Читать книгу Die Stadt mit dem großen Herzen - Jørgen Gunnerud - Страница 11

9

Оглавление

Es war sechs Uhr am Morgen. Knut Moen saß über eine Tasse Kaffee gebeugt am Küchentisch. Draußen war es dunkel, und im Fenster konnte er nur sein eigenes weißes Gesicht erkennen. Normalerweise hätte er, wie jeder andere Norweger, der sich in wollene Unterwäsche, eine wind- und wasserdichte Außenhülle und hohe Schaftstiefel kleidete und mit einem Rucksack voller Essen, Wasser und Kaffee ausstattete, kurz gesagt also jemand, der sich auf einen Tag draußen im Wald und in der freien Natur vorbereitete, ein gewisses Wohlbehagen, ja sogar eine Spitzenkompetenz verspürt – zumindest aus europäischer Sicht –, wenn es darum ging, sich draußen in der ungastlichen Natur Bequemlichkeit zu verschaffen oder zumindest darin zu überleben. Ein Norweger wäre freudig erregt, bereitete er sich auf solch eine Herausforderung vor.

Moen hatte registriert, wie böse Zungen behaupteten, die Kompetenz eines norwegischen Mannes liege in erster Linie in der Begegnung mit den Kräften der Natur. Eine Frau aus dem Ausland hatte diese Gedanken vor ein paar Tagen auf witzige Weise in der Zeitung formuliert. War sie nicht der Ansicht gewesen, ein Norweger könne den Unterschied zwischen Naturphänomenen, wie beispielsweise einem Sonnenuntergang, und anderen Menschen, beispielsweise einer Frau, nicht erkennen? Oder hatte er, der Norweger, vielleicht recht? War der Mensch nicht selbst ein Naturphänomen? Hatte er nicht selbst, wie schon viele andere, erlebt, dass Menschen genauso destruktiv und unvorhersehbar sein konnten wie ein Erdrutsch?

Diese Gedanken beschäftigten Moen, als er sich ins Auto setzte und auf der breiten, heruntergekommenen E 6 in nördliche Richtung aus der Stadt hinausfuhr. Auf der anderen Seite der Leitplanke, in entgegengesetzter Richtung: drei dichte Reihen mit Frontscheinwerfern in der herbstlichen Dunkelheit – Tausende von Arbeitnehmern auf dem Weg zur Arbeit in die Hauptstadt. Unter normalen Umständen wäre er begeistert gewesen, sich mit einem Auftrag wie diesem hinauszubegeben, doch da Moen Lutheraner war, konnte ihm kein anderer Mensch seine Sünden vergeben, und so kämpfte er mit seinem eigenen Gewissen.

Er dachte daran, was er in Bjørkelangen in Gang gesetzt hatte. Aber war das nicht Astrid Bredeveiens Schuld? Auf der breiten, ausgebauten Straße, die sich von Fetsund hinauf nach Aurskog-Høland schlängelt, ereilte ihn genau in dem Moment, als die Sonne am Horizont auftauchte, eine Vision von all den anderen Männern, die sich wie er gekleidet hatten und auf dem Weg in die kalte feuchte Dunkelheit befanden, um nach der Nadel im Heuhaufen zu suchen. Und das nur, weil Astrid Bredeveien ihn gebeten hatte, ein Gedankenspiel durchzuführen. »Stellen Sie sich vor, Linn Fostervoll ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen.« Und er selbst: »Ich glaube, dass es so passiert sein könnte.« Er wurde sich der beträchtlichen Fallhöhe bewusst und schüttelte sich.

*

»Wissen Sie was?«, sagte der Lensmann in Bjørkelangen. »Ich glaube sogar ein wenig an Ihre Hypothese. Ich bin sehr gespannt.«

An der Abzweigung zum See saßen sie in Moens Auto. Fünfzehn Männer standen um den Wagen herum. Ein paar von ihnen in der Uniform der Reservisten, zwei Männer in Polizeiuniform, einige Zivilisten, und sie hatten sogar einen Leichenspürhund.

»Der Vorsitzende des Jagd- und Angelvereins und ich haben uns am Wochenende das Terrain und die Karte angesehen, und wir schlagen vor, dass wir in dieser Gegend suchen.« Der Lensmann reichte Moen die Karte. Ein Gebiet war mit dünnen Bleistiftstrichen schraffiert. »Haben Sie Einwände?«

»Sie sind hier zu Hause«, erwiderte Moen und gab ihm die Karte zurück, »ich bin einverstanden.« Er blickte den Lensmann unsicher an. »Konnten Sie einen Taucher auftreiben?« Der Lensmann nickte und setzte ein leicht sardonisches Lächeln auf.

