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2.2.7 Archäologisch-historische Erinnerungsorte und Erinnerungslandschaften in einzelnen Beispielen
ОглавлениеMarkante Geländedenkmäler natürlicher oder durch den Menschen geschaffener bzw. umgestalteter Art sind häufig Ausgangspunkte für Mythen oder Sagen geworden. Ein frühes Beispiel ist der imposante bronzezeitliche GrabhügelGrabhügel von Seddin in der Prignitz, im Nordwesten Brandenburgs; er zählt zu den hervorragenden Grabmonumenten der europäischen Frühzeit (Brandenburgisches Landesamt für DenkmalpflegeDenkmalDenkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum 2003; Hansen/Schopper 2018). Hier entstand die Sage vom König Hinz, der ‚in grauer Vorzeit‘ lebte und in einem dreifachen Sarg bestattet wurde. Natürlich gibt es keine echte TraditionTradition, die den um 800 v. Chr. errichteten Hügel mit der Gegenwart verbindet, doch fanden die Museumsfachleute, die am 20. September 1899 aus Berlin zur Begutachtung und Bergung der Objekte angereist waren, neben weiteren persönlichen Beigaben eine bronzene (ehemals goldfarbene) Urne mit Leichenbrand eines Mannes vor (die Sage erzählt von einem ‚goldenen Sarg‘), die auf dem Boden in einer bemalten Steinkammer stand, die wiederum von einem Grabhügel mit einer Basisbreite von mehr als 60 m geschützt war. Dieser BefundBefund eines im übertragenen Sinne ‚dreifachen Sarges‘ (Urne, Kammer und Grabhügel) führt regelmäßig Esoteriker aus dem In- und Ausland zum ‚KönigsgrabKönigsgrab von Seddin‘. Durchaus ein Problemfall für die dortige Bodendenkmalpflege, die das Gelände großräumig bei Veranstaltungen absperren ließ, um Schäden am Hügel selbst oder Kontaminationen des umgebenden Bodens durch moderne Einträge zu verhindern. Bis vor kurzem war auch das zu den berühmtesten Denkmälern aus der europäischen Frühzeit zählende Stonehenge (Grafschaft Wiltshire, England) über Jahrzehnte Treffpunkt der esoterischen und neuheidnischen Szene und zugleich Problemfall durch moderne Einträge und Verunreinigungen.
Vergleichbare Probleme kennen wir ebenfalls aus dem Lipperland von den ExternsteinenExternsteine im Teutoburger Wald, wo in der Zeit des NationalsozialismusNationalsozialismus der an Okkultismus interessierte Heinrich Himmler$Himmler, Heinrich Auftragsgrabungen veranlasste, eine vermeintliche germanische Kultstätte (das von Karl dem Großen zerstörte sächsische Heiligtum IrminsulIrminsul) zu erforschen (siehe Kap. 2.3.4). Auch wenn die Grabungen den erwünschten Nachweis nicht erbringen konnten – die markanten Steinmetzarbeiten an den Steinen datieren in das 12. Jahrhundert, einige künstliche Grotten möglicherweise etwas früher –, strömen esoterische Gruppen und die ‚neuheidnische Szene‘ zur Walpurgisnacht und zur Sommersonnenwende an diesen ‚starken Ort‘, dessen Strahlkraft für diesen Personenkreis unzerstörbar scheint trotz eigentlich desillusionierender Forschungsergebnisse von Archäologen und Kunsthistorikern (Eikermann et al. 2018; Halle 2018).
