Читать книгу Die Akte Plato - Kai Kistenbruegger - Страница 9

7) Über dem europäischen Festland, 03. Juli 2007

Оглавление

Das sanfte Rütteln des Flugzeuges schläferte Jan langsam aber sicher ein. Nur mit Mühe konnte er seine Augen offen halten, auch wenn die ganze Situation eigentlich zu aufregend war, um an Schlaf zu denken. Die bequemen Ledersitze halfen auch nicht unbedingt dabei, seine Müdigkeit zu überwinden. Die kleine zweistrahligen Privatmaschine mit amerikanischer Kennzeichnung hatte bereits am Flughafen auf Patterson und ihn gewartet. Patterson und er teilten sich die schmale Kabine lediglich mit der Besatzung, die sich allerdings vornehm hinter einem beigen Vorhang versteckt hielt, zumindest seitdem er der Stewardess zum zweiten Mal freundlich aber bestimmt mitgeteilt hatte, dass er auch ohne weitere Getränke diesen Flug mit Sicherheit überleben würde. Das verschaffte ihm etwas Zeit, die letzten Stunden Revue passieren zu lassen. Jan hegte allerdings wenig Hoffnung, ohne weitere Informationen etwas Licht in die trübe Brühe bringen zu können, in der er gerade erfolglos fischte.

Rational ließ sich seine gegenwärtige Situation sowieso kaum erklären. Hätte jemand anderes an seiner Stelle ihm diese Geschichte erzählt; es würde ihm sehr schwer fallen, auch nur ein einziges Wort davon zu glauben. Innerhalb eines halben Tages hatte er es geschafft, sein an sich beschauliches Leben in ein turbulentes Abenteuer zu verwandeln. Er saß in einem Flugzeug mit unbekanntem Ziel, mit einem Mann, den er nicht kannte und, wie ihm in diesem Moment erst bewusst wurde, nur mit den Dingen, die er am Leibe trug. Keine Kleidung zum Wechseln, keine Zahnbürste, Rasierer oder andere Dingen des täglichen Bedarfs hatte er in der Kürze der Zeit mitnehmen können. Er hatte sich blind einem undurchsichtigen Mann anvertraut, der zwei Sitzreihen vor ihm mit schwermütiger Miene mit dem Bordtelefon telefonierte und ihm seit ihrem Abflug keinerlei Beachtung mehr geschenkt hatte.

So sehr es Jan auch interessierte, dem Gespräch konnte er nicht folgen. Sein Englisch war zwar ausgezeichnet, doch das Dröhnen der Düsentriebwerke machte es beinahe unmöglich, mehr als ein paar Wortfetzen aufzuschnappen. Patterson führte offensichtlich mehrere Gespräche, in denen hauptsächlich er selbst sprach; seine Anweisungen erfolgten in kurzen und knappen Befehlen. Von Zeit zu Zeit fuhr er sich energisch durch die dünnen Haare, eine unbewusste Geste, die scheinbar seiner Ungeduld zuzuschreiben war. Auf Jan wirkte er wie ein Feldwebel, der seine Armee auf dem Schlachtfeld einen Kampf ausfechten ließ, der sich kaum noch gewinnen ließ. Insgesamt hinterließ Patterson einen eher fahrigen Eindruck und erschien nicht annähernd so siegessicher, wie Jan ihn in der amerikanischen Botschaft kennengelernt hatte.

Je länger Jan Patterson bei seinen Telefonaten zuschaute, umso mehr verstärkte sich sein Verdacht, Patterson hätte ihm nicht die Wahrheit erzählt. Die Rolle als NASA-Wissenschaftler jedenfalls kaufte er ihm nicht mehr ab, dafür schien Patterson zu viel Einfluss zu besitzen. Selbst der deutsche Außenminister reagierte Patterson gegenüber unterwürfig wie ein junger Welpe, anstatt wie ein auf dem internationalen Parkett erfahrener Diplomat zu agieren. Jan bezweifelte allerdings auch, dass Bauer mehr als eine kleine Rolle in der ganzen Sache spielte. Vermutlich hatte Patterson nur eine repräsentative Gestalt innerhalb der deutschen Politiklandschaft benötigt, um im Hintergrund seine Fäden ziehen zu können, ohne selbst in Erscheinung treten zu müssen. Bauer schien nichts anderes zu sein als ein – Nomen est Omen – kleiner Bauer auf dem Schachbrett von Pattersons Machtspielchen.

