Читать книгу Die Akte Plato - Kai Kistenbruegger - Страница 6

4) Deutschland, München, 03. Juli 2007

Оглавление

Jan wurde von Max durch einen Nebeneingang in die amerikanische Botschaft eingeschleust. Doch auch auf diesem Wege konnten sie nicht die strengen Sicherheitsmaßnahmen umgehen, die das Gebäude nahezu hermetisch abriegelten. Obwohl Max Anwesenheit sich durchaus günstig auf die Dauer der Sicherheitsuntersuchung auszuwirken schien, wurde Jan mit akribischer Sorgfalt von einem Mann im schwarzen Anzug abgetastet. Eine kleine Ausbuchtung auf der linken Seite seines Jacketts verriet die Anwesenheit einer Waffe; und die Haltung des Mannes zeigte den sicheren Stand eines Menschen, der in dem Umgang mit Problemen militärisch geschult war. Beim Anblick des Wachpostens konnte Jan immer noch nicht fassen, dass er tatsächlich dieser merkwürdigen Einladung gefolgt war. Seine Neugier war sicherlich in vielerlei Hinsicht eine seiner Stärken, leider öfters auch ein Fluch. Ob es sich in diesem Fall um das erste oder um das letztere handelte, vermochte Jan noch nicht zu sagen. Aber um ehrlich zu sein; er hätte es sich wahrscheinlich nie verziehen, die Einladung auszuschlagen, ohne mehr über die Hintergründe des Anrufs und die Mitteilung des Außenministers zu erfahren.

Nachdem sie die Kontrollen passiert hatten, führte Max Jan an einer Reihe von Büros vorbei. Die Büros waren ausnahmslos in hektische Betriebsamkeit getaucht und untermalten den anhaltenden Geräuschpegel der Gespräche mit dem Klappern von Computertastaturen und dem Klingeln von Telefonen. Doch keine der anwesenden Personen nahm von Jan oder seinem Begleiter Notiz. Unbemerkt gelangten sie bis zum Ende des Korridors.

Die Tür, auf die Max letztendlich deutete, war verschlossen. Im Gegensatz zu den anderen Räumen drang kein Laut zu ihnen auf den Flur. Wortlos geleitete er Jan in das dahinter liegende Zimmer. „Bitte warten Sie hier, Professor Seibling. Man wird sich sofort mit Ihnen beschäftigen!“, verkündete Max mit einem kurzen Nicken und zog die Tür hinter sich zu. Jan blieb allein und irritiert zurück.

Das Zimmer war leer, abgesehen von einem großen gläsernen Würfel, in dessen Mitte sich ein Tisch und sechs Metallstühle befanden. An der Vorderseite befand sich eine große, durchsichtige Tür, die weder Griff noch Scharniere zu besitzen schien. Offensichtlich war sie nur über die Eingabe einer Ziffernfolge in ein Nummernfeld zu öffnen, das fest verschraubt am Ende eines Metallfußes vor der Tür thronte. Merkwürdig. Durch zwei große Fenster fiel Licht auf den Glaskasten und tauchte den Raum in eine Welt glitzernder Farben und Lichteffekte. Die Fenster selbst zeigten in einen unbelebten Innenhof, in dem nichts anderes zu sehen war als ein paar Müllcontainer und ein traurig aussehender, verkrüppelter Baum.

Bevor Jan sich näher mit der merkwürdigen Apparatur am Zugang zum Glaswürfel beschäftigen konnte, betraten zwei weitere Personen den Raum. Den linken Mann erkannte er sofort: Der deutsche Außenminister, Ferdinand Bauer, zeigte sich wie bei allen öffentlichen Auftritten in einem grauen, eng geschnittenen Anzug, der immer eine Nummer zu klein zu sein schien. Sein graues Haar hielt er nur mit ausreichend Gel in Form.

Der andere Mann hingegen war Jan unbekannt. Er trug einen schwarzen Anzug mit Krawatte und erzeugte auf den ersten Blick den Eindruck, als ob Begriffe wie Humor und Freundlichkeit nicht zu seinem Sprachschatz gehören würden. Als er die ersten, durch einen starken amerikanischen Akzent getragenen Worte an Jan richtete, verstärkte sich dieser Eindruck sogar noch. Jedes seiner Worte betonte er in einer eher getragenen und ernst anmutenden Art und Weise, als würde er jeden Satz sorgsam abwägen, bevor er ihn aussprach. Seine Augen musterten Jan kritisch. Jan fühlte sich schlagartig an die erste Stunde mit seiner strengen Mathematiklehrerin in der 7. Klasse erinnert, in der er sich wie jetzt einer abschätzigen, fordernden und kalten Begutachtung hatte stellen müssen. Dieser Blick deckte die eigenen Unzulänglichkeiten schonungslos auf und ließ jeden nackt und schutzlos zurück.