Der Teutoburger Wald steht gemeinhin für einen noch bekannteren, wohl den bekanntesten MythosMythos der Deutschen: die VarusschlachtVarusschlacht im Jahr 9. n. Chr. und weitere Auseinandersetzungen, die Arminius$Arminius in der Auffassung von Tacitus$Tacitus zum ‚Befreier Germaniens‘ (Tacitus, ann. 2,82: liberator haud dubie Germaniae) werden ließen (Baltrusch et al. 2012, 18) und die in der Konsequenz die Aufgabe der Germania magna rechts des Rheins für das Imperium Romanum mit sich brachten. Auch hier gibt es keinesfalls eine ununterbrochene Kontinuität von dem antiken Ereignis bis in die Neuzeit hinein, es besteht sogar eine Lücke von fast anderthalb Jahrtausenden. Denn erst die Wiederentdeckungen der Germania und insbesondere der AnnalenAnnalen des römischen Schriftstellers Tacitus (um 56 – um 120 n. Chr.) in Klosterbibliotheken im Jahre 1425 bzw. um 1505 lenkten das Augenmerk auf das antike Ereignis, wo Tacitus (ann. 1,60) die bis dahin unbekannte Örtlichkeit (… haud procul Teutoburgiensi saltu …) näher beschrieb. Damit begann die Suche und Sehnsucht nach dem Schlachtort und bereits einhundert Jahre später glaubte man, die Region eingrenzen zu können und relatinisierte den zuvor als Osning genannten Gebirgszug in Teutoburgiensis saltus (Teutoburger Wald). Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass man ein DenkmalDenkmal für Arminius, den man jetzt als ‚Hermann‘ eindeutschte, mitten im heutigen Teutoburger Wald auf der 386 m hohen Grotenburg bei Detmold errichtete. Eine kolossale Hermannsstatue, so der erste Entwurf von Ernst von Bandel, sollte ihr mächtiges sieben Meter langes und elf Zentner schweres Schwert gegen Rom richten; der Freiheitskampf wurde quasi als ‚Urknall‘ in der Entwicklung hin zu einer deutschen Nation gesehen (Ottomeyer 2009, 140–143). Der 1838 begonnene Bau stockte; erst mehr als 30 Jahre später nach dem erfolgreichen Krieg gegen den ‚Erbfeind‘ Frankreich 1870/71 konnte man Otto von Bismarck$Bismarck, Otto von für dieses Projekt interessieren und den Bau schließlich fertigstellen. Die Einweihung fand im Beisein von Kaiser Wilhelm I.$Wilhelm I., Kaiser am 16. August 1875 statt (Mellies 2009). Das Hermannsdenkmal war das erste der großen Nationaldenkmäler in der Wilhelminischen Ära, dem bis zum Abschluss mit dem Völkerschlachtdenkmal bei Leipzig (1913 eingeweiht) weitere folgen sollten (siehe Kap. 2.3.3). Es manifestiert sich als imperiales Zeugnis einer Herrscherpropaganda, die sich eines Mythos’ staatstragend bediente (Kunow 2017a). Verbunden war dieses zugleich mit einem entscheidenden Eingriff in die Erinnerungskultur, der als politische Aneignung auch die gesellschaftliche Aufklärungsarbeit der Archäologen beschäftigen muss: Nicht mehr die ursprüngliche Intention des Freiheitskampfes der Germanen gegen Rom war die Botschaft, sondern man drehte die Statue gen Westen, gegen Frankreich! Dort hatte man schon zehn Jahre zuvor dem Ursprungshelden der französischen Nation, dem Avernerfürsten und Caesargegner Vercingetorix$Vercingetorix, unter dem Kaiser Napoleon$Napoleon III. III. ein imposantes Denkmal in Alise-Sainte-Reine, dem Ort der Schlacht von Alesia, errichtet.
Nicht nur Herrscherhäuser oder Diktatoren bedienten und bedienen sich gerne selektiv und aus dem Zusammenhang gerissen der Archäologie und Geschichte und versuchen, das kulturelle Gedächtnis einer Gruppe oder einer ganzen Nation in ihrem Sinne zu formatieren (Verband der Landesarchäologen in der Bundesrepublik Deutschland 2017; Kunow 2017a mit weiterer grundlegender Literatur). Erinnerungskultur ist häufig nicht an objektiven Gegebenheiten orientiert, sondern wird bewusst und zeitbezogen konstruiert: Dieses betrifft insbesondere die ‚Erfindung der deutschen Nation‘ (Ottomeyer 2009). Noch immer ist sich die Fachwissenschaft nicht völlig einig, ob im Jahr 1987 in Kalkriese bei Osnabrück, mehr als 50 km Luftlinie vom Hermannsdenkmal entfernt, tatsächlich eine Örtlichkeit der VarusschlachtVarusschlacht aufgefunden wurde oder es sich um kriegerische Auseinandersetzungen handelt, die im Zusammenhang mit den Feldzügen des Germanicus$Germanicus wenige Jahre später (15–16 n. Chr.) stehen. Mit der Wiederentdeckung der AnnalenAnnalen des Tacitus$Tacitus, der nicht die Varusniederlage selbst, sondern die Feldzüge des Germanicus und dessen Aufsuchen des ehemaligen Schlachtplatzes beschreibt, setzte die Suche nach dem historischen Ort ein, den die Deutschen mit der Klärung ihres Ursprungs verknüpfen. Man wird diese Suche wohl auch in Zukunft fortsetzen, bis die Archäologie einen unzweifelhaften Nachweis erbracht hat (Berke 2009 mit Abb. 3 und kartografischen Eintrag der verschiedenen Lokalisierungsversuche).
