunkt einzukreisen. Wann hatte sie den Wagen verlassen? Offenbar hatte sie sich nicht die Zeit genommen, in ein Café zu gehen. Es gab keine Quittungen, die das belegt hätten. Ging man also davon aus, dass sie ihre Einkäufe erledigt hatte und gleich wieder gefahren war, dann war sie wohl irgendwann gegen vierzehn Uhr auf dem Parkplatz angekommen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt, so die Annahme, hatte sie angehalten und war aus dem Auto gestiegen, eine halbe Stunde Zeitpuffer für beide Wege mit eingerechnet. Das aufmerksame ältere Ehepaar hatte den Wagen zum ersten Mal am 28. Mai um achtzehn Uhr gesehen. Das Mobiltelefon in der Handtasche hatte für den Zeitraum, in dem sie sich in Schweden befunden hatte, keine Gespräche verzeichnet, und die unbeantworteten Anrufe aus der Liste gaben keine Anhaltspunkte und stammten von der Familie oder der Arbeitsstelle. Die kriminaltechnische Untersuchung hatte ansonsten nur einen Haufen vager Spuren ergeben.

Die Ermittlungen waren eine gut organisierte Zusammenarbeit des Lensmanns in Bjørkelangen und der Kripo in Oslo gewesen. Es war nicht zu leugnen, dass man in erster Linie an Selbstmord gedacht hatte. Jahr für Jahr gab es überaus raffinierte Inszenierungen, in denen sich die Verschwundenen zuerst in Luft auflösten, um dann an einem Baum oder in einem See aufgefunden zu werden. In Oslo konzentrierte man sich daher auf Verwandte, Freunde, Kollegen und medizinisches Personal.

Rasch las Moen das Vernehmungsprotokoll aus Oslo und konnte ebenso schnell zwei Dinge konstatieren: Erstens deutete bei Linn Fostervoll nichts auf eine Störung des psychischen Gleichgewichts hin. Weder ihre Verwandten noch ihr Hausarzt konnten diese Hypothese stützen. Der Gedanke, sie habe suizidale Tendenzen gehabt, wurde kategorisch abgewiesen. Einer ihrer Kollegen hatte es so ausgedrückt: »Dazu war sie viel zu glücklich mit sich selbst und ihrem Leben.« Moen betrachtete das Urteil ihrer Umgebung selbstverständlich mit einer gehörigen Portion Zweifel; manche Menschen waren komplizierter, als es den Anschein hatte.

Auf der anderen Seite hatte sie allerdings ebenso wenig einen Spaziergang durch den Wald gemacht, um über irgendetwas nachzudenken. Sie hatte gesagt, wo sie hinwollte, und getan, was sie tun wollte, doch die Ermittlungen waren durchgehend von einem bestimmten Ansatz geprägt: Die Vernehmungen hatten sich im Großen und Ganzen um Linn Fostervolls Psyche gedreht. Die Polizei hatte es nicht in Erwägung gezogen, dass sie Opfer einer kriminellen Handlung gewesen sein könnte. Aufgrund der Tatsache, dass ihre Sachen unberührt im offenen Wagen gelegen hatten, wurde die Möglichkeit osteuropäischer Straßenräuber ausgeschlossen.

Ansonsten hatten sich die Vernehmungen auf den Exmann, Sverre Midtsem jr., konzentriert. Es war nun einmal so, dass ein geschiedener Mann als möglicher Verdächtiger auf der Liste der Polizei hoch oben stand, und es gab statistische Belege, die diesen routinemäßigen Reflex erklärten. Dieser Exmann hatte allerdings ein hieb- und stichfestes Alibi. Während des relevanten Zeitraums war er mit einem Arbeitskollegen in Oslo gesehen worden. Da die Vernehmungen keinerlei sichere Anhaltspunkte ergeben hatten, stand die Suchaktion natürlich im Mittelpunkt. Es wurde gemutmaßt, sie hätte sich nach draußen begeben, einen Unfall erlitten, sich verletzt oder wäre im schlimmsten Fall überfallen worden. Der Lensmann in Bjørkelangen hatte mit Unterstützung von Experten der Kripo die Suche geleitet, an der eine große Mannschaft aus Angestellten der Kommune sowie freiwillige Organisationen und Hundestaffeln beteiligt gewesen waren. Gewässer wurden durchsucht, Felsspalten durchkämmt, jeder Stein wurde umgedreht. Auf Schritt und Tritt wurde alles genauestens von Linn Fostervolls Kollegen aus den Medien verfolgt. Ohne Ergebnis. Man fand keinen Schuh, kein einziges Kleidungsstück. Nichts. Nur aufgrund des Mediendrucks wurde eine Woche länger gesucht, als eigentlich zweckdienlich gewesen wäre, doch dann war Schluss. Auf einer Pressekonferenz Ende Juni hatte der Lensmann in Bjørkelangen das Handtuch geworfen.

