Читать книгу Die Akte Plato - Kai Kistenbruegger - Страница 11

9) Portugal, Terras do Sado, 03. Juli 2007

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‚Jetzt’ war anscheinend für Patterson ein dehnbarer Begriff. Mittlerweile waren ein paar weitere Minuten verstrichen und trotzdem war Jan nicht viel schlauer als vorher. Unruhig rutschte er auf dem Stuhl herum, nur mühsam ein Seufzen unterdrückend. Für seine Verhältnisse hatte er sich lange genug zusammengerissen. In ihm brodelte brennend die Ungeduld. Ein weiterer Versuch, ihn mit Plattitüden hinzuhalten, und er würde lauthals schreiend aus dem Zimmer rennen, sich die Kleider vom Leib reißen und sich kopfüber die Klippe hinabstürzen. Das würde zwar nur bedingt helfen, aber wenigstens würde sich etwas von dem Druck abbauen, der sich seit München stetig in seiner Brust angestaut hatte und ihn beinahe zu zerreißen drohte.

Bis es jedoch so weit war, nutzte Jan die Zeit und musterte seine Sitznachbarn. Eine durchaus illustre Runde, die Patterson in der Villa versammelt hatte. Neben Jan, Patterson und Susanna Pullman hatten sich vier weitere Personen um den runden Tisch zusammengefunden. Mit zwei der Namen, die während der kurzen Vorstellungsrunde in den Raum geworfen worden waren, konnte Jan sogar etwas anfangen.

Zwei Plätze neben ihm saß zum Beispiel Russel Black, seines Zeichens ehemaliger Mathematikprofessor an der berühmten Harvard Universität. Es war allerdings weniger sein Wirken in diesem Bereich, das ihm einen eher zweifelhaften Ruf als Computergenie eingebracht hatte, sondern vielmehr die Hacker-Attacke, die er letztes Jahr auf den Zentralcomputer des Pentagons gestartet hatte. Zuvor hatte er jahrelang vergeblich versucht, den sturen Behördenapparat davon zu überzeugen, dass die für die USA größte Gefahr des anfangenden 21. Jahrhunderts nicht vor den einheimischen Häfen oder im Luftraum, sondern im unkontrollierbar wuchernden Internet lauerte. Eine Gefahr, der die USA bei dem rasanten, technologischen Fortschritt der letzten Jahre kaum etwas entgegen zu setzen wusste. Die Vereinigten Staaten präsentierten ihre vitalen Systeme, seien es die Computersysteme des Verteidigungsministeriums, oder die Finanztransaktionssysteme der großen Staatsbanken, nahezu ungeschützt vor Terroranschlägen aus den Tiefen des weltumspannenden Internets. Seine mahnenden Worte verhallten ungehört, jedenfalls bis zu dem Tag, an dem er ins angeblich unknackbare Computersystem des Pentagons eingedrungen war und das gesamte Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten vor aller Welt blamiert hatte.

Unnötig zu erwähnen, wie die Reaktion der amerikanischen Regierung ausgefallen war. Die Verantwortlichen hatten sich über alle Maßen brüskiert gezeigt, hatten aber gleichzeitig versucht, den Vorfall vor aller Welt zu bagatellisieren. Black avancierte nahezu über Nacht offiziell zum Beauftragen für Datensicherheit in den USA. Ein genialer Marketing-Schachzug, der es nicht nur den USA ermöglichte, ihr Gesicht zu wahren, sondern Black einen lukrativen Nebenverdienst einbrachte, zusätzlich zum Bonus, nicht für mehrere Jahre in einem amerikanischen Hochsicherheitsgefängnis weggesperrt zu werden.

Auch der Mann direkt neben Black war für Jan kein unbeschriebenes Blatt. Auch wenn es sich bei ihm, zumindest für ernsthafte Wissenschaftler, kaum um einen gepflegten Umgang handelte. Rupert Morden war – vorsichtig ausgedrückt – für eher alternative Theorien hinsichtlich der Entstehung und der Entwicklung des Menschen bekannt. Keine seiner mittlerweile zahlreichen Veröffentlichungen ignorierte das Thema Außerirdische länger als über das erste Kapitel hinaus. In seinen Werken füllten fremde Kreaturen aus dem All die unterschiedlichsten Rollen aus. In einigen seiner Bücher verkörperten sie die Urväter aller Menschen, die dereinst den Samen des Lebens auf der Erde aussäten, aus dem Millionen Jahre später der Evolutionsbaum der Menschheit entspross. Quer durch alle Publikationen bezeichnete er sie als Technologiebringer, Berater, Freunde und Verbündete, die bereits vor Jahrtausenden mit den Menschen ihr unendliches Wissen und ihre Weisheit uneigennützig geteilt hätten.

