Читать книгу F l i e h e n d e F a u n e - Jürgen Steinbach - Страница 16

So ein Tag I

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Er hatte noch einiges zu erledigen heute. Er hatte sich vorgenommen, ein paar Dinge zu erledigen, die er schon seit Wochen vor sich herschob: Bescheinigung von der Krankenkasse, Überweisung der Studiengebühren, Rückmeldung an der Uni, zwei Glühbirnen fürs Bad, eine neue Dichtung fürs Siphon an der Spüle. Am Abend blickte er mit Genugtuung auf das Geleistete. Er nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und steckte sich eine Zigarette an. Das war am Mittwoch. Donnerstag und Freitag besuchte er Vorlesungen, die er schon lange nicht mehr besucht hatte. Am Samstag wachte er auf und konnte sich nicht bewegen. Sein Blick ging übers Bett zum Fußende, streifte eine guten halben Meter Teppichboden, kletterte langsam die weiße Raufaser nach oben, brach sich im Winkel von Wand und Decke, kroch weiter, Zentimeter um Zentimeter, bis er als Senkrechte zum Stillstand kam. Jetzt hieß es so bleiben. Oder doch wieder zurück? Und das Wörtchen quoll in seinem Kopf und wurde rund, weich und anschmiegsam – zum Streicheln schön. Denn es war ja nicht so, dass da nichts war: Button und Bibel, Mime und Mimose – und eben jene fast sakrale Unbefangenheit, die in Begegnung mit alltäglichen Forderungen in seltsamer Schwerelosigkeit die Oberhand behalten konnte.

Es war sehr hell geworden im Zimmer. Sonne und Himmel eine penetrante Eintracht. Jetzt aufstehn! Etwas tun! Etwas Besonderes, Nachhaltiges, Unmäßiges. ‒ Nachdem er onaniert hatte, ging er ins Bad und betrachtete sich im Spiegel. Er entdeckte einige Unregelmäßigkeiten. Die Welle um die Nabelpartie hatte sich über die Hüftknochen ausgedehnt. Übergebrandet. Der Bierkonsum begann, seine Spuren zu hinterlassen. Wenigstens Spuren. Ein säuerlicher Gedanke, fast schmeckte er ihn. Als wäre er seinem Magen entsprungen. Seinem geschundenen, übernächtigten, der Sublimierung anheim gegebenen Magen. In seinem Gesicht hingegen waren vergleichbare Spuren kaum zu entdecken. Keine jedenfalls, die ihn hätten beunruhigen müssen. Ein paar geplatzte Äderchen um die Nase herum vielleicht, die er leichthin mit Veranlagung erklärt. Ansonsten physiognomisch markant (und für das andere gibt's Antacida). Langsam begann der Morgen sich auszupferchen, mit dem bewährten Wissen verbunden, dass der Tag, dieser wundervolle, warme Sommersonnentag es verdient, abgrundtief als ein solcher empfunden zu werden. Das sich im Begriff der Entwicklung befindliche Tun hatte der Angleichung zu erliegen. So musste es sein. Freuen sollte er sich. Einfach freuen. Und Gründe gibt es schließlich genug. Ist es doch so einfach, etwas schön zu finden, braucht's doch nur wenig Fantasie, selbst aus einem Mangel einen Wert zu ziehen, denkt man doch viel zu selten daran, wie schön es ist, zum Beispiel keinen Gehirntumor zu haben, oder einen Tripper, oder einfach nur keinen dicken Kopf, trotz der zehn Bier am Vorabend. Positive Negation. Optimistischer Nihilismus. Das Leben kann in Widersprüchen lebenswerter sein als man glaubt; denn in der Regel genügt ja wirklich nur ein halbwegs geschicktes Taktieren, um aus einem Ja ein Nein zu machen, aus einem Gut ein Böse – oder umgekehrt.