Moen sah auf die Uhr. Er legte sein Kinn in die Hände und stellte fest, wie die Arbeit ihn wieder einmal völlig vereinnahmte. Verwundert blickte er sich um. Der Archivraum, in dem er saß, hatte keine Fenster, und die einzigen Geräusche, die er hörte, rührten von der Klimaanlage her.

Moen erhob sich, legte die Lesebrille auf den Tisch und steuerte auf die Kantine zu, wurde im Korridor jedoch von Astrid Bredeveien, seiner neuen Chefin, aufgehalten. Sie wies auf eine CD-Hülle in ihren Händen.

»Ich habe da etwas, das Sie sich ansehen müssen. Kommen Sie doch mit in mein Büro.«

Astrid Bredeveien deutete auf einen Stuhl, trat ans Fenster und sperrte den schönen Spätsommertag aus. Dann setzte sie sich und schob die CD in ihren Computer.

»Konnten Sie sich schon ein Bild von der Sache machen, so wie sie uns jetzt vorliegt?«

»Ja«, erwiderte Moen, worauf sie fortfuhr:

»Das hier ist eine Sendung, die heute Abend im NRK ausgestrahlt werden soll. Faktor. Ich hab sie vor ein paar Tagen bekommen und wurde gebeten, mich dazu zu äußern. Ich möchte, dass Sie sich das ansehen.«

Sie spielte die CD ab, die mit einem kurzen Überblick bis zum Abschluss der Suchaktion in Bjørkelangen begann. Danach folgte ein kurzes, peinliches Interview mit der Osloer Polizei über die Art und Weise der Ermittlung. Das Ganze wurde von einem der zahlreichen NRK-Redakteure mit Grabesstimme kommentiert, wobei der Erzählstil eine Art dramatischer oder unheilvoller Stimmung hervorrief, die dem Stoff nicht unmittelbar innewohnte. Moen ärgerte sich bereits über die Dramaturgie.

Dann folgte eine Auswahl sommerlicher Bilder von Reihenhäusern entlang dem Leangkollen in Asker, vom Jachthafen in der Leangbukta sowie den Räumlichkeiten des Bærumer Polizeireviers. Der begleitende Kommentar lautete folgendermaßen: »In der Nacht zu Sonntag, dem 2. Juni, nur wenige Tage nach Linn Fostervolls Verschwinden, rief Frau Klara Midtsem ihren Sohn Sverre jr. an und berichtete, ihr Mann sei am Abend nicht vom Ausflug zu seinem Segelboot in der Leangbukta zurückgekommen. Sie bat den Sohn, dort hinzufahren und nachzusehen, da sie selbst schlecht laufen könne. Sverre Midtsem jr. fuhr zum Jachthafen und fand seinen Vater mit einer Schusswunde in der Schläfe und einer Pistole in der Hand. Der Fall wurde vom Polizeirevier Asker und Bærum untersucht, dessen Ermittlung ergab, dass Sverre Midtsem sr. sich das Leben genommen hatte. Es gab keinerlei Anhaltspunkte für den Aufenthalt einer anderen Person am Tatort. Das Einzige, worüber die Polizei noch Aufschluss bieten konnte, war die Entdeckung eines weiteren Projektils im Sitzpolster der Bootskajüte. Die Polizei geht hierbei von einem Probeschuss aus, der abgegeben wurde, bevor der tödliche Schuss fiel.«

Um die Tatsache zu verschleiern, dass es sich bei der Reportage bis hierher um Radio mit Bildern handelte, gab es nun eine Einblendung mit der Erkennungsmelodie des Senders, um das Drama gleichsam ins Bewusstsein der Zuschauer einsinken zu lassen. Die Vermutung lag nahe, dass die Faktor-Redaktion beabsichtigte, das Verschwinden Linn Fostervolls mit dem Selbstmord ihres ehemaligen Schwiegervaters in Verbindung zu bringen, doch der folgende Beitrag brachte Interviews mit der Polizei in Asker und Oslo, die die Geschehnisse keineswegs miteinander verknüpften. Sie wurden separat untersucht. Der Selbstmord war zu den Akten gelegt worden.

Dann folgte natürlich, wozu die Polizei sich nicht äußern wollte. Sverre Midtsem sr. hatte noch nie eine Waffe besessen, und für die Verwandten war es ein Rätsel, wie er an diese gekommen war. Zweitens war die Waffe aus der Wohnung eines bekannten, doch »medienscheuen Finanzmannes« gestohlen worden. Es handelte sich um eine kleinkalibrige Pistole, die vom Besitzer kurz nach Ostern als gestohlen gemeldet worden war, sich also bereits zwei Monate vor dem Selbstmord auf Abwegen befunden hatte.