ErinnerungErinnerung oder allgemeiner gesprochen das kollektive Gedächtnis (Erll 2011) ist nicht nur an Orte (geografisch: ‚Punktelement‘) geknüpft, sondern kann auch etwa historische Straßentrassen (geografisch: ‚Linienelement‘) oder ganze Landschaften (geografisch: ‚Flächenelement‘) umfassen. Als solch lineares Element soll ein Hinweis auf die Aachen-Frankfurter-Heerstraße genügen. Sie war eine Via Regia (Königsstraße) und verband in dieser Eigenschaft seit dem 9. Jahrhundert bis in die Frühe Neuzeit hinein die Stadt Frankfurt am Main, wo die Könige, später auch Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekürt (gewählt) wurden mit Aachen, dem Ort ihrer Krönung. Nachweislich mehr als 30 deutsche Könige begaben sich im Mittelalter auf diesen mehr als 250 km langen Weg, der im Alltag auch als Handels- und Postweg genutzt wurde und in den Fernverkehr von Italien in die Niederlande einbezogen war. Anders als viele römische Straßen, die eine Persistenz bis in die Gegenwart aufweisen, verlor diese Trasse in der Neuzeit ihre Bedeutung und ist heute großenteils in der Landschaft nicht mehr wahrnehmbar und wenn, nur noch in einigen Abschnitten als Feldweg oder auf archäologischen Luftbildern zu verifizieren. Es handelt sich also um ein Geländedenkmal, das zwar in gewissen Streckenabschnitten archäologisch nachweisbar ist, in weiten Teilen aber ausschließlich in der Erinnerung, also als immaterielles KulturerbeKulturerbeKulturerbe, immaterielles fortlebt. Die Zukunft wird zeigen, ob etwa auch die ehemalige innerdeutsche Grenzeinnerdeutsche Grenze dieses Schicksal teilt und als Geländedenkmal lediglich in ausgewählten Abschnitten sowie in museal aufbereiteten Erinnerungsstätten fortbesteht.
Das für die punktförmigen und linearen Elemente Beschriebene trifft auch auf Flächen, also Landschaften zu. Auch sie können in toto Bestandteil der Erinnerungskultur sein, ihr Bezugspunkt sind häufig markante Geschehnisse wie etwa Kriege. In Deutschland sind hier vor allem Regionen zu nennen, die zum Ende des Zweiten Weltkriegs noch einmal erhebliche Kämpfe erlebten. Im Vorfeld der ‚Schlacht um Berlin‘ sind es die Seelower Höhen am Oderbruch (Land Brandenburg), wo im Frühjahr 1945 die größte Schlacht des Zweiten Weltkriegs auf deutschem Boden stattfand. Noch heute sind zahlreiche Relikte der ehemaligen Stellungen und provisorischen Waldlager der Roten Armee als Bodendenkmale sichtbar vorhanden (Kersting/Meißner 2021). Das Areal um die Seelower Höhen wurde z.Zt. der DDR im Sinne staatstragender Ideologie als Gedenk- und ErinnerungsortErinnerungErinnerungsort (Berger/Seifert 2014) ausgebaut und etwa für Vereidigungen von Jungpionieren und NVA-Soldaten in Szene gesetzt. Man kann hier nach der WiedervereinigungWiedervereinigung die Transformation einer Landschaft und zugleich den Wandel der Erinnerungskultur in wenigen Jahrzehnten von einer ideologiebefrachteten DDR-Ikone hin zu einem Geschichtsort studieren.
Ein Pendant haben die Seelower Höhen im Westen mit dem Hürtgenwald bei Düren (Rheinland). Von Oktober 1944 bis Februar 1945 fanden hier die schwersten und verlustreichsten Kämpfe der amerikanischen Truppen auf dem europäischen Kontinent statt (Hoppe/Wegener 2014, 212–228). Das mehrere Quadratkilometer große Areal mit seinen diversen, noch heute deutlich als BefundBefund im Geländerelief trennbaren Stellungen der Alliierten und der Wehrmacht ist in Ansätzen bereits als ‚Erinnerungslandschaft Hürtgenwald‘ in Wert gesetzt. Insbesondere in der kollektiven ErinnerungErinnerung der Vereinigten Staaten von Amerika haben die Kämpfe im Hürtgenwald eine tiefe Verankerung gefunden: ‚Huertgen Forest‘ und ‚Rhineland‘ sind auch im National World War II Memorial, Atlantic theater, in Washington, D.C. inschriftlich verewigt.