Meistens erschienen sie in seinen Theorien als freundlich gesinnte Wesen mit überzogen väterlichen Tendenzen, weswegen seine Hypothesen in einer Welt einsamer Menschen durchaus ihre Anhänger fanden und den Verschwörungstheoretikern im Internet überaus populären Zündstoff boten.

Die beiden anderen Personen kannte Jan allerdings nicht. Einer der beiden Männer war Jan mit dem Namen Joe Smith vorgestellt worden; ein Name, der offensichtlich so unecht war wie das überzogen freundliche Lächeln, das Patterson gelegentlich zur Schau trug. Joe Smith hatte das Gesicht und die disziplinierte Haltung eines langjährigen Angehörigen des amerikanischen Militärs. Vielleicht tat Jan der US Army damit unrecht, aber den wenigen Soldaten, die er kennen gelernt hatte, hatte er bereits aus mehreren Metern Entfernung den militärischen Drill ihrer Ausbildung ansehen können. Ihre gesamte Art karikierte das Bild eines patriotischen Soldaten, dessen Gehorsam und Loyalität feste, unerschütterliche Bestandteile seines Wesens geworden waren, als wären sie ihm bereits bei der Geburt in die Wiege gelegt worden. Wie bei Joe Smith äußerte sich das in kurz geschorenen Haaren, einem strengen Blick, der meistens starr geradeaus gerichtet war, sowie in der Angewohnheit, nur selten und meistens nur nach Aufforderung zu sprechen. Joe Smith war in einer gepflegten Unterhaltung beim Dinner mit Sicherheit so fehl am Platze, wie Jan in einem Gespräch über moderne Waffentechnologie.

Joe Smith schien keinen hohen Rang zu bekleiden, obwohl ihn Patterson als Sicherheitsbeauftragten des Projekts vorgestellt hatte. Unter der engen Uniform zeichneten sich riesige Muskelberge ab, und sein wortkarges Wesen ließ eher auf einen Charakter schließen, der im Zweifelsfall den körperlichen Argumenten den Vorzug ließ, als Streitthemen diplomatisch und gewaltlos auszudiskutieren.

Der letzte Unbekannte der Runde legte ein sichtlich nervöses Verhalten an den Tag. Hinter den dicken Gläsern seiner Brille huschten seine Augen aufgeregt zwischen den Anwesenden hin und her; seine Hände kneteten unablässig seine Oberschenkel, als würde er versuchen, einem akuten Muskelkrampf mit einer kräftigen Massage entgegen zu wirken. Paul Breitenscheidt machte alles in allem einen sehr ungepflegten Eindruck. Seine Haut glänzte fettig, seine Haare standen wild und zerzaust vom Kopf ab, und unter dem schmuddeligen Hemd zeichnete sich eine beachtliche Plauze ab, die sich vorwitzig über seinen sichtlich überforderten Gürtel schob. Wie Jan kam Paul aus Deutschland und war, wie Patterson ausführte, als Geologe zum Projekt hinzugezogen worden.

Was Susanna Pullman anging, hatte Jan mit den Vermutungen, die er aus dem flüsternden Gespräch zwischen ihr und Patterson in der Vorhalle gezogen hatte, nicht allzu falsch gelegen. Susanna stellte sich Jan als Archäologin vor. Wie es ihr Outfit bereits verraten hatte, war sie gerade von einer Ausgrabungsstätte in der Nähe zurückgekehrt. Eine faszinierende Frau. Jan fiel es schwer, die Augen von ihr zu lassen. Ihre Art und Gestik wirkte nicht nur erfrischend natürlich, sondern strahlte gleichzeitig eine Wärme und Freundlichkeit aus, wie sie Jan bisher noch an keinem Menschen hatte beobachten können. Mit Patterson im direkten Vergleich zu ihr kam Jan nur das Klischee von Tag und Nacht in den Sinn.

Patterson wühlte sich derweil auf der Suche nach der richtigen Verbindung sichtbar entnervt durch einen Wust von Kabeln, um seinen Computer mit dem Projektor unter der Decke zu verbinden. Jan warf einen fragenden Blick in die Runde, aber von ihm selbst abgesehen schien keiner der Anwesenden auf die von ihm dringend erwartete Erklärung gespannt zu sein. Vermutlich gehörten sie schon des Längeren zu Pattersons Kreis von Eingeweihten und kannten seine Ausführungen aus dem Effeff.

„Kommen wir zum Thema“, ließ Patterson mit einem zufriedenen Schnauben verlauten, als der Projektor mit einem lauten Aufsummen des Lüfters den Startbildschirm von Windows an die Wand warf.

