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Am nächsten Tag fuhr Moen auf der E 18 aus der Stadt. Stadteinwärts drängten sich die Autos dicht an dicht. Auch stadtauswärts herrschte viel Verkehr, doch die Fahrt ging schnell, und es dauerte nicht lange, bis er sich durch ein Wirrwarr aus Brückenträgern und Kreisverkehren in Sandvika schlängelte, dem Hauptquartier der bürgerlichen Schlafkommune. Vor dem Polizeirevier von Asker und Bærum fand er einen Parkplatz und meldete sich am Empfang, von wo er zu einem Kommissar in den Dreißigern geführt wurde. Der Mann stand auf, lächelte und begrüßte Moen per Handschlag.

»Lange her«, sagte er und registrierte Moens Verwunderung.

»Sie erinnern sich vielleicht nicht an mich, dafür erinnere ich mich aber gut an Sie. An meinem ersten Tag hier auf dem Revier war ich an der Suche nach einer Mordwaffe beteiligt, in Hosle.« Er deutete auf den zweiten Stuhl im Raum. Moen setzte sich. »Es ging um einen Zuwanderer, dem in den Rücken geschossen wurde. Gestern hab ich den Täter im Einkaufszentrum von Sandvika gesehen. Nach acht Jahren ist er nun freigekommen.«

Moen nickte und lächelte. In der Zwischenzeit hatte es viele Mordfälle gegeben, und da er nicht sonderlich nostalgisch veranlagt war, kam er gleich zur Sache. »Haben Sie die Akte hier?«

Der Polizist zeigte auf eine Mappe auf dem Tisch. »Hier haben Sie eine Kopie. Wollen Sie sie durchsehen?«

Moen blätterte die Akte schnell durch. Karten von der Leangbukta und dem Jachthafen lagen darin – und Fotos. Er hatte daran gedacht, weiterzufahren und sich alles mit eigenen Augen anzusehen, aber das schien kaum notwendig. Moen wandte sich an den jungen Polizisten und sagte:

»Sehr schön. Vielen Dank.«

»Haben Sie Fragen dazu?«

»Sie haben doch schon eine Weile mit Gewaltverbrechen zu tun, oder?«

»Fünf Jahre.«

»Und ist Ihnen sonst schon ein Selbstmord mit Schusswaffengebrauch untergekommen?«

»Eigentlich nur ein Mal, aber da ging’s um eine Schrotflinte. Das sah dann etwas schlimmer aus.«

»Sie waren von Beginn an den Ermittlungen beteiligt, stimmt’s?«

»Wir sind zu zweit losgefahren, einer von der Spurensicherung und ich. Der Einzige, der sich vor uns auf dem Boot aufhielt, war der Sohn. Er hatte Alarm geschlagen. Das Sanitäterteam konnte nur noch den Tod feststellen. Wir haben die Situation, wie wir sie damals vorfanden, durch die Kajütentür fotografiert.« Er kramte ein Bild hervor und reichte es Moen.

Der Verstorbene, Sverre Midtsem sr., geboren 1931, lag mit dem Rücken auf den Sitzkissen einer engen Kabine. Es war ein zweiundzwanzig Fuß langes Segelboot. Er lag rechts, das Gesicht nach oben, der rechte Arm abgespreizt. Auf dem Boden unterhalb der ausgestreckten Hand lag eine Pistole. Das nächste Bild zeigte den Kopf von der Seite. Ein winziges Loch in der Schläfe und ein kleines Rinnsal Blut.

»Kaliber .22. Die Kugel hat sich im Gehirn gedreht und ist auf der anderen Seite nicht wieder rausgekommen. Saubere Sache, könnte man sagen. Am Eintrittspunkt und an der rechten Hand fanden sich Schmauchspuren. Es wurden zwei Schüsse abgefeuert. Das andere Projektil fanden wir in der Polsterung der Bank auf der linken Seite. Es ist wohl anzunehmen, dass es sich dabei um einen Probeschuss handelte.«

»Was ist mit Fingerabdrücken?«

»Nur seine und die des Sohnes. Nach Aussage der Ehefrau hat er allein das Boot benutzt. Sie sagte auch, dass die Kajüte immer unverschlossen war. Als wir die Kajüte weiter durchsucht haben, sind wir mehr oder weniger nur auf leere Flaschen gestoßen. Billiger Whisky und ein paar leere Pillengläser. Adumbran. Ein leichtes Beruhigungsmittel. Ansonsten haben wir noch schmutzige Wäsche, eine abgewetzte Aktentasche und einen Füllfederhalter gefunden. Mit Goldfeder.