Jan hatte nur noch kurz die Gelegenheit erhalten, mit Bauer ein paar Worte zu wechseln. Bevor er in der amerikanischen Botschaft zurückgeblieben war, hatte er Jan beiseite gezogen und eine etwas längere Litanei über die diplomatischen Beziehungen zu den USA abgelassen – das derzeitige Verhältnis angespannt durch die Haltung der deutschen Bundesregierung zum Irakkrieg in 2003, Blablabla, die Wichtigkeit der deutschen Kooperation in Fällen wie diesen und was für eine unglaubliche Gelegenheit sich Jan darbot, seinem Vaterland, Deutschland, einen Dienst zu erweisen.

Jan lächelte müde, als er an den ernsten Blick zurückdachte, mit dem Bauer ihn bei seinem minutenlangen Monolog unablässig bedacht hatte. Patriotismus in allen Ehren, aber Appelle an Jans Nationalstolz verpufften zumindest in diesem Fall ungehört. Als mündiger, intelligenter Bürger bildete sich Jan aus Prinzip sein eigenes Urteil, bevor er Stellung bezog, unabhängig davon, was die deutsche Regierung ihn glauben lassen wollte. Und, wie Patterson bereits festgestellt hatte, glänzte Bauer allenfalls mit Unwissenheit, viel Substanzielles hatte er jedenfalls nicht beizutragen gewusst. Vermutlich plagte ihn nur die Sorge um seinen politischen Posten, der naturgemäß stark von den Beziehungen zu der einzig verbliebenen Supermacht der Welt abhing. Patterson – und nicht Bauer - blieb der Schlüssel zu der ganzen Sache, davon war Jan überzeugt. Somit blieb er die einzige Person, die ihm die ersehnten Antworten liefern konnte.

Nach einer Weile gab er seine Bemühungen auf, etwas von Pattersons Gesprächen verstehen zu wollen, und schaute mit müden Augen aus dem Fenster. Sein Blick fiel auf ein Meer strahlend weißer Wolken, die ihm die Sicht auf den Boden versperrten. Jan konnte noch nicht einmal sagen, in welche Richtung sie flogen. Was das Ziel oder die Dauer ihrer Reise anging, so tappte er völlig im Dunkeln. Patterson war nicht besonders gesprächig gewesen, weder auf der Fahrt zum Flughafen, noch während des Fluges. Jan hatte es letztendlich aufgegeben, nachzufragen.

Er wandte seinen Blick erst vom blendenden Weiß der Wolken ab, als er Patterson aus den Augenwinkeln aufstehen sah. Patterson setzte sich auf den Platz vor ihm und drehte sich halb um, den Arm lose über der Lehne baumelnd. In dieser Haltung wirkte er merkwürdigerweise wie ein Teenager, der gemeinsam mit einem guten Freund ein paar Streiche aushecken wollte.

„Was wissen Sie über Atlantis?“ fragte er mit ernster Miene, ohne ein Wort der Entschuldigung voranzuschicken, Jan so lange ignoriert zu haben.

Jan überlegte nur kurz. Eigentlich hatte er gehofft, direkt ein paar klare Antworten zu erhalten, aber Patterson zog es offensichtlich vor, ihn auf die Probe zu stellen. Eingelullt von dem weichen Leder seines Sitzes und der ruhigen Atmosphäre des Flugzeugs, fühlte allerdings auch Jan nicht mehr den Drang, seinen Wissensdurst sofort gestillt zu sehen. Deswegen beschloss er, mitzuspielen. Inzwischen hatte er sogar so etwas wie ein Gespür dafür entwickelt, wie Patterson tickte. Er würde niemals von sich aus Informationen herausrücken. Gespräche mit Patterson glichen eher einem Wortgefecht zweier Rivalen als einem Gedankenaustausch zweier Gelehrter. Jedem Argument folgte ein Gegenargument, Schlag auf Schlag, ohne Pause oder Rücksicht auf die Gefühle des Gesprächspartners. Nur wenn sich der Diskussionspartner als ebenbürtig erwies, würde er sich um weitere Informationen verdient machen.