Nach und nach begann der Tag ihn anzugehen. Vorsorglich. Mit der probaten Erkenntnis verbunden, dass eine Verweigerung, wie alles im Leben, nur eine begrenzte Haltbarkeitsdauer hat. Wie fast immer in solchen Situationen, pflegen in erstaunlicher Eindringlichkeit sich seine Gedanken dann auf Frauen zu konzentrieren. Auf Frauen in all ihrer mannigfaltigen Ausprägung. Und zuvörderst auf solche, die noch kommen sollten.

Es war heiß auf der Straße. Er genoss die Hitze. Hektische Züge scheinen sich zu verlieren an heißen Tagen. Selbst denen, die nichts einförmiger zur Schau tragen als Geschäftigkeit, gerät ihre sonst so unerhörte Wichtigkeit in den Bann eines Dösens − einer lächelnden Langsamkeit. Jetzt ein Café (für eine Kneipe noch zu früh), im Freien sitzen und beschaulich flanieren lassen. Der Gedanke Warum nicht immer so? drängt sich auf − ohne der ach so berechtigten Fragwürdigkeit dieses Gedankens auch nur den geringsten Raum zu lassen. Und das ist gut so. Ein Tag wie er im Märchenbuche steht. Jetzt eine Frau mit großem Herzen und noch größeren Brüsten. Und wenn nicht jetzt, dann vielleicht später. Er hatte es nicht eilig. Und das war schön so.

Es gibt Minuten, Stunden, manchmal Tage an denen einem Dinge klarer erscheinen als sonst. Alle Fragen sind entzaubert und alle Antworten unwürdig, erfragt zu werden. Kein Verbergen und keine Vertuschungstaktik haben Chancen unverstanden zu bleiben. Also, und all dessen sich bewusst, so plötzlich geworden aber doch nicht neu, sieht er wie sie kommen und gehen, Händchen haltend und Arm umgreifend, Kinder geschultert und Plastiktüten schwingend. Es ist ja Samstag. Man flaniert. Seliges Lächeln. Philantropisiert und mit einem Unendlichkeitsglauben infiziert. Wie machen die das bloß? fragt er sich dann mitleidvoll und jedes Mal.

So um die zwölfte Stunde fing er an Bier zu bestellen. Weißbier aus der Metropole. Es war an der Zeit sich einzutrinken. Warum er bestimmten Flaneuren weniger Mitleid entgegenbrachte? – vielleicht, weil die, die er meint, ja ein wenig müßiger, ein wenig öfter auch ihren Bauch einsetzen als andere. Am Chinaturm oder am Flaucher. Wo es seinen Freund, den Sänger, hinzieht in den ersten Frühlingstagen, wie er dichtet. Wesensgleiches mildert Wirklichkeiten, macht sie angreifbarer. Und wirklich ist, dass weiterhin geschieht, was immer geschah. So auch dieses Mal. Als er zum ersten Mal sich der Fatalität der Einzigartigkeit gegenübersah, weigerte er sich wehmütig, diesen Gedanken weiterzuspinnen. Und auch jetzt wieder holte er sich eine passende Pose aus dem großen Topf der facialischen Möglichkeiten. Schon lächelte er ihr zu.

Sie hatte am Tisch nebenan Platz genommen. Sie hatte sich einen Kaffee bestellt und blätterte in der Rundschau. Dem Verdacht sich anbahnender Theatralik wich Theater. Schon als Kind hatte er sich oft ein Spiel daraus gemacht, in andere Personen zu schlüpfen. In Serienhelden und Spielfilmrollen. Mehr in Serienhelden. Und er liebte Sensationen. Beherrscht man das Spiel, ist alles einfacher. Man kann aus der Deckung heraus agieren und drohende Tiefschläge, mögen sie noch so zielsicher sein, prallen ab ‒ denn man ist nicht gemeint.

Ihr Lachen war sehr nett. Sie hatte sich noch einmal umgedreht im Gehen, und er dachte – Aber nein. Ganz sicher besser so. Und er war gar nicht enttäuscht. Er sah auf die Uhr. Es war gegen Eins.