Die Beispiele Seelower Höhen und Hürtgenwald sprechen zwei Ebenen an, eine materiell-denkmalbezogene, da noch heute viele Zeugnisse im Gelände erkennbar sind und damit die amtliche Bodendenkmalpflege hier auch gesetzlich gefordert ist. Nicht weniger wichtig ist aber die immaterielle Ebene mit ihren appellativen Bezügen (‚Gedenke der Toten‘, ‚Nie wieder Krieg‘). Derartige gesellschaftliche Bezüge sind insbesondere durch die Objekte der Zeitgeschichte zunehmend auch in ein gegenwartsbezogenes Blickfeld bodendenkmalpflegerischer Arbeit in Deutschland gerückt. Hier gibt es eine große Schnittmenge zu den NS-Unrechtsorten, die als GedenkstättenGedenkstätten seit den 1950er Jahren errichtet wurden (Endlich 2009). In der alten Bundesrepublik handelte es sich zumeist um kleine, häufig ehrenamtlich betriebene Einrichtungen, während „die DDR die historischen Orte des KZ-Terrors im Sinne des instrumentalisierten Antifaschismus für staatliche Propagandazwecke“ ausbaute und ein Paradigmenwechsel in Deutschland Ost und West hin „zu modernen zeithistorischen Museen mit besonderen humanitären und bildungspolitischen Aufgaben“ erst nach der WiedervereinigungWiedervereinigung erfolgte (Morsch 2016, 17). Aber nicht nur die Gedenkstätten in ihrer Ausrichtung auch die Einstellung der Bodendenkmalpflege in Deutschland zu zeitgeschichtlichen Objekten hat sich in den letzten drei Jahrzehnten vergleichbar paradigmatisch verändert; äußerer Anlass war die neue gesetzliche Zuständigkeit der Denkmalämter (Kunow 1996). Überall in den Bundesländern (zuletzt in Hessen mit der Novellierung des Denkmalschutzgesetzes in 2016) hatten die Gesetzgeber die zeitliche Begrenzung für Bodendenkmäler aufgehoben (siehe Kap. 2.6). Damit wurde neben der Baudenkmalpflege für die sichtbaren baulichen Relikte nun auch die Landesarchäologie in diesen Orten zuständig, wenn Eingriffe in den Boden archäologisch begleitet werden mussten. Es gab massiven Bedarf für diese Professionalisierung:
„Mit viel Enthusiasmus und wenig archäologischer Fachkenntnis begannen [bald nach der WiedervereinigungWiedervereinigung] internationale workcamps unter Anleitung von Gedenkstättenpädagogen die Erde aufzugraben, die dabei gewonnenen FundeFund (Begriff) zu bergen und stolz die den Unbilden des Wetters schutzlos ausgelieferten archäologischen Bauzeugnisse der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der schnelle Verfall der gerade erst entdeckten Überreste war vorprogrammiert“ (Morsch 2016, 17).
Mittlerweile haben Gedenkstätteneinrichtungen in Deutschland und die Landesarchäologien die Synergie verinnerlicht, insbesondere wenn es um umfangreichere Umgestaltungsmaßnahmen oder die fachgerechte Freilegung und KonservierungKonservierung von ortsfesten und beweglichen Objekten aus der Lagerzeit geht (Theune 2014; Kersting et al. 2017). Die Beschäftigung an den Orten mit NS-Bezug hat in den letzten Jahren Spezialisten auf Seiten der Archäologie hervorgebracht, die mit diesen durchaus speziellen Objekten der Zeitgeschichte umzugehen wissen. Denn ungleich stärker als in älteren Epochen sind hier ErinnerungErinnerung und gesellschaftliche Arbeit verankert (Bernbeck 2017; Hausmair/Bollacher 2019; Haubold-Stolle et al. 2020). Das mag sich für diese Orte relativieren, wenn das sogenannte Drei-Generationen-Gedächtnis zeitlich hinter uns liegt. Unabhängig hiervon werden die materiellen ortsfesten wie auch beweglichen Hinterlassenschaften auch zukünftig als haptischer Bezug für Erinnerung wichtig bleiben: Sie wirken Verklärung, Mythenbildung oder gar Falschinformationen zum staatlichen NS-Terror entgegen (Oebbecke 1995, 58f.).
Weiterführende Literatur
Horn/Kier/Kunow/Trier 1991; Eggert 2008; Bernbeck 2017; Kersting et al. 2017; Verband der Landesarchäologen in der Bundesrepublik Deutschland 2017.