„Alles, was wir derzeit von Atlantis wissen, stammt von Plato, einem griechischen Philosophen. Wenn ich mich richtig erinnere, hat er in seinen philosophischen Schriften namens Timaios und Kritias erstmalig die Geschichte des Inselstaates Atlantis erwähnt“, eröffnete Jan das Spiel. „Das dürfte in etwa 400 vor Christus der Fall gewesen sein.“

Patterson nickte. „Richtig. Die Wissenschaft streitet noch heute darüber, ob es sich bei Platos Erzählung um einen Tatsachenbericht oder tatsächlich um eine erfundene Geschichte handelt. Wenn wir Platos Bericht Glauben schenken, stammen seine Informationen über Atlantis von einem ägyptischen Priester, der etwa 600 v. Chr. dem athenischen Gesetzgeber Solon von dem Inselstaat berichtet haben soll. Solon wiederum hat das Wissen um Atlantis dem Großvater von Kritias anvertraut. Kritias ist Platos Onkel, nebenbei bemerkt, und erwiesenermaßen keine fiktive Gestalt. Interessant daran ist, dass Plato darauf besteht, der Hintergrund sei absolut authentisch, während er bei seinen anderen Schriften nie einen Anspruch auf Wahrheit geltend gemacht hat.“

Jan runzelte nachdenklich die Stirn. „Nichtsdestotrotz gibt es begründete Zweifel daran, ob Atlantis wirklich existiert hat. Von Plato sind mehrere Werke überliefert worden. Die meisten hat er zeitlich noch vor der Aufzeichnung des Atlantis-Mythos verfasst, so wie seine Politeia, sein Hauptwerk. Die Politeia können wir nicht außer Acht lassen, wenn wir den Wahrheitsgehalt seiner Folgeschriften beurteilen wollen.“

Patterson nickte kaum merklich und gab Jan mit einer kurzen Handbewegung zu verstehen, fortzufahren. „Die Politeia ist wirklich beachtlich“, erklärte Jan. „In diesen Schriften skizziert er seine Vorstellung von einem Idealstaat; ein Staat mit einer in seinen Augen perfekten Regierungsform, die ausschließlich dem Wohle der Menschen und der Gesellschaft dient.“

Jan legte eine kurze Pause ein. In Pattersons Gesicht konnte er nicht ablesen, ob er ihm zustimmte oder nicht. Im Grunde war es Jan auch egal; je mehr Patterson schwieg, desto mehr redete er sich in Rage: „Und hier kommen die Parallelen zu seiner Kritias ins Spiel. In seiner Kritias beschreibt Plato den langwierigen Krieg eines früheren Athen mit einer expansiven Seemacht namens Atlantis. Und interessanterweise skizziert Plato dieses frühe Athen als einen Staat, der genau die Staatsform gewählt hat, die er Jahre zuvor in der Politeia als absolut überlegen dargestellt hatte. Die Vermutung liegt also nahe, dass Plato den Mythos um Atlantis lediglich erfunden hat, um einen Beweis für die Tauglichkeit seiner Staatsform ins Feld zu führen.“

Mit einem weiteren Nicken bestätigte Patterson, dass ihm auch dieser Fakt bekannt war. Jan hatte allerdings nicht vor, Patterson bereits von der Angel zu lassen. „Davon abgesehen beschreibt bereits Homer in seiner Odyssee eine Insel namens Scheria, die viele Parallelen zu Atlantis aufweist und Plato als Vorlage für seine Erzählung gedient haben könnte. Es ist also nicht nur anzuzweifeln, ob Platos Atlantis wirklich existierte, es ist sogar fraglich, ob diese Geschichte überhaupt aus seiner eigenen Feder stammt.“ Jan lehnte sich in seinen Sitz zurück. Er war gespannt, wie Patterson diese Vorgabe parieren würde.

„Lassen wir die Zweifel am Wahrheitsgehalt außer Acht und nehmen an, Plato hätte die Wahrheit gesagt“, übernahm Patterson Jans Vorlage. „Haben Sie eine Vorstellung, was ein real existierendes Atlantis für die Menschheitsgeschichte bedeuten würde?“ Patterson machte eine kurze Pause und musterte Jan eindringlich. Das erste Mal, seitdem er Patterson kannte, bekam Jan den Eindruck, so etwas wie echte Emotionen in Pattersons Augen aufflackern zu sehen, die aber alles andere als menschlich wirkten. Diese Andeutung von Gefühlen, die nur für einen kurzen Augenblick sichtbar war, verlieh ihm den Blick eines Wahnsinnigen, der nur eine Sekunde davon entfernt war, einen tödlichen Fehler zu begehen.

