Читать книгу F l i e h e n d e F a u n e - Jürgen Steinbach - Страница 10
Der glückliche Narr
ОглавлениеAls hätte er sich ein paar Zentimeter auf die Seite geschoben, oder nach oben, oder nach unten, vielleicht auch nur Millimeter, jedenfalls war er und es nicht mehr deckungsgleich. Als ihm danach war zu merken, dass das so war, war es schon zu spät. Für die anderen. Für ihn selbst hätte es nie zu früh sein können, das glaubte er zu wissen. Dass er deswegen ein bisschen wie die anderen gewesen war, hatte ihm zu schaffen gemacht. Am Anfang, als ihm noch nicht danach war zu merken, dass es so war. Aber von nun an schien ihm kein Berg mehr zu flach und kein Wind mehr zu schwach. Mit Beweisen hatte er aufgehört. Seine Schritte hatten kaum mehr noch ein Vorkommen und seine Blicke entsagten allem Schweifen. Die Tage verloren das Hellwerden und die Nächte die Dunkelheit. So war das. Früher, als es noch nicht so war, war Alles scheinbar anders. Da war er Nachahmer gewesen, und sein Begehren vorgelebt. Da hatte er noch ins Ermessliche gezielt, weil ihm ein Maß vorgegeben war. Das war früher.
Und jetzt hätte man, wenn man das Früher gekannt hätte, ihn nicht mehr verstanden. Das lag vielleicht daran, dass er sich unwissender Weise selbst nicht mehr verstand. Und weil das so war, gelang es ihm, seine Verschiebungen zu seinen Gunsten zu leben. Auf einmal, und es schien tatsächlich auf einmal geschehen zu sein, nahm er das Leben nicht mehr wahr. Das heißt, das, was ihm Leben war, bekam eine neue, ihm völlig fremde Dimension – gleichsam ohne es hinterfragen zu müssen, musste es nicht mehr wahr sein. Und das war das Schöne daran. Alles, was ihm bis dahin quälerisch und schwer vorgekommen war, bekam etwas Leichtes, Schwebendes, Aus-der-Luft-Gegriffenes. War ihm immer gewesen, als ob er gar nicht anders konnte, erfuhr er das Jetzt fast als ein Wunder. So wie man sich wundert, wenn etwas Böses plötzlich gut wird oder etwas Unreines rein oder etwas Schales prickelnd oder etwas Wehtuendes angenehm.
Es fing damit an, dass er aufwachte und sich zwar wahrnehmen konnte. So wahr zu nehmen, wie er plötzlich war, hatte er sich aber nie getraut. Woher dieser Mut kam, wollte er gar nicht mehr wissen. Natürlich musste ihm das fragwürdig vorkommen. Aber genau diesen Gedanken denken zu brauchen, brauchte ihn nicht mehr zu kümmern. Denn die Versuchung, sie als solche anzunehmen, gewann ihren ursprünglichen Charakter, so als sei ihr nichts mehr bewusster, als ihr endlich zu erliegen.
Mutig wie er also geworden war, ging er auf die Straße. Und die Straße entpuppte sich als Spielfeld all dessen, was ihm spielerisch in den Sinn kommen wollte. Die Geschäfte glitzerten in ihrer bedarften Selbstverständlichkeit und selbst der Bettler davor vergewöhnlichte sich, als wollte er nicht anders. Die Männer flogen über die Trottoirs und er mittendrin. Die Frauen zeigten ihre Vorzüge, und es war kein Überwinden nötig, sich von ihren Reizen anstacheln zu lassen. Und selbst die Politik in den Zeitungen, die sich ihm allenthalben entgegen blätterten, schien ihrer Verantwortung gerecht zwar werden, weil es nicht anders ging. Verrückt, wie er früher war, hatte er alle Not, alle Widerwärtigkeit, alle Mühseligkeit ins rechte Licht gerückt.
Er ging hinein, in all das, was sich ihm bot, als gäbe es kein Halten mehr, und tatsächlich fühlte er das Glück zum Packen nahe.
Als er sich dann trotzdem, es war wieder auf einmal, nicht mehr erinnern konnte was war, hatte er das Leben fast hinter sich gebracht. Der Gedanke, der sich ihm aufdrängte, ob er etwas hätte anders machen sollen, war zwar nicht mehr der von früher, aber er wusste auch nicht mehr, was er zu bereuen hatte.