„Wir haben Professor Seibling hinzugezogen, um die kürzlich unter mysteriösen Umständen verschollene Dr. Bracke zu ersetzen. Professor Seibling kennt Dr. Bracke bereits seit Jahren und wird mit etwas Glück helfen können, mit seinen privaten Erfahrungen zumindest einen Teil der noch offenen Fragen aufzuklären.“ Er nickte kurz in Jans Richtung. „Ich denke, ich spreche für alle hier, wenn ich mir wünsche, dass wir Dr. Bracke mit Ihrer Hilfe wohlbehalten wieder auffinden können, ebenso wie unseren geschätzten Kollegen Dr. Boyd.“ Patterson warf einen kurzen Blick in die Runde, begleitet von einem zustimmenden Gemurmel der Anwesenden.

„Wichtig an dieser Stelle ist, dass Professor Seibling so schnell wie möglich auf den aktuellen Stand unserer Ermittlungen und unserer Forschungsergebnisse gebracht wird. Ich erwarte von Ihnen allen, dass Sie ihm Ihre volle Unterstützung zukommen lassen.“

Morden stupste Jan mit dem Ellenbogen an und ließ ein heiseres Lachen aufblitzen. „Ich verspreche Ihnen, diese Nacht wird die aufregendste Achterbahnfahrt ihres Lebens! Die Akte Plato ist bekannt dafür, das Leben nachhaltig zu verändern.“ Irritiert drehte Jan sich zu ihm um. Im Raum war es für einen Moment still geworden. Sechs aufmerksame Augenpaare musterten Jan neugierig wie die faszinierende Hauptattraktion eines Kuriositätenkabinetts.

„Mr. Morden hat nicht ganz Unrecht“, bestätigte Patterson. Er vollführte eine theatralische Geste mit der linken Hand und ergänzte mit verschwörerischem Unterton: „Professor Seibling, ich werde Ihnen jetzt etwas zeigen, das Ihr Weltbild auf den Kopf stellen wird. Ich bin sicher, danach werden Sie verstehen, warum ich Ihnen nicht sofort sagen konnte, worum es bei der Akte Plato überhaupt geht.“ Er stutzte kurz und ergänzte: "Den Namen des Projekts verdanken wir unserem verehrten Mr. Morden. Er erschien uns recht passend."

Mit diesen Worten drückte Patterson eine Taste an seinem Notebook. Ein unscharfes Bild flimmerte auf der Leinwand auf. Das Bild erinnerte Jan schlagartig an die berühmten Aufnahmen der ersten Mondlandung. Der grelle, weiße Sand der Mondoberfläche dominierte das Bild. Er bildete auf dem Foto einen leuchtenden Kontrast zu einem allumfassenden, schwarzen Himmel, an dem eigentlich tausende von Sternen ihr sanftes Licht hätten verbreiten sollen. Jan wusste allerdings, dass ihr Licht zu schwach war, um auf den alten Negativaufnahmen angezeigt zu werden. Ein unförmiger Astronaut in einem klobigen Raumanzug drehte der Kamera den Rücken zu, den Blick auf ein Objekt gerichtet, das im Zentrum des Bildes in ein paar hundert Metern Entfernung auf dem Sandboden ruhte.

Jan konnte nicht genau erkennen, worum es sich handelte. Wahrscheinlich die Raumfähre der Astronauten, allerdings sah sie nicht wie das Landemodul aus, das er von den Bildern kannte, die 1969 die Welt in Aufregung versetzt hatten. Auf die Entfernung war es schwer zu sagen, aber das Objekt wirkte annähernd kugelförmig, abgesehen von ein paar kleineren Ausbuchtungen am unteren Ende, und abgesehen von einer Öffnung, die eine Art Ausstiegsluke zu sein schien. Nein, mit Sicherheit, diese Kugel wies kaum Ähnlichkeiten mit den Raumfähren auf, die Jan aus dem Fernsehen kannte und die auf charmante Weise irgendwie immer den Eindruck erweckten, in aller Eile aus Stanniolpapier und Aluminiumdraht zusammengeklebt worden zu sein.