„Falls Atlantis tatsächlich in dieser Form existierte, dann müssten wir die gesamte Menschheitsgeschichte neu bewerten!“, betonte Patterson, als Jan keine Anstalten machte, mehr zum Thema beizutragen. „10.000 Jahre vor Christus, als die meisten Teile der Menschheit noch in der Steinzeit feststeckten, brachte es eine Kultur zu nie vorher gesehener Blüte, Tausende von Jahren, bevor der Rest der Menschheit nach heutigen Maßstäben überhaupt die Metallverarbeitung für sich entdeckte.“

Patterson ließ diese Aussage wie eine Herausforderung in der engen Kabine des Flugzeuges stehen. Jan lag ein erneuter Widerspruch auf der Zunge, doch die Leidenschaft, mit der Patterson sein Plädoyer für Atlantis vortrug, ließ ihn innehalten. Für einen kurzen Moment gestattete er sich, über die Existenz einer frühgeschichtlichen Großkultur nachzudenken.

War es tatsächlich vorstellbar, dass eine derart große Kultur vor so langer Zeit existiert hatte? In diesem Fall wäre der Menschheit über Tausende von Jahren ein unermessliches Wissen verloren gegangen. Einen vergleichbaren Wissensverlust hatte es in der bekannten Geschichte nur einmal gegeben, kurz nach Beginn der Zeitrechnung, als das römische Reich nach Jahrhunderten der Vorherrschaft in Europa unterging. Bedrängt durch vorrückende Barbarenstämme ging mit dem römischen Reich auch sein Wissen und seine Errungenschaften in einem Strudel der Ignoranz und Unwissenheit verloren. Es dauerte beinahe 1.000 Jahre, bis die Menschheit im Mittelalter erneut einen ähnlichen Wissensstand erreichen konnte.

„Es gibt genügend Belege dafür, dass die Geschichte der Menschheit nicht linear verlief, aber ein Einbruch der menschlichen Entwicklung in dieser Größenordnung wäre kaum vorstellbar“, artikulierte Jan seine Gedanken nach einer Weile. „Wir sprechen hier über einen Wissensverlust, der die Menschheit nach heutigen Maßstäben irgendwo zurück ins frühe Mittelalter katapultieren würde.“

„Ihr Einwand ist sicherlich berechtigt“, konterte Patterson. „Dennoch sollten Sie bedenken; die ersten Spuren des modernen Menschen wurden auf eine Zeit vor etwa 160.000 Jahren datiert. Und doch hat sich in der bekannten Geschichtsschreibung die technische Entwicklung hauptsächlich in den letzten 5.000 Jahren vollzogen. Es ist doch nicht unvorstellbar, dass es bereits vorher Spitzen der Technologieentwicklung gegeben hat, die aufgrund der Wirren lange zurückliegender Zeiten in Vergessenheit geraten sind? Insbesondere, wenn Sie die gewaltigen Zeiträume in Erwägung ziehen, in denen der Mensch bereits existiert!“

Jan beschloss, Patterson herauszufordern. „Die Bedeutung einer solchen Entdeckung ist sicherlich unumstritten, und Ihre Annahmen mögen durchaus zutreffend sein, aber selbst nach solchen Zeiträumen, von denen wir hier reden, müssten sich Beweise finden lassen, die auf eine Kultur dieser Größe hindeuten. Selbst für den Fall, dass Plato Recht behielte und die Hauptinsel untergegangen ist, dürfte sich eine Zivilisation dieser Größe und kulturellen Entwicklung nicht auf ihr eigenes Hoheitsgebiet beschränkt haben. Kulturelle Einflüsse dieser Kultur müssten uns praktisch in jeder Ecke der Welt begegnen!“

Patterson lachte kurz auf, ein Lachen ohne einen Anflug von Humor. „Mein lieber Professor Seibling, ich bin Ihnen einen ganzen Schritt voraus.“

Die Akte Plato

Подняться наверх