»Glauben Sie, dass wir sie im Wasser finden?«

Moen zuckte mit den Schultern und trommelte leicht verärgert auf das Lenkrad.

»Zu einer ordentlichen Suche gehören nun mal Taucher, oder nicht?«

Der Lensmann nickte. »Wohl wahr. In einer Stunde kommt eine Mannschaft mit drei Leuten. Deren Logistik ist etwas komplizierter als meine. Taucher und Unterwasserkamera inklusive.«

Moen wandte sich seinem Kollegen zu.

»Ich gehe davon aus, dass Sie die Suche koordinieren. Wo wollen Sie mich haben? Im Wald?«

Der Lensmann schüttelte den Kopf.

»Ich dachte mir, ich bleibe auf festem Grund. Die Leute hier nehme ich jetzt gleich alle mit, dann könnten Sie vielleicht hier warten und das Taucherteam instruieren und beaufsichtigen.«

So machten sie es. Eine Minute später war die lange Reihe der mehr oder weniger uniformierten Männer vom feuchten Laubwald verschluckt, denn am Ende des Forstwegs, den sie jetzt entlanggingen, lag die kleine Bucht, in der Knut Moens Hypothese gemäß Linn Fostervoll von ihrem Schicksal ereilt worden war. Moen blickte zurück zur Straße. Auf der anderen Seite standen Fahrzeuge so dicht am Straßengraben aufgereiht wie eben möglich. Als Moen zum See der Toten hinübersah, konnte er keine Anzeichen menschlicher Aktivität in der Umgebung ausmachen. Es war völlig windstill, nur ein leichter, feiner Nieselregen durchbrach die Wasseroberfläche. Er betrachtete das gegenüberliegende Seeufer. Auf seiner Seite war es Herbst. Der Geruch von feuchten, vermodernden Blättern stieg ihm in die Nase, und zwei schwächliche Birken, an denen noch ein paar gelbe Blätter hingen, unterstrichen den jahreszeitlichen Eindruck. Auf der anderen Seite des Sees stand die Zeit still. Dichter, dunkel-düsterer Nadelwald so weit das Auge reichte. Tief liegende Nebelschwaden hingen wie Schleier über den Baumkronen. Die Farben: Grau und Dunkelgrün. Kein Strand. Der Nadelwald wuchs auf Felsen, die steil zum Wasser abfielen. Die ganze andere Seite war für Männer in Autos unzugänglich. Ebenfalls nicht mit Autos zu erreichen waren, wegen der Leitplanke, die an seinem Standort endete, die Ostseite des Sees und der ganze Straßenabschnitt im Süden. Die Antwort lag im Nordwesten.

Eine Stunde später sah er wieder auf die Uhr. Von den Mannschaften des Lensmanns hatte er noch nichts gehört. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie es ihnen erging. Feuchte, glatte Steine, mit Moos bewachsen. Zweige, die einem ins Gesicht peitschten. Blätter und Nadeln, die ihre Feuchtigkeit auf alle herabrieseln ließen, die vorbeikamen. Kalte Finger und feuchte Knie. Ein paarmal hatte er so etwas schon selbst mitgemacht und war tief im Innern froh, diesmal davongekommen zu sein. Er stellte die Thermoskanne auf das Autodach und wollte gerade seinen Proviant aus dem Wagen holen, als ein Toyota Landcruiser mit Bootsanhänger von der Straße abbog, dessen Räder sich in den Kies gruben. Der Fahrer ließ den Wagen im Leerlauf stehen und sprang heraus. Er nickte Moen zu und sah sich um. Aufmerksam untersuchte er die zwei oder drei Meter Grasstreifen zwischen Kiesweg und See.

»Perfekt«, sagte er grinsend. »Sauberer Stapellauf.«

Er kletterte wieder in den Wagen, fuhr den Hänger vorsichtig rückwärts auf die Straße, rollte ein paar Meter vorwärts und manövrierte den Hänger dann wieder rückwärts so weit wie möglich ans Wasser heran. Zwei Männer hüpften heraus und bugsierten ein mittelgroßes Gummiboot mit festem Boden und Scheinwerferbügel auf das Wasser. Moen erklärte den Männern, wonach er suchte und wie die Suche ablaufen sollte. Taucher und Bootsführer fuhren mit dem Boot hinaus, während der Fahrer die Suche über Funk und auf einem Bildschirm im Wagen verfolgte.

