Читать книгу F l i e h e n d e F a u n e - Jürgen Steinbach - Страница 9
Der Einfühlsame
ОглавлениеAls ich zum ersten Mal hätte bemerken können, was ich bin, fehlte mir noch der Grund. Natürlich war ich verliebt – aber eben natürlich. So wie ein siebenjähriger Junge eben verliebt sein kann. Die kleine Gabi mit Pferdeschwanz und Holzpantinen. Klapp, klapp! Schon von weitem war sie zu hören. Jeden Tag um die gleiche Zeit. Gabi, das Sommermädchen. Ich weiß nicht, was wir im Winter machten. Ich glaube, damals gab es keine Winter. Klapp, klapp! das war Gabi. Ein Geräusch, dass ich irgendwann vermissen lernen sollte.
Gabi lebte bei der Oma, ihre Mutter war woanders. Der Vater sowieso. Aber davon wusste ich nichts. Wir spielten Papa, Mama, Kind. Gabis Puppe wurde sehr verwöhnt, und ich war ein liebevoller Vater. Die Nachbarjungs spöttelten, aber ich blieb meiner Familie treu. Warum ich Gabi eines Tages, es war unter einem heiteren Himmel, die Treppe hinunter schubste, konnte ich nicht erklären. Auch Gabi nicht. Sie blutete an der Lippe. Aber sie war mir nicht böse. Als ich sie dann bei der Hand nahm, hätte ich, wenn ich es gewusst hätte, sagen können, dass ich sie liebte. Ein Versprechen, das jedoch nie ausgesprochen wurde, als ahnte ich bereits weshalb.
Die Sache mit der Sprache kam zu einer Zeit, als es anders geworden war. Eine lange Zeit später, und seit ein paar Jahren hatte man sich entschieden. Katharina für mich und ich mich für Katharina. Gabi spielte keine Rolle mehr. Was ich gewusst haben könnte, musste nichts mehr bedeuten. Katharina hatte ein eigenes Leben. Dass ich sie liebte, sagte ich auch ihr lange Zeit nicht; denn sie hätte glauben können, ich täte es meinetwegen. Katharina hatte eine Mutter und hatte einen Vater. Das genügte. Jedes Mal bevor ich sie berührte, suchte ich nach den passenden Worten. Die Suche viel mir zunehmend leichter. Ihretwegen. Sie zum richtigen Zeitpunkt in den Arm zu nehmen, war ein Lerneffekt. Ihn sinnvoll auszufüllen, ein Bedürfnis (auch wenn es schwer ist, Punkte auszufüllen, da machte ich mir nichts vor). Ihres, einen wohllautenden Satz herauszuhören, meines, ihm den nötigen Laut zu verleihen. So drang ich in sie ein und frönte dem Rest. Dass auch der irgendwann keine Rolle mehr spielen sollte, war mir Wissen genug. Oft saßen wir zusammen und ich sah sie Denken. Die Stimmung fest im Griff, nahm ich sie wahr; mehr hatte nicht zu sein, und damit konnte ich gut leben. Erst als ich ihrem Denken begann Rechenschaft abzuverlangen, anstatt es nur in mich aufzunehmen, hatten wir erkannt, wie es nicht weitergehen konnte.
Das hinter uns gebracht − und Gabi hat eine kleine Narbe auf der Oberlippe. Mehr weiß ich nicht von ihr. Sie ist schön, auch ohne Pferdeschwanz. Und Frau war sie geworden. So sieht sie mich, wie ich bin. Über die Bezahlung werden wir uns einig, sagte sie. Ich nahm es ihr nicht übel. Ich hatte es verdient, verstanden zu werden. Sie auch. Und alles hat seinen Preis.