„Guten Tag, Professor Seibling. Ich bin sicher, Sie warten bereits auf eine Erklärung, für diese...“, er machte eine gespielt schwammige Bewegung mit der linken Hand, als ob er nach dem richtigen Wort suchen würde, „ ...sagen wir, Zusammenkunft. Mein Name ist Dr. Patterson, Dr. Brian Patterson.“

Er reichte Jan die Hand und zeigte mit der anderen auf den deutschen Außenminister. „Herr Bauer war so freundlich, uns bei der Kontaktaufnahme zu unterstützen.“ Jan schüttelte auch Ferdinand Bauer die Hand, doch auch aus Bauers Gesichtsausdruck wurde er nicht schlau. Der Außenminister wirkte ebenso fehl am Platze wie Jan sich fühlte.

„Bitte folgen Sie mir in unseren Kubus, damit wir ungestört besprechen können, warum Sie eigentlich hier sind.“

Mit einem kurzen Schritt trat Patterson zum Ziffernblock und gab mit einer geübten Handbewegung eine Nummer ein, worauf sich die Glastür mit einem leisen Zischen öffnete. Auf den Stühlen im Inneren des Würfels saß es sich hart und unbequem. Erst in diesem Moment dämmerte es Jan, dass dieser Würfel keinem anderen Zweck diente, als Gespräche nach außen abzuschirmen; ein Verhörzimmer, das Unterhaltungen absolute Diskretion garantierte. Allein die Wände maßen mehrere Zentimeter im Durchmesser, und bis auf das spärliche Mobiliar gab es keine Möglichkeiten, Wanzen oder ähnliche Abhöreinrichtungen versteckt anzubringen. Die dicke, durchsichtige Tür stellte den einzigen Zugang zum Kubus dar. Seitdem sie verschlossen war, war auch der geschäftig wirkende Geräuschpegel vom Flur verstummt. Eine unangenehme Stille erfüllte den beängstigend eng wirkenden Raum. Verunsichert rutschte Jan auf dem harten Stuhl nach hinten. Wenn er nichts mehr von dem geschäftigen Treiben im Gang vor diesem Zimmer hören konnte, würde ihn auch keiner mehr hören. Kein Laut würde nach außen dringen. Kein Mucks, kein Schrei.

Jan lächelte verlegen, als ihm bewusst wurde, wie albern diese Sorge war. Vor ihm saß kein anderer als der deutsche Außenminister, ein ranghohes Regierungsmitglied eines demokratischen, zivilisierten Staates. So merkwürdig diese ganze Situation auch anmuten mochte, ihm drohte mit Sicherheit keine Gefahr. Jan zwang sich, Patterson und Bauer in die Augen zu blicken und sich seine Verunsicherung nicht anmerken zu lassen.

„Sie sitzen wegen Ihrer Beziehung zu Dr. Alissa Bracke hier“, kam Patterson ohne Umschweife zur Sache, nachdem er ein paar Sekunden quälende Stille hatte verstreichen lassen. Jan musste sich verkneifen, bei der Erwähnung des Namens scharf einzuatmen. Dennoch konnte er nicht vermeiden, dass er sichtlich zusammenzuckte.

„Alissa?“, formten seine Lippen lautlos. Es ging um seine Alissa? Als hätte Patterson auf einen Knopf gedrückt, der die selbst errichteten Sperren seiner Erinnerung lösten, stürmten Bilder und Gedanken wie eine Flutwelle auf ihn ein: Der Augenblick, als er Alissa das letzte Mal gesehen hatte. Ihre dunklen Augen, die ihn forschend, fast durchdringend ansahen, als sie die verhängnisvollen Worte sprach: „Jan, ich denke, die Sache mit uns hat keinen Sinn mehr. Unsere Ziele im Leben sind einfach zu unterschiedlich.“ Er erinnerte sich an den Schmerz, die Fassungslosigkeit und seine Tränen. Viele Tränen. Dunkel tauchten die Bilder seiner Flucht durch die Kneipen Münchens vor seinem inneren Auge auf. Als er am nächsten Tag nach Hause gekommen war, war Alissa bereits ausgezogen. Das war mittlerweile ein Jahr her und schmerzte dennoch wie am ersten Tag. Seit jenem letzten Gespräch hatte er Alissa weder gesehen, noch etwas von ihr gehört. Nach neun gemeinsamen Jahren hatte sie ihn fallen gelassen wie eine heiße Kartoffel.

Im Bruchteil einer Sekunde eroberte der Schmerz wieder die Oberhand über sein Denken. Der Schmerz, den er in den letzten Monaten nur mühsam unter Kontrolle gehalten hatte und der jede einsame Nacht sein geplagtes Herz quälte. „Was ist mit Alissa?“, presste er nur unter Anstrengung zwischen seinen Zähnen hervor, überwältigt von der Intensität der Erinnerungen, mit irritiertem Blick auf Patterson. Es war jedoch Bauer, der antwortete: „Dr. Bracke wird vermisst.“

Die Akte Plato

Подняться наверх