„Hier sehen Sie das Objekt, das uns alle hier zusammengeführt hat“, fuhr Patterson fort. „Diese einzigartige Fotographie wurde 1972 bei der letzten Mondlandung von dem damaligen Kommandanten der Mission aufgenommen, kurz nachdem er und sein Geologe das Objekt entdeckt hatten.“

„Sie werden unschwer erkennen, dass es sich bei dem Objekt um eine Art Landekapsel handelt“, mischte sich Morden ein. Aufregung schwang in seiner Stimme mit. „Allerdings in einem uns völlig unbekannten Design.“

Rupert Morden, der so etwas wie ein anbetungswürdiger Guru für die unzähligen Verrückten auf der Straße war, die fest daran glaubten, E.T. hätte es wirklich geben, lachte laut auf. „Sehen Sie es sich an! Es sieht nicht im Entferntesten so aus wie das Spielzeug, mit dem die Astronauten selbst auf dem Mond gelandet sind.“

Jan war kaum noch in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Sein überforderter Verstand begnügte sich damit, mit den ziellos verstreuten Bildern, die in seinem Kopf Kapriolen schlugen, Memory zu spielen. Wie die kleinen bedruckten Kärtchen des bekannten Kinderspiels deckte sein Verstand ein paar Gedanken auf, prüfte, ob es Ähnlichkeiten gab, verwarf sie, deckte neue auf. Rupert Morden. Ein unbekanntes Objekt. Rupert Morden. Ein Experte für…, nein, unmöglich! Beinahe schlagartig hatten sich gleich drei Gedanken gefunden, die zusammen betrachtet einen beängstigenden Sinn ergaben.

„Das ist nicht Ihr Ernst!“, unterbrach ihn Jan mit verdattertem Blick, „ Ein unbekanntes Design!? Wem unbekannt!?“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Ein Ufo?“ Mit den letzten Worten überschlug sich seine Stimme fast.

„Falls Sie aufmerksam zugehört hätten“, fuhr Morden unbeirrt fort, „habe ich das Wort ‚Ufo’ nicht in den Mund genommen. Nein, nein, Sie sind mit Ihrer Annahme auf dem Holzweg. Es gibt keinen Zweifel daran“, er wedelte mit der Hand in Richtung des Bildes, „diese Kapsel ist auf jeden Fall irdischen Ursprungs.“

Morden legte eine erwartungsvolle Pause ein, die Jan zu einem ungläubigen „Irdisch? Von wem?“ nutzte.

Doch kaum hatte er seine letzte Frage ausgesprochen, spürte Jan die Antwort in sich aufkeimen, nagend, wie ein Jucken, gegen das alles Kratzen der Welt nicht würde helfen können. Ihm fiel das Gespräch wieder ein, das er mit Patterson im Flugzeug geführt hatte. Über Atlantis, den verschollenen Kontinent. Die Bruchstücke, die er Häppchenweise von Patterson vorgesetzt bekommen hatte, formten auf einmal ein Bild. Ein Bild, das faszinierend war, aber gleichzeitig so verstörend, dass Jan es nicht wagte, seine Gedanken laut auszusprechen.

Atlantis. Eine Kapsel auf dem Mond. Eine Gruppe von Experten unterschiedlichster Fachrichtungen. Ein Wissenschaftler der NASA, Archäologen, ein Geologe und ein Anthropologe, wenn er Morden ebenfalls als Wissenschaftler in Betracht zog. All diese kleinen Puzzleteile ergaben auf einmal einen Sinn.

„Atlantis!“, murmelte er kaum hörbar. Er musste schlucken, um das aufsteigende Gefühl der Übelkeit zu unterdrücken. Seine Zunge fühlte sich schwer und trocken in seinem Mund an. Jan hatte das Gefühl, sie nur mit übermenschlicher Kraftanstrengung zum Sprechen bewegen zu können. „Verstehe ich Sie richtig?“, presste er mühsam hervor und richtete die Worte an die gesamte Runde, „Sie sagen; die Crew der letzten Mondlandung hat auf dem Mond etwas gefunden, das weder von der NASA, noch von einer anderen mir bekannten Weltraumnation stammt, aber trotzdem definitiv irdischen Ursprungs ist!?“

Das war die Erkenntnis, auf die Patterson gewartet hatte. „Professor Seibling“, sprudelte es aus ihm heraus, als wäre endlich der Damm der Geheimniskrämerei gebrochen, hinter dem er sich die letzten Stunden versteckt hatte, „Die Entdeckung des Objekts auf dem Mond ist noch nicht einmal die bemerkenswerteste Tatsache, schließlich ist der Mensch seit 1969 der Reise ins Weltall fähig, und neben den Vereinigten Staaten hat auch die Sowjetunion kurz davor gestanden, einen Menschen auf den Mond zu schicken. Nein, das Interessanteste an dieser Kapsel dort ist ihr Alter.“ Ein zustimmendes Nicken der anderen am Tisch. „Eine genaue Datierung ist durch die Witterungsbedingungen auf dem Mond schwierig, aber wir schätzen die Kapsel auf ein Alter, das irgendwo zwischen 8.000 und 12.000 Jahren liegt.“

Die Akte Plato

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