Zwei Stunden später stand Moen in der westlichen Bucht, wo die Suche noch nicht beendet war. Er teilte sich eine Tasse Kaffee mit dem Lensmann. Die Suchtrupps lösten sich langsam aus ihren Reihen. Sie ließen die Köpfe hängen und blickten verstohlen zu Moen und dem Lensmann herüber, als wäre es ihre Schuld, dass die Suche bislang erfolglos geblieben war. Der Hund war noch draußen, wovon sich der Lensmann einiges versprach, doch sein Optimismus verschwand ein paar Minuten darauf, als der Leichenspürhund an seinem Fuß schnüffelte.

Draußen auf dem Wasser hatte das Gummiboot bereits dreihundert Grad eines festgelegten Kreises abgesucht. Es dümpelte ganz nahe in der Bucht, an deren Strand sie standen, und die restlichen sechzig Grad lagen vor dem Abschnitt mit Buschwerk, das den Wirtschaftsweg bis zurück zum Auto und zur Hauptstraße verdeckte.

»Was meinen Sie? Wollen wir sie noch eine Runde drehen lassen oder den Radius ausweiten?« Der Lensmann sah Moen etwas unschlüssig an.

Im tiefsten Innern hatte Moen kapituliert. Die Männer im Boot hatten den einen oder anderen überflüssigen Zivilisationsgegenstand gefunden. Darunter befand sich seltsamerweise auch ein kleiner Kühlschrank, den jemand hier in die Wildnis gebracht und mit Steinen gefüllt hatte, bevor er im Wasser gelandet war, aber das war auch alles. Moen nahm sich für die Antwort etwas Zeit und überließ dem Lensmann schließlich die Verantwortung, bevor er etwas enttäuscht und kleinlaut durch das Gebüsch zurück zum Begleitwagen des Taucherteams wanderte. Dort wollte er warten, bis das Gummiboot zum Ausgangspunkt zurückkam.

Moen stand da und beobachtete, wie das Boot den restlichen Abschnitt absuchte. Der Fahrer des Taucherteams klebte vor dem Bildschirm, während Moen sah, wie die Männer der Suchmannschaft einzeln oder in kleinen Grüppchen aus dem Gebüsch kamen. Offenbar hatten sie ihre Abschlussbesprechung schon hinter sich, denn sie gingen über die Straße direkt zu ihren Wagen. Der Lensmann kam zuletzt und stellte sich neben Moen, während das Gummiboot nun genau vor der Stelle dümpelte, an der sie es zu Wasser gelassen hatten.

»Geht mal weiter raus. Zehn Meter und lasst die Kamera runter«, sagte der Fahrer ins Funkgerät. »Ich glaub, ich hab da unten was gesehen.«

Das Boot drehte die Nase nach vorn und bewegte sich ein paar Meter weiter hinaus. Aufmerksam verfolgte der Fahrer im Wagen die Bilder der Kamera. Moen setzte sich neben ihn.

»Zwanzig Grad rechts.« Das Funkgerät knackte, als die Antwort kam.

»Arntzen hat was im Sucher. Er glaubt, es ist ein Auto.«

»Da haben wir’s ja.« Die Kamera zeigte etwas, das wie das Heck eines Sportwagens aussah, mit offenem Verdeck. »Was glaubt ihr, wie tief ist es?«, fragte der Fahrer über Funk.

»An der Grenze, aber Arntzen geht runter.«

»Okay. Over.«

Der Taucher ließ sich rückwärts über Bord gleiten. Moen lieh sich das Fernglas des Fahrers aus und beobachtete die aufsteigenden Luftblasen. Der Lensmann stand draußen und rauchte. Moen stieg aus.

»Darf ich mir eine von Ihnen schnorren?«

Ohne den Blick vom Gummiboot abzuwenden, reichte der Lensmann ihm die Schachtel.

»Feuer?«

Der Lensmann fasste in die Tasche und reichte Moen sein Feuerzeug. Als er sich die Zigarette anzündete, hörten sie den Fahrer:

»Hol mich der Teufel. Ich glaub, da ist was in dem verfluchten Wagen.«

Der Lensmann steckte den Kopf zum offenen Seitenfenster des Fahrzeugs hinein und blickte auf den Bildschirm. Dann drehte er sich wieder Moen zu.

»Vielleicht. Wollen mal hören, was der Taucher sagt.«

Die nächsten Minuten sagte niemand etwas. Moen saß auf einem Stein und zog an der Zigarette, bis der Froschmann den Kopf aus dem Wasser reckte und über das Dollbord ins Taucherboot krabbelte. Moen stand auf und ging zum Fahrer hinüber. Das Funkgerät knisterte.

»Arntzen sagt, dass da Menschen im Auto sind.«

»Wie viele?«, fragte Moen so laut, dass der Funker im Boot ihn hören konnte.

»Mindestens einer.«

Die Stadt mit dem großen Herzen

Подняться наверх