Der Redaktion von Faktor war außerdem gelungen, den Brennpunkt-Redakteur, also Linn Fostervolls ehemaligen Chef, zu interviewen. Der Redaktionsleiter berichtete, Linn habe ihm gegenüber angedeutet, Zugang zu einem bestimmten Kreis von der Aker Brygge erlangt zu haben, der für seine ausagierenden Festivitäten bekannt war, und dass sie auf eigene Faust Nachforschungen betrieb, um vielleicht einen Beitrag über die »Grauzone« in der Osloer Finanzwelt zu machen.

Bei näherer Untersuchung hatte sich genau die Wohnung, aus der man die Pistole gestohlen hatte, als eine der Feststätten dieses Kreises erwiesen. Dann wurde zu einer Blondine und einer Brünetten mit vernebeltem Gesichtsausdruck übergeleitet, die mit verzerrten Stimmen von Drogen und Sex sprachen und so den Eindruck erweckten, Faktor hätte bereits mit der Arbeit an diesem Beitrag begonnen.

Als sich die Faktor-Redaktion an den medienscheuen Finanzmann wandte, wurde sie mit einer schriftlichen Erklärung seines Anwalts abgespeist, in der es hieß, der Besitzer wohne mit seiner Familie auf Bygdøy. Die Wohnung werde an Freunde und Geschäftspartner vermietet, und es sei viele Jahre her, dass der Besitzer sie selbst benutzt habe.

Das Ende der Sendung lautete folgendermaßen: »Linn Fostervolls Exmann möchte in dieser Sendung natürlich nicht auftreten, berichtet jedoch, der im Auftrag des Finanzmanns operierende Anwalt habe sich mehrmals an seinen Vater gewandt, um das Familienhotel im Parkveien aufzukaufen, und dass sein Vater sich unter Druck gesetzt fühlte. Auf dem Konto seiner Exfrau befinde sich ein größerer Betrag, den sich niemand erklären könne. Er hat sich entschieden, die Polizei auf diesen Umstand aufmerksam zu machen, und räumt ein, diese Tatsache bisher aus Rücksicht auf das gemeinsame Kind verschwiegen zu haben.«

Der Moderator der Sendung kam salbungsvoll zum Schluss. Es sei nicht Absicht der Redaktion, Behauptungen aufzustellen. Sie sei weder imstande noch wünsche sie, die Arbeit der Polizei zu übernehmen. Sie stelle lediglich die Frage, aus welchem Grund die Polizei die erwähnten Tatbestände nicht näher untersucht habe.

»Kennen Sie Bjørn Hansen?«, fragte Moen.

»Meinen Sie den vom NRK?«

»Nein. Den Sicherheitsberater; ein ehemaliger Polizist.«

»Den kenne ich nicht«, sagte Astrid Bredeveien. »Aber ich habe von ihm gehört. Es heißt, er wacht dort im Hintergrund, wo reiche Leute Probleme haben.«

»Er hat mich gebeten, mir diese Sendung heute Abend anzusehen.«

Astrid Bredeveien blickte Moen über ihre Brille hinweg an.

»Woher kennen Sie ihn?«

»Bei unserer ersten Mordermittlung haben wir zusammengearbeitet. In den letzten Jahren hat er mir verschiedentlich Jobs angeboten.«

»Jetzt auch?«

Moen lächelte.

»Es wird doch sicher einen reichen Mann geben, der in Schwierigkeiten steckt.«

»Interessant, aber kehren wir mal zurück zum Thema. Was sagen Sie zu den Ausführungen in der Sendung?«

Moen zuckte mit den Schultern. »Wir beide wissen, dass man im Leben eines Menschen nicht allzu lange herumgraben muss, um auf ein Mordmotiv zu stoßen, und noch nie hat es Ermittlungen in einem Mordfall gegeben, in dem es keine Leiche gab.«

Frau Bredeveien lächelte.

»Nüchtern wie immer. Ich habe das starke Gefühl, die Kleine ist in irgendwas hineingeraten. Ich spüre es sozusagen in den Knochen, und ich will diese Sache wieder auf der Tagesordnung haben. Allerdings möchte ich nicht öffentlich machen, dass wir einen der profiliertesten Ermittler des Landes auf die Sache ansetzen. Wir befinden uns hier in der Vermisstenabteilung. Ich habe eine äußerst tüchtige Mitarbeiterin, die sich um die Betreffenden und alle anderen kümmern wird. Wir reagieren ganz offiziell, und sie wird uns nach außen vertreten.«

»Worin besteht meine Aufgabe?«

»Ich möchte, dass Sie die Tatbestände um den Tod des Schwiegervaters und das Verschwinden der Schwiegertochter so betrachten, als handelte es sich um verdächtige Todesfälle.«

»Nun ja«, erwiderte Moen. »Sie haben aber doch wohl auch in Erwägung gezogen, dass sie mit einem großen Drink in Monaco oder Dubai sitzen könnte? Mit neuem Namen und neuer Kreditkarte.«

»Selbstverständlich. Bilder von ihr sind an alle möglichen Orte in der Welt unterwegs.«

Die Stadt mit dem großen Herzen

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