»Handy?«

»Das lag zu Hause. Die Angehörigen meinten, er sei aufs Boot gegangen, um zu trinken, und wollte in Ruhe gelassen werden. Hatte übrigens ordentlich was im Blut, fast zwei Promille.«

»Zeitpunkt?«

»Die Rechtsmediziner meinen zwischen eins und vier in der Nacht.«

Dunkle Absichten gehören in die Dunkelheit, dachte Moen.

»Wo lag das Boot?«

»Fast ganz außen am schwimmenden Kai in der Nähe von Hvalstrand. Ein Wachunternehmen patrouilliert da mehrmals in der Nacht und überprüft das Tor. Keine Beobachtungen in der betreffenden Nacht. Niemand hat einen Schuss gehört.«

»Welchen Eindruck haben Sie von den Angehörigen?«

Der Polizist überlegte einen Moment, bevor er antwortete.

»Wir haben nur mit dem Sohn und seiner Mutter gesprochen. Ich weiß nicht so recht, was ich sagen soll. Sie wirkten eigentlich nicht überrascht, waren aber anscheinend erstaunt über die Art und Weise, wie es passierte. Er hat nie eine Waffe besessen.« Der Polizeibeamte zog eine Grimasse. »Haben Sie gestern Faktor gesehen?«

Moen nickte, enthielt sich aber eines Kommentars. »Mal abgesehen von der Waffe, was meinen Sie damit, dass sie nicht überrascht wirkten?«

»Es kam mir so vor, als ob Mutter und Sohn in einem schwierigen Verhältnis zu dem Verstorbenen standen. Er hatte einen hohen Alkoholkonsum, nachdem er den Betrieb des Hotels seinem Sohn überließ, und als die Schwiegertochter verschwand, ist er mehr oder weniger ganz auf das Boot gezogen. Er war nur noch zu Hause, um zwischendurch mal zu duschen.«

»Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, wie das Verhältnis des Verstorbenen zu seiner ehemaligen Schwiegertochter war?«

»Der Sohn sagte, dass sein Vater sehr an ihr gehangen hat, meinte aber, das habe am Enkelkind gelegen. Seine Mutter schnaubte bloß und tat das als neuen Vorwand ab, sich um den Verstand zu saufen. Sie hält sich ansonsten eher bedeckt.«

»Gibt es sonst noch etwas über die Hinterbliebenen?«

»Auf mich wirkten sie ganz vertrauenswürdig. Der Sohn war wie gelähmt, es ließ sich aber leicht mit ihm reden. Er bemühte sich, alles zu erzählen, was er wusste. Es gibt da nichts Zweideutiges an seinen Ausführungen. Sie stimmen mit den Funden am Tatort völlig überein. Vor seiner Mutter hatte ich ein bisschen Respekt, sie ist eine ziemlich direkte Frau. Ganz nüchtern hat sie vom Alkoholproblem ihres Mannes berichtet. Wir wissen ja beide, was für eine zerstörerische Wirkung Alkohol manchmal haben kann. Eine Familientragödie.«

»Irgendwas Merkwürdiges?«

»Ich wüsste nicht, was.«

»Abgesehen von der Waffe.«

»Ja, abgesehen davon.«

»Sie war gestohlen, aber man braucht ja wohl ein paar Kontakte, um so etwas in die Finger zu kriegen?«

»Ja, aber da sind wir nicht weitergekommen.«

»Weil Sie im tiefsten Innern davon überzeugt waren, dass er sich umgebracht hat?«

»Ja, wo Sie das jetzt so sagen. Alle waren wir in diesem Punkt sicher, da hatte die Waffe keine so hohe Priorität. Sie wissen ja, wie das ist.«

Die Stadt mit dem großen Herzen

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