Es gibt Phasen im Leben, wo einem so ziemlich alles gelingt, das endgültige Gelingen an sich dann aber sogar zweitrang wird; weil das zur Erfüllung Anstehende in solchen Phasen nicht auf das Ziel gerichtet ist, sondern sich mit der so empfundenen Leichtigkeit begnügt. Alexandra. Und vierzehn rhythmische Zeilen ein Kinderspiel. Man musste nur wollen. Und die Attraktion hängt von der Mischung ab. Er hatte seine Erfahrung. Ein paar Träume, weich und wattig, zwischen feisten Engeln reifend, ein bisschen Schwanz und Herz in einer Blüte kopulierend und eben der Rhythmus, für den er ein erstaunlich sicheres Gefühl habe, wie sein Freund, der Sänger, einmal neidlos gestand. Am Ende war er sehr zufrieden mit sich ‒ Sonett an Alexandra.

Mittlerweile ein Hungergefühl. Der Übergang hatte fließend zu sein, das wusste er, das war Bedingung an so einem Tag. Der Weg ins Nordend führte ihn an seiner Wohnung vorbei, doch keine Unterbrechungen jetzt. In der Kneipe einen Salat, vielleicht ein Chili hinterher. Dann allerdings folgt die Zeit des Ausharrens. Ein Freund tut gut in solchen Momenten. Oder auch nur ein Gespräch mit dem Wirt: Weißt du noch, damals …?! und ein paar Zoten zum Auflachen. Dann tritt SIE ins Geschehen. MANN sieht FRAU, und der Rest wie von selbst an so einem Tag. Worte. Aus schier unerschöpflicher Quelle. Sprudelnd. »Du schreibst Gedichte?« Große Augen. »Einzig für Dich noch.« Geübtes Lächeln. Der Kerl an ihrer Seite fletscht die Zähne, das ist normal.

Angekommen, dann endlich, kann das Benehmen breiter werden. Epischer nennt er es manchmal, des Vergleiches wegen und weil er um Rücksichtnahme weiß. So begann er von dem zu sprechen, das erwartet wird, so wie sie Fragen beantworten durfte, die zu stellen man sich verpflichtet fühlt. Der Bogen wird geschlagen, wie es sich gehört: vom Heute zum Gestern ‒ wo er, wie gewohnt, für eine Weile verweilt –, um dann mit einem mächtigen Satz in der Zukunft zu landen, der Vollständigkeit und der geforderten Ganzheit halber. Natürlich, ohne sich dort wohl zu fühlen, wie er sich gleich mitteilt, mit vielsagendem Lächeln, das sie so vielleicht nur noch nicht zu deuten versteht. Er sei ein Mensch der Erinnerungen, sagt er dann, dabei das Lächeln, wie er meint, vom Mehrfachen befreiend − ohne es jedoch ins Einfache abrutschen zu lassen. Sie sollte schon das Interesse an Nachfragewürdigem nicht verlieren.

So verlief der Abend, der zu diesem Tag gehörte, dem Plan entsprechend. War bis dahin sein Tun der letzten Stunden fast ausnahmslos von Automatismus bestimmt, bestimmte ihn von nun an eine Selbstverständlichkeit, die er, wie er einmal rückblickend feststellte, gerne als beseelt bezeichnen würde, setzte er sich damit nicht dem berechtigten Vorwurf aus, pathetisch zu wirken. Also wich er der Möglichkeit aus, ein neues Wort zu finden, indem er es vermied, weiter darüber nachzudenken. Manchmal ist es eben doch besser, nicht alles gleich in Sprache zu zwingen, was einem die vielschichtige Natur mit auf den Weg gegeben hat. Dass es einmal eine Epoche gegeben habe, da das Schweigen eine ganze Literaturlandschaft beherrscht habe, sagte er, und das sollte nicht als Entschuldigung verstanden werden. Ihr gar nicht die Möglichkeit zu geben, es als eine solche zu begreifen, ließ er keine Zeit verstreichen, zu den Begreiflichkeiten überzugehen.

Wenige Tage vergingen. Eines Morgens wachte er auf und konnte sich nicht bewegen. Die Sonne war ihm dieses Mal egal.

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